Wenn Molekularbiologen heute über "Leben" schreiben, benutzen sie das Vokabular der Informatiker: Es geht um Codes, Entschlüsselungen oder Programme... Wie sind diese Redeweisen entstanden? Lily Kays Buch erzählt, wie sich die Genetik seit Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts zusammensetzte. Kay zeigt, warum wir heute das Leben als verschlüsselte Information verstehen - gegründet auf diese mächtige Metapher, die auch die gegenwärtige Idealisierung der Genforschung produziert. Das Buch des Lebens ist bereits jetzt ein Klassiker der Wissenschaftsgeschichte.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.01.2003Kapillaren der Macht
Lily E. Kay entziffert: Der genetische Code schrieb sich selbst
Die alte Idee, man könne die Natur lesen wie ein Buch, hat mit der Entschlüsselung des genetischen Codes neue Aktualität gewonnen. Während der Kirchenvater Augustinus die "Lektüre" der Natur empfahl, um Einsicht in Macht und Weisheit des Schöpfers zu erlangen, fragt heute allerdings niemand nach dem Autor des genetischen Codes. Faszinierender als seine Herkunft ist heute allemal die Möglichkeit, ihn umzuschreiben. "Bio-Macht" nennt Lily E. Kay den "militärisch-industriell-akademischen Komplex" der Lebenswissenschaften, der sich in den fünfziger und sechziger Jahren vor allem in den Vereinigten Staaten herausbildete und in dessen Mittelpunkt die Idee steht, man könne die Erbsubstanz DNS als einen Code, als ein "Buch des Lebens" lesen. Kay erzählt die Geschichte der Genomforschung als Erfolgsgeschichte dieser Metapher.
Bis in die fünfziger Jahre sprach man von Spezifität, um Leben von bloßer Materie abzugrenzen. Die Spezifität der Proteine bestimmte die Unterschiede innerhalb und zwischen den Arten. Schon damals gab es zahlreiche Metaphern für das Wirken der Gene und Enzyme: Matrizen und Gußformen, Schlüssel und Schloß, Prägestock und Münze. Informationen begannen die Moleküle erst zu übertragen, als sich die seit den fünfziger Jahren allgegenwärtige Sprache der Informationstheorie bis in die Biologie ausgebreitet hatte. DNS und RNS wurden zu Bändern und Bandlesegeräten, die Zelle zum "Lagerhaus der Information".
Von Anfang an betonten Kritiker dieser Redeweise, der angebliche genetische Code habe mit einer natürlichen Sprache so gut wie nichts gemein. Dennoch setzte sich die Metapher nicht nur durch, sie erwies sich als ausgesprochen nützlich, denn nach vielen Vorarbeiten gelang es 1963 tatsächlich, "den Code", die Entsprechungen zwischen Dreierpacks von DNS-Basen und Aminosäuren, zu entschlüsseln.
Doch bevor es soweit war, standen der Mikrobiologie tiefgreifende Veränderungen ins Haus. Die einschneidendste war nach Kay der "Nachkriegs-Exodus desillusionierter Physiker aus der Physik in die Molekularbiologie". Die Physiker brachten nicht nur den Informationsdiskurs, die Begeisterung für die Kybernetik und die neuen elektronischen Rechenmaschinen mit, sondern auch ihren guten Draht zu militärischen wie zivilen Geldgebern. Es entstand eine Allianz, der Kay eher kritisch gegenübersteht. Etwas dunkel schreibt sie von den "Kapillaren der Macht", die in die Forschung eindringen, von der Begierde der Forscher, nach der Materie nun auch die Form zu beherrschen, vom Einfluß der Technowissenschaft des Kalten Krieges auf die Lebenswissenschaften und von einer Begrifflichkeit, die auf die Steuerung von Raketen ebenso anwendbar ist wie auf die Produktion von Eiweißen im Körper.
