Lina Atfahs Gedichte gleichen einem traumwandlerischen Tanz auf einer Rasierklinge: Hier Verse, die in präziser Bildhaftigkeit wie Schnappschüsse ihren Fokus auf die zerrissene Heimat Syrien richten, auf Flucht, Vertreibung und Verbrechen. Dort sinnliche Gedichte, die vollgesogen sind von allerlei arabischen Mythen und Geschichten. Und über alldem: eine junge poetische Stimme, die in ihrem Anspielungsreichtum ihresgleichen sucht.Ubersetzt von Dorothea Grünzweig, Mahmoud Hassanein, Brigitte Oleschinski, Hellmuth Opitz, Christoph Peters, Annika Reich, Joachim Sartorius, Mustafa Slaiman, Suleman Tau q, Julia Trompeter, Jan Wagner, Kerstin Wilch, Osman Yousufi.Nino Haratischwili über Lina Atfah»Lina findet Worte für die, die sie verloren haben. Sie sucht nach einer Sprache inmitten der Sprachlosigkeit. Sie macht für mich etwas greifbar, was in seiner ganzen Grausamkeit zur Abstraktion verkommen ist. Sie erzählt Geschichten von ihrer Welt, die zum Abschuss freigegeben worden ist.«
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.07.2019Das Glühen in den Augen der Großmutter
Wie trifft man den Ton der zeitgenössischen arabischen Poesie? Lina Atfahs Gedichte in verwirrend vielen deutschen Stimmen
Unter den Flüchtlingen aus den Kriegen in Syrien und dem Irak sind in den letzten Jahren auch zahlreiche Autorinnen und Autoren nach Deutschland gekommen. Sie sind nicht nur ihres Lebensumfelds und ihres Publikums beraubt; viele von ihnen haben vorher auch mit der Sprache ihr Brot verdient, sei es als Journalisten, Dozenten, Lehrerinnen. Für sie bedeutet das Exil einen noch größeren Bruch als für die anderen Geflüchteten.
An genau diesem Punkt setzt das inzwischen seit einigen Jahren bestehende Projekt ein, dass die Schriftstellerin Annika Reich zur Förderung geflüchteter Autoren gegründet hat. Es trägt den passenden Titel "Weiterschreiben", funktioniert jedoch anders als die herkömmliche Autorenförderung. Im Kern geht es darum, die zugewanderten Autorinnen und Autoren mit der deutschen Literaturszene zu verknüpfen. Sie bilden Tandems, fördern sich wechselseitig, machen gemeinsame Publikationen. Vor allem jüngere arabische Schreibende sind in das Projekt eingestiegen, wobei die Bedingung war, dass sie in der Heimat zumindest ein Buch publiziert hatten.
Viele von ihnen können mittlerweile auch auf Deutsch eigene Bücher vorweisen, etwa der palästinensisch-syrische Lyriker Ramy Al-Asheq, die kurdisch-syrische Dichterin Widad Nabi oder der jemenitisch-saudische Dichter Galal Alahmadi. Jetzt gehört auch die 1989 geborene Lina Atfah dazu, die mit Nino Haratischwili ein Autorinnengespann bildet. Haratischwili teilt mit Atfah die Erfahrung, in Deutschland eine zweite Heimat gefunden zu haben. Sie sieht, wie sie im Vorwort zu dem Band schreibt, in Atfahs Gedichten das "Glühen" in den Augen ihrer georgischen Großmutter, "wie sie die Zeilen verschiedener Dichter vortrug, als wolle sie mir mit ihrem Blick noch so viel mehr verraten als die Worte, die sie aufsagte, als verberge sich hinter ihnen ein noch viel tiefer gehender Sinn und ein doppelter, wenn nicht gar dreifacher Boden".
