1945 schrieb in Zürich die Philosophin Margarete Susman Das Buch Hiob und das Schicksal des jüdischen Volkes. Es ist der Versuch angesichts der Shoah, »in diesem Augenblick einer Weltkatastrophe«, die Geschichte des jüdischen Volkes aus dem Buch Hiob zu erklären, seinem Hadern mit Gott, seinem Fragen nach Gerechtigkeit. In einzelnen Abschnitten über den Ursprung, die Schuld, die Verfolgung, den Zionismus, die Hoffnung deutet sie das Buch Hiob neu. Die überlieferte biblische Geschichte erweist sich als unvermindert gegenwärtig. Susmans Hiobdeutung, die sie zuerst 1929 in einem Aufsatz über Franz Kafka vorbrachte, hat Martin Buber, Walter Benjamin, Gershom Scholem und Paul Celan beeinflusst. Die ganze große nachbiblische Überlieferung kreist für Margarete Susman um die eine Frage nach der Rechtfertigung Gottes vor seinem Volk. In einem Nachwort stellt die Frankfurter Rabbinerin Elisa Klapheck die Aktualität der Gedankenwelt von Margarete Susman dar, deren Geburtstag sich 2022 zum 150. Mal jährt.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.05.2022Hiob als Schlüsselfigur
Theodizee-Versuch angesichts der Schoa: Margarete Susmans Buch von 1946 in einer neuen Ausgabe
Die Schoa hat manchen zum Atheisten gemacht. Der millionenfache Mord, die systematische Vernichtung der europäischen Judenheit sprengt offensichtlich die Möglichkeit eines Gedankens von Schuld und Sühne, Sünde und Erlösung. Doch nicht nur das, auch geschichtsphilosophische Theorien, deren zumindest verwandte Idee es ist, einen Sinn in der Geschichte zu begründen, stoßen an ihre Grenze. Die der Hegel'schen Dialektik und dem jüdischen Messianismus entstammende "Frankfurter Schule" hat das, umgekehrt, zu einem Apriori gewendet: Jeder Versuch, dem schlechthin Unentschuldbaren so etwas wie einen finalen Sinn zuzusprechen, eine Funktion im Geschichtsprozess, eine Läuterung auf dem Weg zur Gerechtigkeit, jeder solche Versuch sei gegenüber dem millionenfachen Tod bereits Rechtfertigung und Hohn für die Opfer.
So überzeugend und moralisch richtig das sein mag, für einen religiösen Menschen kann das Argument trotzdem nicht die letzte Antwort sein. Im Gegenteil: Wer angesichts des Schreckens seinen Glauben nicht verloren hat, der wird umso dringender danach fragen, was seine Religion zu sagen weiß über ein Geschehen, das jedes Vertrauen in einen sinnvollen Weltlauf fundamental erschüttert. Margarete Susman war so ein Mensch. "Das Buch Hiob und das Schicksal des jüdischen Volkes" ist zuerst 1946 erschienen, unter dem unmittelbaren Eindruck der Katastrophe. Seitdem ist es mehrfach neu aufgelegt worden und so auch jetzt mit einem Nachwort der Frankfurter Rabbinerin Elisa Klapheck, ein beeindruckendes Zeichen für die andauernde Bedeutung dieses singulären Werks. Man wird nicht behaupten wollen, dass es die Fragen löst, die es sich stellt - welches Buch könnte das? -, doch ein bleibendes Dokument ist es durch die Kraft, mit dem es sein Problem entwickelt, Antworten versucht, die dabei die ungeheure Wunde nie verdecken.
Margarete Susman war bereits über siebzig Jahre alt, als sie ihr Buch schrieb. 1872 in einer Hamburger jüdischen Familie geboren, beschäftigte sie sich schon in jungen Jahren mit Philosophie und Literatur, studierte bei Georg Simmel, hatte engen Kontakt mit jüdischen Denkern wie Martin Buber und Franz Rosenzweig, war befreundet mit Georg Lukács und Ernst Bloch, publizierte Aufsätze und Bücher zu Philosophie, Religion, Rechten der Frau. Die Schoa überlebte sie in der Schweiz, blieb dort bis zu ihrem Tod 1966, immer weiter arbeitend und noch besucht von Gershom Scholem und Paul Celan.