Nachdem geklärt war, daß die vier Basen der DNS auf dem Umweg über die Aminosäuren die Proteinsynthese steuern, galt es, dieses "Alphabet" auszubuchstabieren. Dabei fungierte der recht einfach gebaute Tabakmosaikvirus als "Stein von Rosette": Nachdem die Reihenfolge seiner hundertachtundfünfzig Aminosäuren geklärt war, gingen die Forscher daran, die "Bedeutung" der DNS-Basen zu entschlüsseln. Bis Ende der fünfziger Jahre waren mehrere hundert Vorschläge auf dem Tisch, wie der genetische Code aussehen könnte, und es dauerte zehn weitere Jahre, bis die richtige Lösung gefunden war.
Mit der Einsicht in die Funktionsweise dieses "universellen Wörterbuches" begannen auch die Debatten um die Gefahren und Möglichkeiten, die dieses neue Wissen barg. Der Nobelpreisträger Linus Pauling votierte dafür, der Besitz nachteiliger Gene müsse auf der Stirn ihres Träger gut sichtbar vermerkt werden, andere votierten für die "Vollendung der Evolution", wieder andere warnten vor Eugenik in jeder Form.
Bisweilen trug die Rezeption der Code-Metapher seltsame Blüten, so etwa wenn Roman Jakobson die Sprachnatur der DNS mit der Entstehung der natürlichen Sprache in Verbindung brachte oder wenn Forscher gar die strukturellen Ähnlichkeiten des chinesischen I-Ging mit dem genetischen Code diskutierten.
Trotz solcher Kuriosa hat Kay keine vergnügliche Wissenschaftsgeschichte geschrieben, sondern ein Werk für die, die es ganz genau wissen wollen. Es macht auf faszinierende Weise die Komplexität wissenschaftlicher Forschung deutlich, zeigt, wie eng das Netz aus Kooperation und Konkurrenz, aus Bewunderung und Mißgunst, aus Genie und Taktik geknüpft ist, das Spitzenforschung ausmacht.
Kay macht bewußt, daß die heute so selbstverständliche Rede vom genetischen Code nicht selbstverständlich ist. Es gab eine Zeit vor dem Informationszeitalter, und je mehr von den komplexen Vorgängen im Zellkern bekannt wird, desto klarer wird auch, daß man das "Buch des Lebens" nicht einfach so lesen kann. Die Auswirkungen der von der DNS kodierten Enzymsynthese hängen von vielerlei Faktoren ab. Die wenigsten Funktionsstörungen beruhen nur auf einem Gen. Insofern verspricht die Buch-Metapher, wie Kay schreibt, mehr, als sie halten kann. Dennoch war und ist sie für die Forschung ausgesprochen nützlich, ein Ersatz ist bislang nicht in Sicht.
Und wer schrieb nun den genetischen Code? Getreu ihrer poststrukturalistischen Orientierung, die stellenweise etwas zu stark aufgetragen ist, antwortet Kay: Er schrieb sich selbst. Sobald sich die Molekularbiologen auf die Rede vom Code eingelassen hatten, bestimmte er ihre Überlegungen, lieferte eine "neue Biosemantik der Kommunikation".
MANUELA LENZEN
Lily E. Kay: "Das Buch des Lebens". Wer schrieb den genetischen Code? Aus dem Amerikanischen von Gustav Roßler. Carl Hanser Verlag, München 2002. 541 S., geb., 29,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Lily E. Kay entziffert: Der genetische Code schrieb sich selbst
Die alte Idee, man könne die Natur lesen wie ein Buch, hat mit der Entschlüsselung des genetischen Codes neue Aktualität gewonnen. Während der Kirchenvater Augustinus die "Lektüre" der Natur empfahl, um Einsicht in Macht und Weisheit des Schöpfers zu erlangen, fragt heute allerdings niemand nach dem Autor des genetischen Codes. Faszinierender als seine Herkunft ist heute allemal die Möglichkeit, ihn umzuschreiben. "Bio-Macht" nennt Lily E. Kay den "militärisch-industriell-akademischen Komplex" der Lebenswissenschaften, der sich in den fünfziger und sechziger Jahren vor allem in den Vereinigten Staaten herausbildete und in dessen Mittelpunkt die Idee steht, man könne die Erbsubstanz DNS als einen Code, als ein "Buch des Lebens" lesen. Kay erzählt die Geschichte der Genomforschung als Erfolgsgeschichte dieser Metapher.