In der vorliegenden Ausgabe unter dem Titel "Das Buch von der fehlenden Ankunft" haben die Gedichte von Lina Atfah tatsächlich einen "doppelten, wenn nicht gar dreifachen Boden", allerdings ganz unmetaphorisch: Das schön gestaltete Buch ist nicht nur zweisprachig, Arabisch und Deutsch, sondern viele Gedichte sind auch doppelt übersetzt, wobei die insgesamt zwölf Übersetzerinnen und Übersetzer, darunter zahlreiche bekannte Autoren, mit arabischen Muttersprachlern zusammengearbeitet haben.
Leider wird dieses Verfahren in dem Buch nicht eigens erläutert. Das scheint umso bedauerlicher, als es zwar ein interessantes Experiment, im Gesamtergebnis jedoch fragwürdig ist. Die Autorin bekommt im Deutschen keine eigene Stimme, keinen erkennbaren Ton, so unterschiedlich fallen die Ergebnisse aus. Für diejenigen Gedichte, die gleich in zwei Übersetzungsvarianten dargeboten werden, gilt dieser Eindruck verschärft.
So kommen Christoph Peters und Julia Trompeter, beide auf der Grundlage einer Interlinearübersetzung von Mahmoud Hassanein, zwar beide zu lesenswerten Fassungen; aber es scheinen zwei verschiedene Gedichte. In der Variante von Peters heißt es am Ende des Gedichts "Im Atelier von Youssef Abdelke": "es bedeutet nichts, dass die Spatzen neben den Fangschlingen / liegen / und auch der Tod verweist nur auf sich selbst / (. . .) denn die Wahrheit ist eins und hat keine Schatten". Julia Trompeter hingegen macht aus derselben Vorlage: "Es ist keine Metapher, dass die Spatzen tot neben dem Messer der / Mörder liegen / tot sein deutet nicht hin auf Gewalt, ist nur Tod / (. . .) Denn die Wahrheit ist makellos, wirft keinen Schatten."
Zwar erläutern sich die beiden Übersetzungen wechselseitig, kommen aber auch nur im Abgleich dem Original wirklich nah. Am besten hätte man sie zu einer dritten Fassung miteinander verschnitten. Dabei ist die Aussage klar: Der Tod lässt sich nicht überhöhen, und die Wahrheit ist, anders als in Platons Höhlengleichnis, immer nur das, was man konkret sieht. Das Ende der Metaphysik ist aber zugleich das Ende des Trosts. Wäre es aber nicht auch das Ende der Kunst?
Nur dann freilich, wenn man sie bloß für Kunst hält! Lina Atfahs Gedichte wollen jedoch mehr sein: Interventionen, Anrufe, Befehle, Warnungen. Die dichterische Tradition schultert die Dichterin wie eine Verkleidung, ein Kostüm. Aus ihm heraus lässt sich sprechen, wie früher die Dichter es taten; aber es bleibt ein Kostüm, das die Dichterin am Ende ablegt, es als solches entlarvt und die Leser dabei zu Zeugen macht. Man muss diese Gedichte deshalb vom Ende her lesen: "In einer Zeile nach der anderen, / suchte ich nach dem Gedicht / vom Anfang unserer Träume bis zum Ende des Zitats".
Immerhin kann Lina Atfah uns auch erklären, warum die Dichter sterben. Nämlich (in der Nachdichtung Jan Wagners) "um die Unsterblichkeit ihrer Namen zu prüfen". Auf die abschließende Frage, warum die Tyrannen sterben, gibt dagegen Joachim Sartorius in seiner Fassung die beste Antwort: "Damit die Völker leben" (Wagner ergänzt: "können"). Unter der Hand der vielen Übersetzer mutieren die Texte zu Versuchskaninchen, wobei die Forschungsfrage vermutlich lautete, wie der Ton der zeitgenössischen arabischen Poesie am besten getroffen werden kann - oder ob überhaupt.
Dieses Verfahren verschleiert zudem, dass manche Irritation des Lesers gar nicht auf das Konto der Übersetzer, sondern der Dichterin geht. Die Texte überzeugen, wo sie sich an die Außenwelt, ans Konkrete halten; in der Regel auch dann, wenn sie - jüngste Mode der arabischen Poesie - ins Aphoristische ausweichen. Wenn sie Gefühle ausdrücken wollen oder persönlich klingen, autobiographisch, verläuft die Grenze zum Poesiealbum fließend.
