Ein Meisterwerk - anrührend und komisch, magisch und realistisch Thomas kann Dinge sehen, die andere nicht sehen können. Er sieht tropische Fische, die in den Grachten schwimmen und erfasst die Magie von Frau Amersfoort, der Nachbarin, die ihren Mann im Widerstand verloren hat. Er sieht die Schönheit von Elisa mit ihrem Bein aus Leder, das beim Gehen knirscht, und sogar Herrn Jesus, der Thomas anbietet, ihn einfach nur Jesus zu nennen. Vor manchen Dingen würde Thomas allerdings am liebsten die Augen verschließen. Aber er nimmt sich vor, dass er keine Angst mehr haben will. Und so wird er jeden Tag etwas mutiger und geht in kleinen Schritten seinen Weg. Ein Roman über eine Kindheit in den 50er Jahren - der zeitlose Fragen nach Liebe, Glaube, Freiheit und Glück thematisiert.
Nominiert für den Deutschen Jugendliteraturpreis 2007 in der Kategorie Kinderbuch.
Nominiert für den Deutschen Jugendliteraturpreis 2007 in der Kategorie Kinderbuch.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.08.2006Da kann Jesus auch nicht helfen
Guus Kuijers wunderbares "Buch von allen Dingen"
Nein, ein Kakao-Buch ist es nicht, das "Buch von allen Dingen". Guus Kuijer erklärt zu Beginn, warum er nun doch nicht, wie geplant, einen Schmöker über eine glückliche Kindheit geschrieben hat, den man gemütlich mit einem Heißgetränk am Kamin vorlesen könnte. Ein Mann namens Thomas Klopper kam ihm dazwischen und mit ihm der Junge, der dieser Mann einmal war: neun Jahre alt, bedrückt, voller Phantasie und Bibelverse. Was er an unverständlichen und schlimmen Dingen erlebt und was er darüber denkt, schreibt er in sein "Buch von allen Dingen". Wenn man in einer streng calvinistischen Familie aufwächst, kann das sehr viel sein. Als der niederländische Kinderbuchautor Guus Kuijer diese jahrzehntealten Notizen und ihren Autor kennenlernt, ändert er seinen Plan, über eine glückliche Kindheit zu schreiben. Entstanden ist die Geschichte einer Befreiung.
Wenig dringt nach außen über den Alltag der Kinder, die von ihren Familien in ein strenges christliches Glaubensleben hineingedrückt werden. In der Belletristik für Erwachsene tauchen gelegentlich berührende Texte darüber auf. Aber in der Kinderliteratur hat noch niemand mit solch elektrisierender Wahrhaftigkeit wie jetzt Guus Kuijer von diesem Lebensgefühl erzählt. Daß Thomas es in den fernen fünfziger Jahren durchmachen mußte, bereichert die Geschichte nur um diesen interessanten Zeitbezug, mindert aber nicht ihre Aktualität. Die Gefühle und Fragen, die ein Kind in einem solchen Umfeld umtreiben, sind dieselben geblieben. Es ist wunderbar, daß sie ausgerechnet von diesem Autor in Worte gefaßt werden, der mit seinen "Polleke"-Romanen schon viele junge Leser zum Lachen gebracht hat und dazu, ihr eigenes Leben zu erkennen, auch an den schwierigen Stellen. "Das Buch von allen Dingen" ist dunkler grundiert, aber dennoch in demselben heiteren, lichtdurchlässigen und entwaffnend nüchternen Ton geschrieben, der Guus Kuijers Kinderromane so liebenswert macht. Mit seiner freundlichen und von ferne mitfühlenden Erzählerstimme werden Thomas' Erlebnisse nicht nur erträglich. Sie sind aufregender als ein Krimi.
Die Spannung dieses Krimis steigert sich mit jedem Abendessen der Familie. Der strenge Vater, die sanfte Mutter, die nur vermeintlich strohdumme Schwester Margot und Thomas sitzen am Tisch vereint. Es wird aus der Bibel vorgelesen - aus dem Buch Moses, wo es um den Auszug aus Ägypten geht. Nachdem Thomas nicht nur selbst "gezüchtigt" wurde, sondern auch mit ansehen muß, wie der Vater die Mutter schlägt, betet er inbrünstig um Strafe für den Vater: "Lieber Gott, kann es dich bitte geben? Alle Plagen Ägyptens bitte sehr."
