In Nina Berberovas "Buch vonm dreifachen Glück" lernt eine junge Frau in Paris die Liebe kennen - und das Glück. Aber wie ist dieses Gefühl überhaupt beschaffen? Mit Mischa, ihrem Jugendfreund, verbanden sie lange Nachmittage mit wundervollen Gesprächen, mit ihrem ersten Ehemann vor allem Mitleid - und als sie dann endlich den Mann trifft, mit dem sie ihr Leben teilen möchte, findet sie für ihre Gefühle nicht die passenden Worte. Aber muß Glück überhaupt mitgeteilt werden?
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.07.1998Tausche Petersburg gegen ein Stück harten Specks
Nina Berberovas eindrucksvolles "Buch vom dreifachen Glück" · Von Ralf Konersmann
Wenn der Leser ihn kennenlernt, ist Sam schon tot. Er liegt auf dem Rücken, seitlich über die Kante eines Hotelbettes gelehnt, einen Revolver in der rechten Hand. Seine Augen sind offen und starren zur Zimmerdecke hinauf, der linke Arm ruht auf der weißen Hemdbrust. Es ist seine Berufskleidung. Sam, der sich in einem Pariser Hotel das Leben genommen hat, war Geiger.
Zwei Dinge hat Sam in den letzten Stunden seines Lebens getan. Er hat einen Brief geschrieben und auf dem Nachttisch eine Adresse mit Telefonnummer hinterlassen. Die Adresse führt zu Vera, der Hauptfigur dieses Romans. An Vera ist auch der Brief gerichtet, in dem Sam die Gründe seiner Tat aufzählt: die Enttäuschungen, die das Leben ihm bereitet hat, und die Gefühlskälte, die er nicht länger zurückhalten konnte. Vor allem aber spricht Sam von seinen Erinnerungen, von jenen gemeinsamen Glücksmomenten in Kindertagen, denen in seinem späteren Leben nichts auch nur entfernt entsprochen habe. Diese fernen Augenblicke in Petersburg, schreibt er, seien das Schönste gewesen, was ihm das Leben zu bieten hatte.
Niemand wird diese Zeilen und die Beschreibung der Tatumstände, die Nina Berberovas Roman eröffnet, ohne Anteilnahme lesen. Veras Verwirrung, ihre Trauer sind mit wenigen Strichen und doch genau und atmosphärisch dicht gezeichnet. Erst ganz allmählich wird dem Leser bewußt, daß diese beiden, Vera und Sam, nicht nur Freunde aus Kindertagen, sondern auch Gegenfiguren sind. Die Tragik ihrer letzten Begegnung wurzelt in einer Vorgeschichte, die zu ganz unterschiedlichen, ja gegensätzlichen Lebensentwürfen geführt hat.
Eine Schlüsselszene ist der Abschiedsdialog, der eine lange Rückblende auf die gemeinsame Petersburger Kindheit beschließt. "Vielleicht wird es nie mehr wieder so schön?" fragt Sam, als er mit den Eltern und seinen Geschwistern vor den Bolschewiki fliehen muß. Vera, die fürs erste zurückbleibt, weist die Vorahnung zurück. "Na, hör mal! Das kann nicht sein." Und dann noch einmal: "Still, Sam, das kann nicht sein."
"Das Buch vom dreifachen Glück" verlangt eine wache Aufmerksamkeit, und wer sie aufbringt, wird reich belohnt. Jede Zeile dieses Romans bezeugt das große literarische Können einer außergewöhnlichen Schriftstellerin. Um so mehr muß erstaunen, daß Nina Berberova bis heute nur wenigen Eingeweihten bekannt ist. 1901 in Petersburg geboren, erarbeitete sie sich in jungen Jahren die unterschiedlichsten literarischen Metiers. Im Pariser Exil veröffentlichte sie Lyrik, Kurzgeschichten und Romane, bevor sie 1950 in Princeton Literatur zu lehren begann. Später folgten ihre Autobiographie, ein Porträt Tschaikowskys und ein Dossier zum Fall Krawtschenko, dem es trotz seiner Nüchternheit nicht gelang, die tiefsitzenden Illusionen über die Sowjetgesellschaft zu zerstreuen.