In ihrem religiösen Denken war Susman durch ihre jüdische Herkunft geprägt, genauso jedoch durch einen christlich gewendeten Messianismus im Sinne ihres Freundes Ernst Bloch. Hatte sie sich ihr Leben lang nicht entscheiden wollen zwischen jüdischer und christlicher Tradition, so stellte sie der Mord an den Juden gleich doppelt vor die Herausforderung der Theodizee: Wie ist der Heilsplan eines guten Gottes zu rechtfertigen angesichts des überwältigend Bösen in der wirklichen Welt? Schon 1929 hatte sie einen bedeutenden Aufsatz geschrieben: "Das Hiob-Problem bei Franz Kafka", jetzt, 1946, wurde ihr die Geschichte vom Juden Hiob zum Schlüssel der jüdischen Geschichte schlechthin: Die Klage, die Revolte eines Mannes, der trotz seines gottesfürchtigen Lebens von einem unbegreiflichen Gott mit jedem nur denkbaren Unglück für etwas gestraft wird, was er nicht kennt, nicht versteht und was ihm auch der stumm bleibende Gott nicht enthüllt.
Der Jude Hiob, der aus der Tiefe der Verzweiflung sich schließlich auflehnt gegen seinen Gott - ein starkes, bezwingendes Bild auch für die europäischen Juden in der Mitte eines Jahrhunderts, in dem das "Weltgleichgewicht" aus den Fugen ist. Dennoch, was Susman daraus macht, ist und bleibt verstörend, und sie weiß selbst, dass es gar nicht anders sein kann. Denn wenn sie zurückgeht auf die Geschichte des jüdischen Volkes als heimatloses "Pariavolk" ohne eigenes Land, wenn sie von der "Sühnewirklichkeit des Exils" spricht, vor allem wenn sie die Vorstellung einer "Urschuld" entwirft, die selbst der Schuldlose wie Hiob quasi stellvertretend für die Menschheit mit sich trägt, dann kommt sie unvermeidlich immer wieder in die Nähe dessen, was sie unbedingt vermeiden will: die Deutung eines irdischen Verbrechens als höhere Notwendigkeit. Bezwingend ist dennoch dabei, wie in jedem Augenblick der Reflexion deutlich wird, dass es hier um ein für den religiösen Menschen schlechthin unlösbares Problem geht. Der irreligiöse hingegen wird sich dieser Konsequenz an mehr als einer Stelle verweigern.
Das gilt nicht genauso für Susmans Überlegungen zu den Ursprüngen des Antisemitismus. Allen Studien zum Trotz wird man auch heute mit ihr feststellen, dass soziologische, ökonomische, politische Gründe allein nicht hinreichen zur Erklärung für diesen Jahrhunderte überdauernden Hass, der stärker ist als alle Vernunft. Natürlich, auch Susman kann hier keine "Erklärung" besitzen, aber ihr Rückgang auf die Geschichte eines Volkes, das gerade durch seine Heimatlosigkeit von allen anderen unterschieden ist und sich unterschieden fühlt, verbindet noch einmal Theologie und Weltpolitik.
"Das Buch Hiob und das Schicksal des jüdischen Volkes" ist 1946 erschienen, und deshalb gibt es eines, was die Situation des heutigen Lesers fundamental von jener der Autorin unterscheidet: die Existenz des Staates Israel. Susmans Blick ist pessimistisch: "Dies Schicksal, diese Untaten haben die Welt nicht in der Tiefe erschüttert." Ein Dreivierteljahrhundert später muss man ihr recht geben, der Antisemitismus zeigt sich immer neu. Das Schicksal des heimatlosen Volkes jedoch, das Susman auch in der Zukunft sah, hat sich ganz und gar gewandelt. Wie problematisch auch immer, mit welchen neuen grausamen Konflikten: Die Existenz eines eigenen Landes hat auch dem jüdischen Volk im Exil einen Fluchtpunkt in der wirklichen Welt gegeben, von dem Susman 1946 noch nichts wissen konnte.
Die zentrale Frage von Susmans "Hiob" jedoch ist und bleibt unlösbar. Seinen historischen Rang hat das Buch als ein früher, vollkommen ungeschützter Versuch, sich der Jahrhundertkatastrophe zu stellen, ohne einzuwilligen in den Verlust des eigenen Glaubens. Bei aller Problematik ist dieser Versuch einzigartig. WOLFGANG MATZ
Margarete Susman: "Das Buch Hiob und das Schicksal des jüdischen Volkes".
