Produktdetails
- Verlag: Calwer
- 1997.
- Seitenzahl: 1098
- Erscheinungstermin: November 1997
- Deutsch
- Abmessung: 250mm x 182mm x 65mm
- Gewicht: 1911g
- ISBN-13: 9783766835154
- ISBN-10: 3766835157
- Artikelnr.: 07015696
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
- Herstellerkennzeichnung
- Calwer Verlag GmbH Bücher und Medien
- Schloástr. 73
- 70176 Stuttgart
- info@brocom.de
- +49 (0711) 16722-0
Ein Buch, das vom Himmel fiel, und sein geretteter Kommentar: Wie Benno Jacob das Buch Exodus las
Wer Benno Jacobs monumentalen Kommentar zur Genesis von 1934 mit Begeisterung gelesen hat, wer einen zweiten zum Buch Exodus erhoffte und ihn jetzt, sechzig Jahre nach der Niederschrift in Händen hält, dem liegt ein Vergleich zwischen beiden nahe. Er wird freilich auf ein Hindernis stoßen: Genesis ist fast nur Erzählung, Exodus nur zur ersten Hälfte, die zweite ist ein Rechtsbuch. "Schöne Geschichten" und Gebote sind schwer miteinander zu vergleichen. Heute, spät genug, sind Jacobs Arbeiten anerkannt.
Die Stärke des Dortmunder Rabbiners lag in der neuartigen Behandlung von narrativem Stoff. Nun ist im Judentum eine überraschend neue Auslegung der Erzählung statthaft und ein sogenannter chiddúsch immer willkommen; in der Rechtsprechung hingegen sind nur organische Entwicklungen von Prinzipien zulässig. Dementsprechend variieren Jacobs Kommentare im Charakter: Jene, die sich auf die Erzählung beziehen, überwältigen exegetisch, die übrigen sind methodisch lehrreich. Den im Talmud aus dem Schriftwort abgeleiteten Rechtsentscheidungen folgt Jacob selbstverständlich als talmudisch erzogener Rabbiner. Er stimmt ihnen aber nicht autoritätshörig zu. Vom sprachlichen Urtext ausgehend, vollzieht er vielmehr die Gedankengänge der Talmudisten mit seinem gesunden Menschenverstand nach.
Über alle Maßen kreativ erweist er sich dagegen im Erzählerischen, wo ihm die Kenntnis der deutschen Literatur und seine humanistische Bildung zu Hilfe kommen - Benno Jacob verstand sich als tief religiöser Jude deutscher Nation (sogar einer schlagenden Verbindung gehörte er zeitweise an). Dem Angriff der deutsch-protestantischen Kritik auf die Integrität des Textes der Thora zu begegnen, fühlte er sich berufen. Das tat er denn auch, furios und mit Gusto. Denn, so sein Enkel, er war bissig. Er spottete über die Widersprüche zwischen den Kritikern, die über jeden im Text entdeckten Widerspruch frohlockten; er verwarf ihre deplazierten Rückgriffe auf Parallelen in anderen Kulturen, fand ihre Hebräisch-Kenntnisse papieren; stellte ihre Unkenntnis der klassischen jüdischen Exegese und ihren Antijudaismus bloß.
Aus der Luft gegriffen waren Jacobs Attacken nicht. Der um 1900 dominierenden Schule von Graf de Wette-Wellhausen war das Ärgste passiert, was einer Wissenschaft drohen kann: Sie hatte ihre scharfsinnigen Hypothesen zu Dogmen erhoben und brandmarkte Dissidenten als Obskuranten. Ohne Jacobs Zutun - er wurde sein Leben lang von der Zunft ignoriert - fing es nach seinem Ableben an, im Gemäuer der Hallen jener Schulen zu rieseln. Man begann Fragen zu stellen: ob der Gebrauch zweier Namen derselben Person wirklich ein Zeichen multipler Verfasserschaft sei? Ob nicht Wiederholungen und Anachronismen Kunstgriffe sein können? Ist es berechtigt, Synonyme bedenkenlos für austauschbar zu halten? Muß just der biblische Mensch aus einem Guß geschaffen sein, darf er nicht zwiespältig sein wie unsereiner? Und dürfen wir nicht auch dem Autor eines religiösen Buches Humor zutrauen?