Dabei hat Lina Atfah, das zeigen die arabischen Originale, die ganze Klaviatur der arabischen Dichtung seit alter Zeit zu ihrer Verfügung. Die Versuchung, diese Klaviatur in Gänze zu bespielen - oder sich an ihr auszutesten -, muss groß sein. Wenn es ihr gelingt, sich zu beschränken, und sie demnächst vielleicht einen Übersetzer findet, der ihr eine klare, eindeutige Stimme verleiht, werden wir mit dem vorliegenden Buch die ersten deutschen Texte einer großen Dichterin gelesen haben.
STEFAN WEIDNER
Lina Atfah: "Das Buch von der fehlenden Ankunft". Gedichte aus Syrien.
Aus dem Arabischen übersetzt und nachgedichtet von Dorothea Grünzweig u.a. Pendragon Verlag, Bielefeld 2019. 148 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wie trifft man den Ton der zeitgenössischen arabischen Poesie? Lina Atfahs Gedichte in verwirrend vielen deutschen Stimmen
Unter den Flüchtlingen aus den Kriegen in Syrien und dem Irak sind in den letzten Jahren auch zahlreiche Autorinnen und Autoren nach Deutschland gekommen. Sie sind nicht nur ihres Lebensumfelds und ihres Publikums beraubt; viele von ihnen haben vorher auch mit der Sprache ihr Brot verdient, sei es als Journalisten, Dozenten, Lehrerinnen. Für sie bedeutet das Exil einen noch größeren Bruch als für die anderen Geflüchteten.
An genau diesem Punkt setzt das inzwischen seit einigen Jahren bestehende Projekt ein, dass die Schriftstellerin Annika Reich zur Förderung geflüchteter Autoren gegründet hat. Es trägt den passenden Titel "Weiterschreiben", funktioniert jedoch anders als die herkömmliche Autorenförderung. Im Kern geht es darum, die zugewanderten Autorinnen und Autoren mit der deutschen Literaturszene zu verknüpfen. Sie bilden Tandems, fördern sich wechselseitig, machen gemeinsame Publikationen. Vor allem jüngere arabische Schreibende sind in das Projekt eingestiegen, wobei die Bedingung war, dass sie in der Heimat zumindest ein Buch publiziert hatten.
Viele von ihnen können mittlerweile auch auf Deutsch eigene Bücher vorweisen, etwa der palästinensisch-syrische Lyriker Ramy Al-Asheq, die kurdisch-syrische Dichterin Widad Nabi oder der jemenitisch-saudische Dichter Galal Alahmadi. Jetzt gehört auch die 1989 geborene Lina Atfah dazu, die mit Nino Haratischwili ein Autorinnengespann bildet. Haratischwili teilt mit Atfah die Erfahrung, in Deutschland eine zweite Heimat gefunden zu haben. Sie sieht, wie sie im Vorwort zu dem Band schreibt, in Atfahs Gedichten das "Glühen" in den Augen ihrer georgischen Großmutter, "wie sie die Zeilen verschiedener Dichter vortrug, als wolle sie mir mit ihrem Blick noch so viel mehr verraten als die Worte, die sie aufsagte, als verberge sich hinter ihnen ein noch viel tiefer gehender Sinn und ein doppelter, wenn nicht gar dreifacher Boden".
In der vorliegenden Ausgabe unter dem Titel "Das Buch von der fehlenden Ankunft" haben die Gedichte von Lina Atfah tatsächlich einen "doppelten, wenn nicht gar dreifachen Boden", allerdings ganz unmetaphorisch: Das schön gestaltete Buch ist nicht nur zweisprachig, Arabisch und Deutsch, sondern viele Gedichte sind auch doppelt übersetzt, wobei die insgesamt zwölf Übersetzerinnen und Übersetzer, darunter zahlreiche bekannte Autoren, mit arabischen Muttersprachlern zusammengearbeitet haben.