Der vorliegende, erstmals 1936 in einer Exilzeitschrift erschienene Roman trägt unverkennbar autobiographische Züge. Petersburg und Paris, die Lebensstationen der Autorin, sind auch die Orte der Handlung. Gleichwohl ist damit noch wenig gesagt, denn die Städte bilden nur die Kulisse für eine kunstvoll gewobene Komposition aus thematischen Gegensätzen. Die Spannung zwischen Privatheit und Politik, der revolutionäre Bruch zwischen einst und jetzt sind stets gegenwärtig und prägen den Stoff dieses Buches, das in sparsam kolorierten Bildern von persönlichen Strategien der Bewältigung erzählt. Nicht Ideen bewegen diesen Roman, sondern menschliche Schicksale.
Zu den entscheidenden Schicksalsfragen der Emigration gehört der Umgang mit der Erinnerung. Sam, der Kinderfreund Veras, kommt niemals von der Vergangenheit los und scheitert am überwältigenden Empfinden der Unwiederbringlichkeit. Sein Selbstmord ist von bitterer Konsequenz. Vera hingegen, die noch in Petersburg die Not und die Zerstörung der einstigen Idylle erlebt, lernt rasch, daß sie die Macht der Erinnerung überlisten muß. Tatsächlich geht sie soweit, sich jeden Anflug von Wehmut zu untersagen. Dieses ganz besondere, sterbende Petersburg, versichert sie, hätte sie mit Freuden gegen eine Dose Kondensmilch eingetauscht, gegen Kakaostaub oder ein Stück harten Specks.
Die Alternative zwischen Erinnerung und Selbstbehauptung mag aufgezwungen sein, doch sie scheint unausweichlich. Daß es Glück niemals in der Vergangenheit gebe, sondern nur hier und jetzt - dies wird Vera von nun an zur Regel ihres Lebens und Überlebens. Entschlossen radikalisiert sie ihre Alltagserfahrung zu einer ganz persönlichen Theorie der Entsagung: "Alles, was geschieht, ist gut." Solche Sätze, die ganz unmodern klingen und doch nur den einen Zweck haben, das Arrangement mit der neuen Zeit zu erleichtern, bilden die Grundlage des dreifachen Glücks, von dem der Romantitel spricht. Es handelt sich um drei Liebschaften, und all diese Männer sind ein bißchen so wie Sam: Zauderer, Unzeitgemäße, Erinnerungsselige - liebenswerte Leute "von meist unbestimmter Tätigkeit".
Anders Vera, die als einzige den Versuch macht, sich den Veränderungen der Welt zu stellen. Freilich hat auch dies seinen Preis. Das Glück, das Vera mit ihren Männern findet, bleibt stets ihr eigenes, ein oft unvermittelt hereinbrechendes, den deprimierenden Umständen der Flüchtlingsexistenz abgetrotztes, grundloses, ja "wehes" und "karges" Empfinden, dem als Vorwand schon der geringste Anlaß genügt. Veras Geschichte ist das genaue Gegenteil einer Suche nach der verlorenen Zeit: ein Losreißen von der Vergangenheit, getrieben vom unbändigen Verlangen nach Glück.
Ihr größtes Geheimnis sei ihr Wissen darum, sagt Vera einmal, daß einzig sie selbst nicht austauschbar sei, die anderen könne man heimlich auswechseln. Dieses Bekenntnis enthüllt die abgründige Problematik eines individuellen Lebensentwurfs, dessen Festigkeit sich einem erzwungenen Vergessen verdankt. Erfahrung zählt in diesem Entwurf nicht viel, denn "jeder beginnt von vorne". Es sind nicht die Antworten, es sind die mit diesem Frauenporträt gestellten Fragen, die Nina Berberovas Roman so eindrucksvoll machen: Triumph über das Verhängnis oder Resignation angesichts des Unabänderlichen, Heldin oder Antiheldin - beides ist möglich, aber leicht zu entscheiden ist es nicht.