Zweifellos waren die Väter der "historisch-kritischen" Schule gute Historiker, Orientalisten, Philologen und Semitisten. Ging es jedoch um Literatur, dann meinten sie, ein Schriftwerk ausreichend zu behandeln, indem sie es gattungsgeschichtlich einordneten, seine Vorgeschichte erforschten, seine Entstehung datierten und einen vermutlichen Verfasser identifizierten. Von der Kunst des Skribenten verstanden sie, anders als Jacob, kaum etwas. Von Linguistik hatten sie, ganz wie er, nie gehört, freilich besaß Jacob für einige ihrer Grundsätze ein intuitives Vorgefühl.
Vor Benno Jacob gab es nur drei Kommentare auf deutsch aus jüdischer Hand. Doch hatte Mendelssohn seinen "Biur" in hebräischen Lettern gedruckt; Hoffmann war gelehrt, aber zu talmudisch, und Hirsch zu predigerhaft-orthodox. Auffallend ist, wie selten Jacob sowohl diese drei Vorgänger wie seine jüdischen Zeitgenossen zitiert. Er schreibt spannend, manchmal ironisch, weder polemisch in christlichen Glaubenssachen noch apologetisch in jüdischen. Sein Arsenal war ein rationeller Kopf, ein Ohr für Hebräisch, ein Auge für Literatur und ein Herz für das Judentum und die Juden.
Die ganze Thora soll es sein
Die moderne Forschung hat sich ihm angenähert, indem sie dazu neigt, an die Bibel kanonisch heranzugehen, sie so zu nehmen, wie sie uns überliefert ist. Jacob ging weiter: Sein Ansatz zur Thora ist holistisch, er betrachtet sie als ein Ganzes und ist sicher, daß sie es auch immer war. Ihm geht es darum, sie zu verstehen, unkorrigiert, unredigiert, nicht gesäubert von "Glossen der Kopisten". Er will nicht das herausarbeiten, was Rabbiner, Redaktoren, Reformer und Religionsforscher aus ihr gemacht haben, sondern was sie selbst am Sinai bedeutete. Im Anhang erörtert er zwar das Wo der Offenbarung, von ihrem Wie schweigt er aber. Martin Buber entsann sich, Franz Rosenzweig habe Jacob gefragt, welchen Vorschlag in bezug auf die Entstehung der Thora er dem seiner Opponenten entgegensetze. Jacob antwortete, er habe keinen und wisse nur zweierlei: So wie jene es sich vorstellten, sei sie bestimmt nicht entstanden, und "mit rechten Dingen ging es droben" nicht zu.
Zwei Paradebeispiele seiner Exegese seien genannt: Der Dekalog ist Gegenstand allseitiger Verehrung, für die Forschung strotzt er vor Problemen. Es beginnt mit dem ersten Satz: "Ich bin der Herr, dein Gott." Wenn er für Juden ein Gebot ist, was gebietet er dann, wenn er aber mit den Kirchenvätern und Calvin eine Einleitung ist, woher nimmt man dann ein zehntes Gebot? Die Juden sehen keinen Grund, ihre Ansicht zu rechtfertigen, der Gegenseite fehlt es nicht an Argumenten für die ihre. Jacob stärkt die jüdische Zählung auf eine ganz neue Weise: Zunächst teilt er die Zehn Gebote in fünf "zwischen Gott und Mensch" und fünf "zwischen Mensch und Mitmensch". In Wahrheit besage das erste Gebot nicht "Ich bin . . .", sondern "Ich sei", es sei somit ein prinzipielles Gebot, worauf je drei folgen, die sich auf die Verehrung Gottes, interpersonale Beziehungen und Güter bezögen. Stelle man die zwei Pentaden einander gegenüber, so ergäben sich fünf inhaltlich liierte Paare. Unabhängig vom ethischen Inhalt ist der Aufbau des Dekalogs in Jacobs Augen ein ästhetisches Meisterwerk, das einem kunstvoll gewebten Teppich ähnelt, in dem die einzelnen Elemente des Musters in dreifacher, unterschiedlicher Relation zueinander stehen. Ergo ist er aus einem Stück und kein Teilchen darf fehlen - auch nicht der erste Satz.