Bis in die fünfziger Jahre sprach man von Spezifität, um Leben von bloßer Materie abzugrenzen. Die Spezifität der Proteine bestimmte die Unterschiede innerhalb und zwischen den Arten. Schon damals gab es zahlreiche Metaphern für das Wirken der Gene und Enzyme: Matrizen und Gußformen, Schlüssel und Schloß, Prägestock und Münze. Informationen begannen die Moleküle erst zu übertragen, als sich die seit den fünfziger Jahren allgegenwärtige Sprache der Informationstheorie bis in die Biologie ausgebreitet hatte. DNS und RNS wurden zu Bändern und Bandlesegeräten, die Zelle zum "Lagerhaus der Information".
Von Anfang an betonten Kritiker dieser Redeweise, der angebliche genetische Code habe mit einer natürlichen Sprache so gut wie nichts gemein. Dennoch setzte sich die Metapher nicht nur durch, sie erwies sich als ausgesprochen nützlich, denn nach vielen Vorarbeiten gelang es 1963 tatsächlich, "den Code", die Entsprechungen zwischen Dreierpacks von DNS-Basen und Aminosäuren, zu entschlüsseln.
Doch bevor es soweit war, standen der Mikrobiologie tiefgreifende Veränderungen ins Haus. Die einschneidendste war nach Kay der "Nachkriegs-Exodus desillusionierter Physiker aus der Physik in die Molekularbiologie". Die Physiker brachten nicht nur den Informationsdiskurs, die Begeisterung für die Kybernetik und die neuen elektronischen Rechenmaschinen mit, sondern auch ihren guten Draht zu militärischen wie zivilen Geldgebern. Es entstand eine Allianz, der Kay eher kritisch gegenübersteht. Etwas dunkel schreibt sie von den "Kapillaren der Macht", die in die Forschung eindringen, von der Begierde der Forscher, nach der Materie nun auch die Form zu beherrschen, vom Einfluß der Technowissenschaft des Kalten Krieges auf die Lebenswissenschaften und von einer Begrifflichkeit, die auf die Steuerung von Raketen ebenso anwendbar ist wie auf die Produktion von Eiweißen im Körper.
Nachdem geklärt war, daß die vier Basen der DNS auf dem Umweg über die Aminosäuren die Proteinsynthese steuern, galt es, dieses "Alphabet" auszubuchstabieren. Dabei fungierte der recht einfach gebaute Tabakmosaikvirus als "Stein von Rosette": Nachdem die Reihenfolge seiner hundertachtundfünfzig Aminosäuren geklärt war, gingen die Forscher daran, die "Bedeutung" der DNS-Basen zu entschlüsseln. Bis Ende der fünfziger Jahre waren mehrere hundert Vorschläge auf dem Tisch, wie der genetische Code aussehen könnte, und es dauerte zehn weitere Jahre, bis die richtige Lösung gefunden war.
Mit der Einsicht in die Funktionsweise dieses "universellen Wörterbuches" begannen auch die Debatten um die Gefahren und Möglichkeiten, die dieses neue Wissen barg. Der Nobelpreisträger Linus Pauling votierte dafür, der Besitz nachteiliger Gene müsse auf der Stirn ihres Träger gut sichtbar vermerkt werden, andere votierten für die "Vollendung der Evolution", wieder andere warnten vor Eugenik in jeder Form.