Nina Berberova: "Das Buch vom dreifachen Glück". Roman. Aus dem Russischen übersetzt von Annelore Nitschke. Luchterhand Literaturverlag, München 1997. 186 S., geb., 32,- DM.
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Nina Berberovas eindrucksvolles "Buch vom dreifachen Glück" · Von Ralf Konersmann
Wenn der Leser ihn kennenlernt, ist Sam schon tot. Er liegt auf dem Rücken, seitlich über die Kante eines Hotelbettes gelehnt, einen Revolver in der rechten Hand. Seine Augen sind offen und starren zur Zimmerdecke hinauf, der linke Arm ruht auf der weißen Hemdbrust. Es ist seine Berufskleidung. Sam, der sich in einem Pariser Hotel das Leben genommen hat, war Geiger.
Zwei Dinge hat Sam in den letzten Stunden seines Lebens getan. Er hat einen Brief geschrieben und auf dem Nachttisch eine Adresse mit Telefonnummer hinterlassen. Die Adresse führt zu Vera, der Hauptfigur dieses Romans. An Vera ist auch der Brief gerichtet, in dem Sam die Gründe seiner Tat aufzählt: die Enttäuschungen, die das Leben ihm bereitet hat, und die Gefühlskälte, die er nicht länger zurückhalten konnte. Vor allem aber spricht Sam von seinen Erinnerungen, von jenen gemeinsamen Glücksmomenten in Kindertagen, denen in seinem späteren Leben nichts auch nur entfernt entsprochen habe. Diese fernen Augenblicke in Petersburg, schreibt er, seien das Schönste gewesen, was ihm das Leben zu bieten hatte.
Niemand wird diese Zeilen und die Beschreibung der Tatumstände, die Nina Berberovas Roman eröffnet, ohne Anteilnahme lesen. Veras Verwirrung, ihre Trauer sind mit wenigen Strichen und doch genau und atmosphärisch dicht gezeichnet. Erst ganz allmählich wird dem Leser bewußt, daß diese beiden, Vera und Sam, nicht nur Freunde aus Kindertagen, sondern auch Gegenfiguren sind. Die Tragik ihrer letzten Begegnung wurzelt in einer Vorgeschichte, die zu ganz unterschiedlichen, ja gegensätzlichen Lebensentwürfen geführt hat.
Eine Schlüsselszene ist der Abschiedsdialog, der eine lange Rückblende auf die gemeinsame Petersburger Kindheit beschließt. "Vielleicht wird es nie mehr wieder so schön?" fragt Sam, als er mit den Eltern und seinen Geschwistern vor den Bolschewiki fliehen muß. Vera, die fürs erste zurückbleibt, weist die Vorahnung zurück. "Na, hör mal! Das kann nicht sein." Und dann noch einmal: "Still, Sam, das kann nicht sein."
"Das Buch vom dreifachen Glück" verlangt eine wache Aufmerksamkeit, und wer sie aufbringt, wird reich belohnt. Jede Zeile dieses Romans bezeugt das große literarische Können einer außergewöhnlichen Schriftstellerin. Um so mehr muß erstaunen, daß Nina Berberova bis heute nur wenigen Eingeweihten bekannt ist. 1901 in Petersburg geboren, erarbeitete sie sich in jungen Jahren die unterschiedlichsten literarischen Metiers. Im Pariser Exil veröffentlichte sie Lyrik, Kurzgeschichten und Romane, bevor sie 1950 in Princeton Literatur zu lehren begann. Später folgten ihre Autobiographie, ein Porträt Tschaikowskys und ein Dossier zum Fall Krawtschenko, dem es trotz seiner Nüchternheit nicht gelang, die tiefsitzenden Illusionen über die Sowjetgesellschaft zu zerstreuen.