Das zweite Beispiel betrifft den Auszug aus Ägypten (3:21-22, fast identisch mit 11:22-23 und 12:35-36). Dort heißt es, die Hebräer hätten sich Stunden vor dem Auszug Gold von Ägyptern "auf Nimmerwiedersehen" ausgeliehen. Die antisemitische Fälschung der "Protokolle der Weisen von Zion" wird nicht müde, den Umstand als typisch jüdisch zu erwähnen; der Talmud hat ihn weginterpretiert. Die Theologen haben ihn entweder großmütig verziehen (immer noch besser, als ein paar Ägyptern die Kehle durchzuschneiden) oder als abrechnende "Ausbeutung Ägyptens" getadelt. Eine israelische Schulbibel schließlich hat den Satz aus Scham gestrichen.
Jedes Wörtchen unter die Lupe der Sprache nehmend und auf der Waage der Ethik prüfend, stellt Jacob eine Reihe von einfachen, nie gefragten Fragen: Warum habe Gott selbst den Auftrag erteilt und um seine Erfüllung sogar mit "bitte" ersucht? Seien die Ägypter so dumm gewesen, soeben Abreisenden eine Anleihe zu gewähren? Wieso hätten die den hebräischen Knechten benachbarten ägyptischen überhaupt Gold besessen?
Jacob zeigt, daß das rare in diesem Kontext benutzte Verb im modernen, rabbinischen und auch im biblischen Hebräisch (Ez: 14, 16, 18) "erretten, von Schuld freisprechen" bedeutet und nicht ausbeuten. Die Passage lehrt daher nicht Ausbeutung, sondern Aussöhnung. Durch die Korrektur der Übersetzung eines einzigen Wortes bringt Jacob obendrein ans Licht, daß die biblische Erzählung nicht als Tatsachenbericht, sondern als narrative Pädagogik zu beurteilen ist. Wir müssen uns endlich daran gewöhnen, daß die Thora keine simplen Kindermärchen, sondern für Erwachsene mit einem hohen Maß an sophistication schreibt.
Seinen partiellen Triumph über das Haus derer von de Wette hat Benno Jacob nicht erlebt. "Genesis", kaum erschienen, wurde von den Nazis eingestampft, er selbst floh nach London. Ein Israelbesuch konnte ihn zu einem zweiten Wohnwechsel nicht bewegen. "Exodus", an dem er zehn Jahre lang arbeitete, lag mit gekritzelten Zusätzen versehen in der Jerusalemer Universitätsbibliothek, was ich vor vielen Jahren von Buber erfuhr und wo ich es kurz nach meinem Studium verschlang. Die schwierige Aufgabe der Herausgabe hat Shlomo Mayer unter Mitwirkung von Joachim Hahn und der evangelischen Theologin Almuth Jürgensen, der mit Jacobs Werk wohl am besten vertrauten Expertin, vorbildlich erfüllt. B. Janowski hat eine informative Einleitung geschrieben. Leider stammt der Quellenindex nicht aus ihrer Hand, dann wäre er nämlich nicht so konfus. Schön wäre es, wenn der Text auch dem nur hebräisch lesenden Publikum in Israel zugänglich gemacht würde. Angesichts der dortigen Spannung zwischen "Stockfrommen" und "Abtrünnigen" ist die Übersetzung ein dringendes Desiderat. YEHUDA T. RADDAY
Benno Jacob: "Das Buch Exodus". Herausgegeben im Auftrag des Leo Baeck Institus von Shlomo Mayer unter Mitwirkung von Joachim Hahn und Almuth Jürgensen. Calwer Verlag, Stuttgart 1997. 1098 S., geb., 198,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main