Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.03.2004Das andere Leben hat Sommersprossen
Schwereleicht, bitterheiter: In seiner Vaterstudie erforscht Urs Widmer die eigene Sohnesvita
Es war eine süße Liebe, die mit einem Traum begann und im Irrsinn endete. Es war die Geschichte der Mutter, die sich einem Dirigenten verschrieb und ihn in Gedanken auch dann noch aufbahrte, als seine Leidenschaft längst kalt geworden war. Eine erregende Aura umwob den autobiographischen Roman "Der Geliebte der Mutter", den Urs Widmer vor vier Jahren vorlegte. Denn in der Figur des Dirigenten Edwin zuckten die Konturen des realen Paul Sacher gespenstisch auf. Wo war der Vater, den der Schriftsteller laut schweigend ausgespart hatte? Viel zu früh sei er gestorben, heißt es einmal beiläufig, so beiläufig, daß man hellhörig werden mußte.
Jetzt hat der Schweizer Schriftsteller mit "Das Buch des Vaters" einen furiosen Erinnerungsroman nachgelegt. Es ist die literarische Grabrede des Sohns auf den toten Vater, der eine Femme fatale begehrte und eine leere Hülle in Händen hielt. Denn der vermeintliche coup de foudre war in Wahrheit ein Ablenkungsmanöver der verlassenen Mutter, ihre Liebe zum Vater gescheiterte Trauerarbeit. Das Buch des Sohnes ist das unerhörte Dokument eines verpaßten Lebens.
Begonnen hat alles mit einer Vision. Karl sieht Clara vor dem Sommercasino aus dem Auto steigen, rote Lippen, schwarzes Haar, weißes Abendkleid und riesiger Hut. Sein Denken stockt; das Verhängnis nimmt seinen Anfang. Denn der Vater ist Literat, er übersetzt erotische Gedichte aus dem Griechischen und veröffentlicht sie unter einem Pseudonym. Er ist Romanist; seine Education sentimentale hat er sich bei Flaubert, Maupassant, Balzac, Diderot und Stendhal geholt. Ein Romantiker, der die Wirklichkeit nur durch den täuschenden Schleier literarischer Muster wahrnimmt. So wie Karl und Clara, die Namen der beiden Liebenden, anagrammatisches Spiel sind, so ist ihre Beziehung verspiegelte Projektion. Die beiden sind nicht aufs gegenseitige Entdecken und Erforschen aus, sondern aufs Verpassen. Und zwar gründlich. Denn auch der Vater hatte sich zuvor heimlich einer Frau zugeneigt. Mit zwölf Jahren wurde er in einer Art Stammesritual in seinem Heimatdorf ins Gemeinschaftsleben initiiert. Das sommersprossige Mädchen beobachtete ihn dabei. Allerdings weigerte es sich, mit ihm zu tanzen, und umarmte ihn nur rasch im Heu. Karl hat es nie vergessen. Später besucht er die Lesung der Frau, die inzwischen eine berühmte Lyrikerin ist. Beide erkennen einander wieder. Karl begreift plötzlich, daß er das Leben vergeudet hat. Er stirbt in der gleichen Nacht.
Es ist ein phantastischer, ein symbolischer Höhepunkt, den Urs Widmer hier konstruiert. Dieser Schriftsteller ist nicht nur verwegener Phantast, obsessiver Tagträumer und radikaler Rechercheur in eigener Sache. Er ist auch ein exakter Handwerker. So überspannt seine Erfindungen auf den ersten Blick scheinen mögen, so präzise sind sie kalkuliert, erzähltechnisch wie auch psychologisch. "Das Buch des Vaters" beginnt mit der Sterbeszene und hört auch damit auf - ein Zyklus schließt sich. Das Sterben ist gleichzeitig komische Inszenierung und bittere Realität. Das Leichte wird schwer, das Schwere leicht, damit das Tragische im Komischen um so unerträglicher erscheint. Der mamasüchtige Sohn nämlich läßt den dahinsiechenden Vater allein, um mit der Mutter den Zirkus zu besuchen. Als er spät in der Nacht zurückkommt, liegt der Vater tot im Badezimmer. Dreimal ließ er Bachs Kantate "Ich habe genug" abspielen, dann raffte er sich zum Besuch der Lyrikerin auf, seinem letzten.