Gott antwortet ihm nicht. Jesus dagegen kommt ab und zu zum Plaudern vorbei, ist aber auch keine große Hilfe, wie Thomas einmal erbittert bemerkt. "Was soll das heißen? Ich habe die Menschheit doch erlöst!" empört sich Jesus. "Erlöst?" ist Thomas' Gegenfrage: "Wovon denn, wenn ich fragen darf?" Nein, Thomas ist nicht erlöst. Das muß er schon selber machen. Guus Kuijer zeigt ihn uns als ein Kind, das fast nur in Bildern der Bibel denkt. Oft sind die sehr schön: wie etwa die ganze Schöpfung den Atem anhält, wenn der Vater wieder einmal zuschlägt. Und als Kind einer strenggläubigen Familie lebt man ganz selbstverständlich mit so seltsamen Ausdrücken wie "Laß diesen Knilch an mir vorübergehen".
Daß Thomas trotz aller Angst erste Schritte hinaus aus der Glaubens-Enge wagt, hat mit der Nachbarin zu tun, der alten Frau van Amersfort. Als frühere Widerstandskämpferin weiß sie, wie man gegen Angst und Unterdrückung vorgeht: eher beiläufig und sanft. Sie leiht Thomas ein Buch über einen Jungen aus, der nie in die Kirche muß. "Emil und die Detektive" heißt es. Auch eine Art Widerstandsgeschichte. Thomas wird ein Leser und später sogar ein Vorleser, dessen Zuhörer den Vater einfach nur durch Fröhlichkeit entwaffnen. Für Thomas ist er nicht länger ein Feind. Mehr kann er wohl nicht für ihn tun. Er selbst hört auf, verzweifelt nach Sinn zu suchen, nach Schuld zu fragen. Er weiß jetzt: Wir sind zu unserer eigenen Freude auf der Erde. Genau wie dieses Buch.
MONIKA OSBERGHAUS
Guus Kuijer: "Das Buch von allen Dingen". Aus dem Niederländischen übersetzt von Sylke Hachmeister. Oetinger Verlag, Hamburg 2006. 93 S., geb., 9,90 [Euro]. Ab 10 J.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Guus Kuijers wunderbares "Buch von allen Dingen"
Nein, ein Kakao-Buch ist es nicht, das "Buch von allen Dingen". Guus Kuijer erklärt zu Beginn, warum er nun doch nicht, wie geplant, einen Schmöker über eine glückliche Kindheit geschrieben hat, den man gemütlich mit einem Heißgetränk am Kamin vorlesen könnte. Ein Mann namens Thomas Klopper kam ihm dazwischen und mit ihm der Junge, der dieser Mann einmal war: neun Jahre alt, bedrückt, voller Phantasie und Bibelverse. Was er an unverständlichen und schlimmen Dingen erlebt und was er darüber denkt, schreibt er in sein "Buch von allen Dingen". Wenn man in einer streng calvinistischen Familie aufwächst, kann das sehr viel sein. Als der niederländische Kinderbuchautor Guus Kuijer diese jahrzehntealten Notizen und ihren Autor kennenlernt, ändert er seinen Plan, über eine glückliche Kindheit zu schreiben. Entstanden ist die Geschichte einer Befreiung.
Wenig dringt nach außen über den Alltag der Kinder, die von ihren Familien in ein strenges christliches Glaubensleben hineingedrückt werden. In der Belletristik für Erwachsene tauchen gelegentlich berührende Texte darüber auf. Aber in der Kinderliteratur hat noch niemand mit solch elektrisierender Wahrhaftigkeit wie jetzt Guus Kuijer von diesem Lebensgefühl erzählt. Daß Thomas es in den fernen fünfziger Jahren durchmachen mußte, bereichert die Geschichte nur um diesen interessanten Zeitbezug, mindert aber nicht ihre Aktualität. Die Gefühle und Fragen, die ein Kind in einem solchen Umfeld umtreiben, sind dieselben geblieben. Es ist wunderbar, daß sie ausgerechnet von diesem Autor in Worte gefaßt werden, der mit seinen "Polleke"-Romanen schon viele junge Leser zum Lachen gebracht hat und dazu, ihr eigenes Leben zu erkennen, auch an den schwierigen Stellen. "Das Buch von allen Dingen" ist dunkler grundiert, aber dennoch in demselben heiteren, lichtdurchlässigen und entwaffnend nüchternen Ton geschrieben, der Guus Kuijers Kinderromane so liebenswert macht. Mit seiner freundlichen und von ferne mitfühlenden Erzählerstimme werden Thomas' Erlebnisse nicht nur erträglich. Sie sind aufregender als ein Krimi.