Mit einem Nachwort von Elisa Klapheck. Jüdischer Verlag, Berlin 2022. 191 S., geb., 24,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Theodizee-Versuch angesichts der Schoa: Margarete Susmans Buch von 1946 in einer neuen Ausgabe
Die Schoa hat manchen zum Atheisten gemacht. Der millionenfache Mord, die systematische Vernichtung der europäischen Judenheit sprengt offensichtlich die Möglichkeit eines Gedankens von Schuld und Sühne, Sünde und Erlösung. Doch nicht nur das, auch geschichtsphilosophische Theorien, deren zumindest verwandte Idee es ist, einen Sinn in der Geschichte zu begründen, stoßen an ihre Grenze. Die der Hegel'schen Dialektik und dem jüdischen Messianismus entstammende "Frankfurter Schule" hat das, umgekehrt, zu einem Apriori gewendet: Jeder Versuch, dem schlechthin Unentschuldbaren so etwas wie einen finalen Sinn zuzusprechen, eine Funktion im Geschichtsprozess, eine Läuterung auf dem Weg zur Gerechtigkeit, jeder solche Versuch sei gegenüber dem millionenfachen Tod bereits Rechtfertigung und Hohn für die Opfer.
So überzeugend und moralisch richtig das sein mag, für einen religiösen Menschen kann das Argument trotzdem nicht die letzte Antwort sein. Im Gegenteil: Wer angesichts des Schreckens seinen Glauben nicht verloren hat, der wird umso dringender danach fragen, was seine Religion zu sagen weiß über ein Geschehen, das jedes Vertrauen in einen sinnvollen Weltlauf fundamental erschüttert. Margarete Susman war so ein Mensch. "Das Buch Hiob und das Schicksal des jüdischen Volkes" ist zuerst 1946 erschienen, unter dem unmittelbaren Eindruck der Katastrophe. Seitdem ist es mehrfach neu aufgelegt worden und so auch jetzt mit einem Nachwort der Frankfurter Rabbinerin Elisa Klapheck, ein beeindruckendes Zeichen für die andauernde Bedeutung dieses singulären Werks. Man wird nicht behaupten wollen, dass es die Fragen löst, die es sich stellt - welches Buch könnte das? -, doch ein bleibendes Dokument ist es durch die Kraft, mit dem es sein Problem entwickelt, Antworten versucht, die dabei die ungeheure Wunde nie verdecken.
Margarete Susman war bereits über siebzig Jahre alt, als sie ihr Buch schrieb. 1872 in einer Hamburger jüdischen Familie geboren, beschäftigte sie sich schon in jungen Jahren mit Philosophie und Literatur, studierte bei Georg Simmel, hatte engen Kontakt mit jüdischen Denkern wie Martin Buber und Franz Rosenzweig, war befreundet mit Georg Lukács und Ernst Bloch, publizierte Aufsätze und Bücher zu Philosophie, Religion, Rechten der Frau. Die Schoa überlebte sie in der Schweiz, blieb dort bis zu ihrem Tod 1966, immer weiter arbeitend und noch besucht von Gershom Scholem und Paul Celan.
In ihrem religiösen Denken war Susman durch ihre jüdische Herkunft geprägt, genauso jedoch durch einen christlich gewendeten Messianismus im Sinne ihres Freundes Ernst Bloch. Hatte sie sich ihr Leben lang nicht entscheiden wollen zwischen jüdischer und christlicher Tradition, so stellte sie der Mord an den Juden gleich doppelt vor die Herausforderung der Theodizee: Wie ist der Heilsplan eines guten Gottes zu rechtfertigen angesichts des überwältigend Bösen in der wirklichen Welt? Schon 1929 hatte sie einen bedeutenden Aufsatz geschrieben: "Das Hiob-Problem bei Franz Kafka", jetzt, 1946, wurde ihr die Geschichte vom Juden Hiob zum Schlüssel der jüdischen Geschichte schlechthin: Die Klage, die Revolte eines Mannes, der trotz seines gottesfürchtigen Lebens von einem unbegreiflichen Gott mit jedem nur denkbaren Unglück für etwas gestraft wird, was er nicht kennt, nicht versteht und was ihm auch der stumm bleibende Gott nicht enthüllt.