Dieses Szenario hätte ein larmoyantes Nostalgiebuch abgeben können: eine literarische Wiedererweckung der versunkenen Kindheit und einen empfindsamen Bewältigungsversuch. Davon ist keine Rede, ganz im Gegenteil. Das hat mit Widmers Schreibverfahren zu tun, das unterschiedlichste Elemente bruchlos verklebt. Die tieftraurigsten Szenen reizen zum Lachen, die fatalsten Begebenheiten amüsieren. Schicksalshafte Erkenntnisse werden nur in homöopathischen Dosen eingeträufelt. Urs Widmer arbeitet mehr denn je mit der Satire, mit der Parodie, mit der phantastischen Verfremdung der Wirklichkeit. Das Zusammenleben der beiden verrückten Schwestern im Glashaus mit ihren Männern gehört dazu. Karls Schwager, ein Richter, setzt das Recht in eigener Sache leichthändig außer Kraft. Der Morphiumsüchtige läßt sich seine Plädoyers von der Gattin diktieren, er selbst wäre zum Schreiben nicht mehr imstande. In Anfällen von Wahnsinn schlägt er seine Frau. Diese kontert die Attacken mit Einwegspritzen, die sie ihm ins Fleisch rammt.
Die Schweizer Geschichte der vierziger und fünfziger Jahre andererseits holt Urs Widmer mit einer einzigen schwungvollen Bewegung in den Text. Nichts bleibt verschont, respektlos werden die vaterländischen Heiligtümer ins Säurebad der Groteske getaucht. Der Vater verkehrt in einem kommunistischen Malerzirkel, einer Art Stoßtrupp, in dem Künstler in verrauchten Wirtschaften mit wilden Reden den Erfolg suchen, der ihnen in der Malerei verwehrt bleibt. Auch das Politische bleibt nur eine falsche Vision, der sich der Vater hingibt: Enttäuscht von der linken Ideologie, der er doch die Universitätskarriere opferte, wendet er sich am Ende nicht einmal ab, er vergißt sie schlicht. Zwei Maler machen sich mit dem Fahrrad auf den Weg in den Spanien-Krieg; der eine verschwindet für immer, der andere kehrt zurück, schweigt kleinlaut und wird in ein helvetisches Gefängnis versenkt. Ein Basler Milchmann vertreibt 1940 wild kreischende Hausfrauen aus der Stadt mit der aufschneiderischen Ankündigung eines Kriegsinfernos. Die Parodie der Schweizer Anbauschlacht im Zweiten Weltkrieg wiederum baut Widmer zu einem slapstickartigen Gag aus. Die Basler Bürokraten wollen den wuchernden Blumengarten im Namen des Staats als Anbaufläche requirieren, was der Volljurist und der Romanist standhaft verweigern. Da springt die Mutter in die Bresche, Herrin der Rittersporne und Windröschen, unterschreibt den Staatsvertrag wie eine Königin und stöckelt in ihren roten Schuhen davon, um gleich darauf mit der Hacke im Namen des Vaterlandes ins florale Paradies zu fahren, daß die Blüten nur so durch die Luft sausen. So bitterböse und zum Totlachen wurde die Eroberung eines Blumengartens durch die Weltpolitik in der Schweizer Literatur noch nie gezeichnet.
Natürlich sind "Der Geliebte der Mutter" und "Das Buch des Vaters" literarische Epitaphe. Das Vaterbuch ist dabei nüchterner, distanzierter und gleichzeitig schwereloser ausgefallen. Die Not des Kindes, das als Drittes eingespannt ist in diesem Elterngefährt - mal redet der Erzähler distanziert von "das Kind", mal spricht er als Bauchredner aus ihm heraus -, wird im Vaterbuch kraß manifest. Aber dieses literarische Denkmal ist über seine autobiographischen Bezüge hinaus vor allem faszinierend als hochdiffiziles Psychogramm eines Literaten, der in Dünndruckausgaben, Bleisatz, Goldschnitt und Fadenbändchen sein Glück suchte und an der Welt der Imaginationen zugrunde ging. Es ist das geniale Porträt eines Versagers, der sich mit Literatur gegen das Leben panzerte, eine geheime Liebessehnsucht durch die fortwährende Schreibwut unterdrückte und zuletzt an der Wirklichkeit zerschellte. Urs Widmers Vaterstudie ist auch eine Vergewisserung in eigener Sache, ein Innehalten und eine Erkundung der Sohnesvita.
Urs Widmer: "Das Buch des Vaters". Roman. Diogenes Verlag. Zürich 2004. 210 S., geb., 19, 90 [Euro].