Der vorliegende, erstmals 1936 in einer Exilzeitschrift erschienene Roman trägt unverkennbar autobiographische Züge. Petersburg und Paris, die Lebensstationen der Autorin, sind auch die Orte der Handlung. Gleichwohl ist damit noch wenig gesagt, denn die Städte bilden nur die Kulisse für eine kunstvoll gewobene Komposition aus thematischen Gegensätzen. Die Spannung zwischen Privatheit und Politik, der revolutionäre Bruch zwischen einst und jetzt sind stets gegenwärtig und prägen den Stoff dieses Buches, das in sparsam kolorierten Bildern von persönlichen Strategien der Bewältigung erzählt. Nicht Ideen bewegen diesen Roman, sondern menschliche Schicksale.
Zu den entscheidenden Schicksalsfragen der Emigration gehört der Umgang mit der Erinnerung. Sam, der Kinderfreund Veras, kommt niemals von der Vergangenheit los und scheitert am überwältigenden Empfinden der Unwiederbringlichkeit. Sein Selbstmord ist von bitterer Konsequenz. Vera hingegen, die noch in Petersburg die Not und die Zerstörung der einstigen Idylle erlebt, lernt rasch, daß sie die Macht der Erinnerung überlisten muß. Tatsächlich geht sie soweit, sich jeden Anflug von Wehmut zu untersagen. Dieses ganz besondere, sterbende Petersburg, versichert sie, hätte sie mit Freuden gegen eine Dose Kondensmilch eingetauscht, gegen Kakaostaub oder ein Stück harten Specks.
Die Alternative zwischen Erinnerung und Selbstbehauptung mag aufgezwungen sein, doch sie scheint unausweichlich. Daß es Glück niemals in der Vergangenheit gebe, sondern nur hier und jetzt - dies wird Vera von nun an zur Regel ihres Lebens und Überlebens. Entschlossen radikalisiert sie ihre Alltagserfahrung zu einer ganz persönlichen Theorie der Entsagung: "Alles, was geschieht, ist gut." Solche Sätze, die ganz unmodern klingen und doch nur den einen Zweck haben, das Arrangement mit der neuen Zeit zu erleichtern, bilden die Grundlage des dreifachen Glücks, von dem der Romantitel spricht. Es handelt sich um drei Liebschaften, und all diese Männer sind ein bißchen so wie Sam: Zauderer, Unzeitgemäße, Erinnerungsselige - liebenswerte Leute "von meist unbestimmter Tätigkeit".
Anders Vera, die als einzige den Versuch macht, sich den Veränderungen der Welt zu stellen. Freilich hat auch dies seinen Preis. Das Glück, das Vera mit ihren Männern findet, bleibt stets ihr eigenes, ein oft unvermittelt hereinbrechendes, den deprimierenden Umständen der Flüchtlingsexistenz abgetrotztes, grundloses, ja "wehes" und "karges" Empfinden, dem als Vorwand schon der geringste Anlaß genügt. Veras Geschichte ist das genaue Gegenteil einer Suche nach der verlorenen Zeit: ein Losreißen von der Vergangenheit, getrieben vom unbändigen Verlangen nach Glück.
Ihr größtes Geheimnis sei ihr Wissen darum, sagt Vera einmal, daß einzig sie selbst nicht austauschbar sei, die anderen könne man heimlich auswechseln. Dieses Bekenntnis enthüllt die abgründige Problematik eines individuellen Lebensentwurfs, dessen Festigkeit sich einem erzwungenen Vergessen verdankt. Erfahrung zählt in diesem Entwurf nicht viel, denn "jeder beginnt von vorne". Es sind nicht die Antworten, es sind die mit diesem Frauenporträt gestellten Fragen, die Nina Berberovas Roman so eindrucksvoll machen: Triumph über das Verhängnis oder Resignation angesichts des Unabänderlichen, Heldin oder Antiheldin - beides ist möglich, aber leicht zu entscheiden ist es nicht.
Nina Berberova: "Das Buch vom dreifachen Glück". Roman. Aus dem Russischen übersetzt von Annelore Nitschke. Luchterhand Literaturverlag, München 1997. 186 S., geb., 32,- DM.
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