Der Jude Hiob, der aus der Tiefe der Verzweiflung sich schließlich auflehnt gegen seinen Gott - ein starkes, bezwingendes Bild auch für die europäischen Juden in der Mitte eines Jahrhunderts, in dem das "Weltgleichgewicht" aus den Fugen ist. Dennoch, was Susman daraus macht, ist und bleibt verstörend, und sie weiß selbst, dass es gar nicht anders sein kann. Denn wenn sie zurückgeht auf die Geschichte des jüdischen Volkes als heimatloses "Pariavolk" ohne eigenes Land, wenn sie von der "Sühnewirklichkeit des Exils" spricht, vor allem wenn sie die Vorstellung einer "Urschuld" entwirft, die selbst der Schuldlose wie Hiob quasi stellvertretend für die Menschheit mit sich trägt, dann kommt sie unvermeidlich immer wieder in die Nähe dessen, was sie unbedingt vermeiden will: die Deutung eines irdischen Verbrechens als höhere Notwendigkeit. Bezwingend ist dennoch dabei, wie in jedem Augenblick der Reflexion deutlich wird, dass es hier um ein für den religiösen Menschen schlechthin unlösbares Problem geht. Der irreligiöse hingegen wird sich dieser Konsequenz an mehr als einer Stelle verweigern.
Das gilt nicht genauso für Susmans Überlegungen zu den Ursprüngen des Antisemitismus. Allen Studien zum Trotz wird man auch heute mit ihr feststellen, dass soziologische, ökonomische, politische Gründe allein nicht hinreichen zur Erklärung für diesen Jahrhunderte überdauernden Hass, der stärker ist als alle Vernunft. Natürlich, auch Susman kann hier keine "Erklärung" besitzen, aber ihr Rückgang auf die Geschichte eines Volkes, das gerade durch seine Heimatlosigkeit von allen anderen unterschieden ist und sich unterschieden fühlt, verbindet noch einmal Theologie und Weltpolitik.
"Das Buch Hiob und das Schicksal des jüdischen Volkes" ist 1946 erschienen, und deshalb gibt es eines, was die Situation des heutigen Lesers fundamental von jener der Autorin unterscheidet: die Existenz des Staates Israel. Susmans Blick ist pessimistisch: "Dies Schicksal, diese Untaten haben die Welt nicht in der Tiefe erschüttert." Ein Dreivierteljahrhundert später muss man ihr recht geben, der Antisemitismus zeigt sich immer neu. Das Schicksal des heimatlosen Volkes jedoch, das Susman auch in der Zukunft sah, hat sich ganz und gar gewandelt. Wie problematisch auch immer, mit welchen neuen grausamen Konflikten: Die Existenz eines eigenen Landes hat auch dem jüdischen Volk im Exil einen Fluchtpunkt in der wirklichen Welt gegeben, von dem Susman 1946 noch nichts wissen konnte.
Die zentrale Frage von Susmans "Hiob" jedoch ist und bleibt unlösbar. Seinen historischen Rang hat das Buch als ein früher, vollkommen ungeschützter Versuch, sich der Jahrhundertkatastrophe zu stellen, ohne einzuwilligen in den Verlust des eigenen Glaubens. Bei aller Problematik ist dieser Versuch einzigartig. WOLFGANG MATZ
Margarete Susman: "Das Buch Hiob und das Schicksal des jüdischen Volkes".
Mit einem Nachwort von Elisa Klapheck. Jüdischer Verlag, Berlin 2022. 191 S., geb., 24,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Wolfgang Matz hält Margarete Susmans Versuch, den Holocaust aus religiöser Perspektive zu begreifen, notwendigerweise für gescheitert. Sinngebung kann hier nicht gelingen. Dennoch findet er das Buch von 1946 einzigartig in seiner Ungeschütztheit und seiner Kraft und von historischem Rang. Die Neuauflage erscheint ihm daher berechtigt. Wie die jüdische Philosophin Hiob als Schlüsselfigur der jüdischen Geschichte erkennt und das Ringen mit seinem Gott als Sinnbild für das jüdische Volk in Europa Mitte des 20. Jahrhunderts wirkt auf Matz nach wie vor verstörend, selbst mit dem Wissen um die Existenz Israels.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Die zentrale Frage von Susmans Hiob ... ist und bleibt unlösbar. Seinen historischen Rang hat das Buch als ein früher, vollkommen ungeschützter Versuch, sich der Jahrhundertkatastrophe zu stellen, ohne einzuwilligen in den Verlust des eigenen Glaubens ... dieser Versuch ist einzigartig.« Wolfgang Matz Frankfurter Allgemeine Zeitung 20220503