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Schwereleicht, bitterheiter: In seiner Vaterstudie erforscht Urs Widmer die eigene Sohnesvita
Es war eine süße Liebe, die mit einem Traum begann und im Irrsinn endete. Es war die Geschichte der Mutter, die sich einem Dirigenten verschrieb und ihn in Gedanken auch dann noch aufbahrte, als seine Leidenschaft längst kalt geworden war. Eine erregende Aura umwob den autobiographischen Roman "Der Geliebte der Mutter", den Urs Widmer vor vier Jahren vorlegte. Denn in der Figur des Dirigenten Edwin zuckten die Konturen des realen Paul Sacher gespenstisch auf. Wo war der Vater, den der Schriftsteller laut schweigend ausgespart hatte? Viel zu früh sei er gestorben, heißt es einmal beiläufig, so beiläufig, daß man hellhörig werden mußte.
Jetzt hat der Schweizer Schriftsteller mit "Das Buch des Vaters" einen furiosen Erinnerungsroman nachgelegt. Es ist die literarische Grabrede des Sohns auf den toten Vater, der eine Femme fatale begehrte und eine leere Hülle in Händen hielt. Denn der vermeintliche coup de foudre war in Wahrheit ein Ablenkungsmanöver der verlassenen Mutter, ihre Liebe zum Vater gescheiterte Trauerarbeit. Das Buch des Sohnes ist das unerhörte Dokument eines verpaßten Lebens.
Begonnen hat alles mit einer Vision. Karl sieht Clara vor dem Sommercasino aus dem Auto steigen, rote Lippen, schwarzes Haar, weißes Abendkleid und riesiger Hut. Sein Denken stockt; das Verhängnis nimmt seinen Anfang. Denn der Vater ist Literat, er übersetzt erotische Gedichte aus dem Griechischen und veröffentlicht sie unter einem Pseudonym. Er ist Romanist; seine Education sentimentale hat er sich bei Flaubert, Maupassant, Balzac, Diderot und Stendhal geholt. Ein Romantiker, der die Wirklichkeit nur durch den täuschenden Schleier literarischer Muster wahrnimmt. So wie Karl und Clara, die Namen der beiden Liebenden, anagrammatisches Spiel sind, so ist ihre Beziehung verspiegelte Projektion. Die beiden sind nicht aufs gegenseitige Entdecken und Erforschen aus, sondern aufs Verpassen. Und zwar gründlich. Denn auch der Vater hatte sich zuvor heimlich einer Frau zugeneigt. Mit zwölf Jahren wurde er in einer Art Stammesritual in seinem Heimatdorf ins Gemeinschaftsleben initiiert. Das sommersprossige Mädchen beobachtete ihn dabei. Allerdings weigerte es sich, mit ihm zu tanzen, und umarmte ihn nur rasch im Heu. Karl hat es nie vergessen. Später besucht er die Lesung der Frau, die inzwischen eine berühmte Lyrikerin ist. Beide erkennen einander wieder. Karl begreift plötzlich, daß er das Leben vergeudet hat. Er stirbt in der gleichen Nacht.
Es ist ein phantastischer, ein symbolischer Höhepunkt, den Urs Widmer hier konstruiert. Dieser Schriftsteller ist nicht nur verwegener Phantast, obsessiver Tagträumer und radikaler Rechercheur in eigener Sache. Er ist auch ein exakter Handwerker. So überspannt seine Erfindungen auf den ersten Blick scheinen mögen, so präzise sind sie kalkuliert, erzähltechnisch wie auch psychologisch. "Das Buch des Vaters" beginnt mit der Sterbeszene und hört auch damit auf - ein Zyklus schließt sich. Das Sterben ist gleichzeitig komische Inszenierung und bittere Realität. Das Leichte wird schwer, das Schwere leicht, damit das Tragische im Komischen um so unerträglicher erscheint. Der mamasüchtige Sohn nämlich läßt den dahinsiechenden Vater allein, um mit der Mutter den Zirkus zu besuchen. Als er spät in der Nacht zurückkommt, liegt der Vater tot im Badezimmer. Dreimal ließ er Bachs Kantate "Ich habe genug" abspielen, dann raffte er sich zum Besuch der Lyrikerin auf, seinem letzten.