Die Spannung dieses Krimis steigert sich mit jedem Abendessen der Familie. Der strenge Vater, die sanfte Mutter, die nur vermeintlich strohdumme Schwester Margot und Thomas sitzen am Tisch vereint. Es wird aus der Bibel vorgelesen - aus dem Buch Moses, wo es um den Auszug aus Ägypten geht. Nachdem Thomas nicht nur selbst "gezüchtigt" wurde, sondern auch mit ansehen muß, wie der Vater die Mutter schlägt, betet er inbrünstig um Strafe für den Vater: "Lieber Gott, kann es dich bitte geben? Alle Plagen Ägyptens bitte sehr."
Gott antwortet ihm nicht. Jesus dagegen kommt ab und zu zum Plaudern vorbei, ist aber auch keine große Hilfe, wie Thomas einmal erbittert bemerkt. "Was soll das heißen? Ich habe die Menschheit doch erlöst!" empört sich Jesus. "Erlöst?" ist Thomas' Gegenfrage: "Wovon denn, wenn ich fragen darf?" Nein, Thomas ist nicht erlöst. Das muß er schon selber machen. Guus Kuijer zeigt ihn uns als ein Kind, das fast nur in Bildern der Bibel denkt. Oft sind die sehr schön: wie etwa die ganze Schöpfung den Atem anhält, wenn der Vater wieder einmal zuschlägt. Und als Kind einer strenggläubigen Familie lebt man ganz selbstverständlich mit so seltsamen Ausdrücken wie "Laß diesen Knilch an mir vorübergehen".
Daß Thomas trotz aller Angst erste Schritte hinaus aus der Glaubens-Enge wagt, hat mit der Nachbarin zu tun, der alten Frau van Amersfort. Als frühere Widerstandskämpferin weiß sie, wie man gegen Angst und Unterdrückung vorgeht: eher beiläufig und sanft. Sie leiht Thomas ein Buch über einen Jungen aus, der nie in die Kirche muß. "Emil und die Detektive" heißt es. Auch eine Art Widerstandsgeschichte. Thomas wird ein Leser und später sogar ein Vorleser, dessen Zuhörer den Vater einfach nur durch Fröhlichkeit entwaffnen. Für Thomas ist er nicht länger ein Feind. Mehr kann er wohl nicht für ihn tun. Er selbst hört auf, verzweifelt nach Sinn zu suchen, nach Schuld zu fragen. Er weiß jetzt: Wir sind zu unserer eigenen Freude auf der Erde. Genau wie dieses Buch.
MONIKA OSBERGHAUS
Guus Kuijer: "Das Buch von allen Dingen". Aus dem Niederländischen übersetzt von Sylke Hachmeister. Oetinger Verlag, Hamburg 2006. 93 S., geb., 9,90 [Euro]. Ab 10 J.
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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Sehr berührt ist Siggi Seuss von Guus Kuijers, in den Niederlanden bereits preisgekrönten Buch, das von einem Jungen erzählt, der unter einem strenggläubigen Vater aufwächst. Einem Vater allerdings, der die Bibel in den Jungen hineinzuprügeln versucht. Doch wie Seuss berichtet, werden dem Jungen der eigene Mut und die eigene Widerstandskraft nicht sehr weit bringen. Er braucht Hilfe von anderen. Und dies ist für Seuss der entscheidende Punkt in Kuijers Geschichte: Es braucht "Menschen, die den Pharaonen dieser Welt entgegentreten". Und Courage.
© Perlentaucher Medien GmbH
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