Bisweilen trug die Rezeption der Code-Metapher seltsame Blüten, so etwa wenn Roman Jakobson die Sprachnatur der DNS mit der Entstehung der natürlichen Sprache in Verbindung brachte oder wenn Forscher gar die strukturellen Ähnlichkeiten des chinesischen I-Ging mit dem genetischen Code diskutierten.
Trotz solcher Kuriosa hat Kay keine vergnügliche Wissenschaftsgeschichte geschrieben, sondern ein Werk für die, die es ganz genau wissen wollen. Es macht auf faszinierende Weise die Komplexität wissenschaftlicher Forschung deutlich, zeigt, wie eng das Netz aus Kooperation und Konkurrenz, aus Bewunderung und Mißgunst, aus Genie und Taktik geknüpft ist, das Spitzenforschung ausmacht.
Kay macht bewußt, daß die heute so selbstverständliche Rede vom genetischen Code nicht selbstverständlich ist. Es gab eine Zeit vor dem Informationszeitalter, und je mehr von den komplexen Vorgängen im Zellkern bekannt wird, desto klarer wird auch, daß man das "Buch des Lebens" nicht einfach so lesen kann. Die Auswirkungen der von der DNS kodierten Enzymsynthese hängen von vielerlei Faktoren ab. Die wenigsten Funktionsstörungen beruhen nur auf einem Gen. Insofern verspricht die Buch-Metapher, wie Kay schreibt, mehr, als sie halten kann. Dennoch war und ist sie für die Forschung ausgesprochen nützlich, ein Ersatz ist bislang nicht in Sicht.
Und wer schrieb nun den genetischen Code? Getreu ihrer poststrukturalistischen Orientierung, die stellenweise etwas zu stark aufgetragen ist, antwortet Kay: Er schrieb sich selbst. Sobald sich die Molekularbiologen auf die Rede vom Code eingelassen hatten, bestimmte er ihre Überlegungen, lieferte eine "neue Biosemantik der Kommunikation".
MANUELA LENZEN
Lily E. Kay: "Das Buch des Lebens". Wer schrieb den genetischen Code? Aus dem Amerikanischen von Gustav Roßler. Carl Hanser Verlag, München 2002. 541 S., geb., 29,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Diesen Band der vor zwei Jahren verstorbenen Biologin und Wissenschaftshistorikerin Lily E. Kay bezeichnet Thomas Fechner-Smarsly überzeugt schon jetzt als "Klassiker der Wissenschaftsgeschichte", womit der Rezensent sein ganzes Lob und seine Bewunderung für Autorin und Werk zum Ausdruck bringt. Was ihn an Kays Abhandlung über den "hochkomplexen" Prozess der Erforschung des menschlichen Erbguts besonders beeindruckt, ist einerseits die "Leichtigkeit", mit der Kay verschiedene Ansätze von Mathematikern, Kybernetikern, Molekularbiologen, Biochemikern und Kommunikationstheoretikern zum Thema entwirre und dem Leser verständlich nahe bringe, ohne dabei auch nur einmal unpräzise zu werden. Zum anderen schwärmt der Rezensent von der "Klarheit", mit der Kay - auch für Laien - den wesentlichen "Umbruch", der sich in den Lebenswissenschaften in den fünfziger und sechziger Jahren vollzogen hatte, verdeutliche. Allerdings, mutmaßt Fechner-Smarsly, werden sicher die Leser enttäuscht sein, die eine generelle "Geschichte des genetischen Codes" lesen wollten. Denn Kay habe sich vornehmlich darauf konzentriert, die Geschichte "eines bestimmten Modells und seiner durchschlagenden Wirkung", das nämlich der genetischen Struktur des Menschen als Text, zu rekonstruieren und kritisch zu durchleuchten.
© Perlentaucher Medien GmbH
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"Schon jetzt ein Klassiker der Wissenschaftsgeschichte." Thomas Fechner-Smarsly, Frankfurter Rundschau, 09.10.02 "Ein Werk für die, die es ganz genau wissen wollen." Manuela Lenzen, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15.01.03