Dieses Szenario hätte ein larmoyantes Nostalgiebuch abgeben können: eine literarische Wiedererweckung der versunkenen Kindheit und einen empfindsamen Bewältigungsversuch. Davon ist keine Rede, ganz im Gegenteil. Das hat mit Widmers Schreibverfahren zu tun, das unterschiedlichste Elemente bruchlos verklebt. Die tieftraurigsten Szenen reizen zum Lachen, die fatalsten Begebenheiten amüsieren. Schicksalshafte Erkenntnisse werden nur in homöopathischen Dosen eingeträufelt. Urs Widmer arbeitet mehr denn je mit der Satire, mit der Parodie, mit der phantastischen Verfremdung der Wirklichkeit. Das Zusammenleben der beiden verrückten Schwestern im Glashaus mit ihren Männern gehört dazu. Karls Schwager, ein Richter, setzt das Recht in eigener Sache leichthändig außer Kraft. Der Morphiumsüchtige läßt sich seine Plädoyers von der Gattin diktieren, er selbst wäre zum Schreiben nicht mehr imstande. In Anfällen von Wahnsinn schlägt er seine Frau. Diese kontert die Attacken mit Einwegspritzen, die sie ihm ins Fleisch rammt.
Die Schweizer Geschichte der vierziger und fünfziger Jahre andererseits holt Urs Widmer mit einer einzigen schwungvollen Bewegung in den Text. Nichts bleibt verschont, respektlos werden die vaterländischen Heiligtümer ins Säurebad der Groteske getaucht. Der Vater verkehrt in einem kommunistischen Malerzirkel, einer Art Stoßtrupp, in dem Künstler in verrauchten Wirtschaften mit wilden Reden den Erfolg suchen, der ihnen in der Malerei verwehrt bleibt. Auch das Politische bleibt nur eine falsche Vision, der sich der Vater hingibt: Enttäuscht von der linken Ideologie, der er doch die Universitätskarriere opferte, wendet er sich am Ende nicht einmal ab, er vergißt sie schlicht. Zwei Maler machen sich mit dem Fahrrad auf den Weg in den Spanien-Krieg; der eine verschwindet für immer, der andere kehrt zurück, schweigt kleinlaut und wird in ein helvetisches Gefängnis versenkt. Ein Basler Milchmann vertreibt 1940 wild kreischende Hausfrauen aus der Stadt mit der aufschneiderischen Ankündigung eines Kriegsinfernos. Die Parodie der Schweizer Anbauschlacht im Zweiten Weltkrieg wiederum baut Widmer zu einem slapstickartigen Gag aus. Die Basler Bürokraten wollen den wuchernden Blumengarten im Namen des Staats als Anbaufläche requirieren, was der Volljurist und der Romanist standhaft verweigern. Da springt die Mutter in die Bresche, Herrin der Rittersporne und Windröschen, unterschreibt den Staatsvertrag wie eine Königin und stöckelt in ihren roten Schuhen davon, um gleich darauf mit der Hacke im Namen des Vaterlandes ins florale Paradies zu fahren, daß die Blüten nur so durch die Luft sausen. So bitterböse und zum Totlachen wurde die Eroberung eines Blumengartens durch die Weltpolitik in der Schweizer Literatur noch nie gezeichnet.
Natürlich sind "Der Geliebte der Mutter" und "Das Buch des Vaters" literarische Epitaphe. Das Vaterbuch ist dabei nüchterner, distanzierter und gleichzeitig schwereloser ausgefallen. Die Not des Kindes, das als Drittes eingespannt ist in diesem Elterngefährt - mal redet der Erzähler distanziert von "das Kind", mal spricht er als Bauchredner aus ihm heraus -, wird im Vaterbuch kraß manifest. Aber dieses literarische Denkmal ist über seine autobiographischen Bezüge hinaus vor allem faszinierend als hochdiffiziles Psychogramm eines Literaten, der in Dünndruckausgaben, Bleisatz, Goldschnitt und Fadenbändchen sein Glück suchte und an der Welt der Imaginationen zugrunde ging. Es ist das geniale Porträt eines Versagers, der sich mit Literatur gegen das Leben panzerte, eine geheime Liebessehnsucht durch die fortwährende Schreibwut unterdrückte und zuletzt an der Wirklichkeit zerschellte. Urs Widmers Vaterstudie ist auch eine Vergewisserung in eigener Sache, ein Innehalten und eine Erkundung der Sohnesvita.
Urs Widmer: "Das Buch des Vaters". Roman. Diogenes Verlag. Zürich 2004. 210 S., geb., 19, 90 [Euro].
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»Die Welt des Schweizer Schriftstellers Urs Widmer war voller absurder Komik und bizarrer Weltuntergänge.« Michael Krüger / Die Zeit, Hamburg Michael Krüger / Die Zeit Die Zeit