Leider wird dieses Verfahren in dem Buch nicht eigens erläutert. Das scheint umso bedauerlicher, als es zwar ein interessantes Experiment, im Gesamtergebnis jedoch fragwürdig ist. Die Autorin bekommt im Deutschen keine eigene Stimme, keinen erkennbaren Ton, so unterschiedlich fallen die Ergebnisse aus. Für diejenigen Gedichte, die gleich in zwei Übersetzungsvarianten dargeboten werden, gilt dieser Eindruck verschärft.
So kommen Christoph Peters und Julia Trompeter, beide auf der Grundlage einer Interlinearübersetzung von Mahmoud Hassanein, zwar beide zu lesenswerten Fassungen; aber es scheinen zwei verschiedene Gedichte. In der Variante von Peters heißt es am Ende des Gedichts "Im Atelier von Youssef Abdelke": "es bedeutet nichts, dass die Spatzen neben den Fangschlingen / liegen / und auch der Tod verweist nur auf sich selbst / (. . .) denn die Wahrheit ist eins und hat keine Schatten". Julia Trompeter hingegen macht aus derselben Vorlage: "Es ist keine Metapher, dass die Spatzen tot neben dem Messer der / Mörder liegen / tot sein deutet nicht hin auf Gewalt, ist nur Tod / (. . .) Denn die Wahrheit ist makellos, wirft keinen Schatten."
Zwar erläutern sich die beiden Übersetzungen wechselseitig, kommen aber auch nur im Abgleich dem Original wirklich nah. Am besten hätte man sie zu einer dritten Fassung miteinander verschnitten. Dabei ist die Aussage klar: Der Tod lässt sich nicht überhöhen, und die Wahrheit ist, anders als in Platons Höhlengleichnis, immer nur das, was man konkret sieht. Das Ende der Metaphysik ist aber zugleich das Ende des Trosts. Wäre es aber nicht auch das Ende der Kunst?
Nur dann freilich, wenn man sie bloß für Kunst hält! Lina Atfahs Gedichte wollen jedoch mehr sein: Interventionen, Anrufe, Befehle, Warnungen. Die dichterische Tradition schultert die Dichterin wie eine Verkleidung, ein Kostüm. Aus ihm heraus lässt sich sprechen, wie früher die Dichter es taten; aber es bleibt ein Kostüm, das die Dichterin am Ende ablegt, es als solches entlarvt und die Leser dabei zu Zeugen macht. Man muss diese Gedichte deshalb vom Ende her lesen: "In einer Zeile nach der anderen, / suchte ich nach dem Gedicht / vom Anfang unserer Träume bis zum Ende des Zitats".
Immerhin kann Lina Atfah uns auch erklären, warum die Dichter sterben. Nämlich (in der Nachdichtung Jan Wagners) "um die Unsterblichkeit ihrer Namen zu prüfen". Auf die abschließende Frage, warum die Tyrannen sterben, gibt dagegen Joachim Sartorius in seiner Fassung die beste Antwort: "Damit die Völker leben" (Wagner ergänzt: "können"). Unter der Hand der vielen Übersetzer mutieren die Texte zu Versuchskaninchen, wobei die Forschungsfrage vermutlich lautete, wie der Ton der zeitgenössischen arabischen Poesie am besten getroffen werden kann - oder ob überhaupt.
Dieses Verfahren verschleiert zudem, dass manche Irritation des Lesers gar nicht auf das Konto der Übersetzer, sondern der Dichterin geht. Die Texte überzeugen, wo sie sich an die Außenwelt, ans Konkrete halten; in der Regel auch dann, wenn sie - jüngste Mode der arabischen Poesie - ins Aphoristische ausweichen. Wenn sie Gefühle ausdrücken wollen oder persönlich klingen, autobiographisch, verläuft die Grenze zum Poesiealbum fließend.
Dabei hat Lina Atfah, das zeigen die arabischen Originale, die ganze Klaviatur der arabischen Dichtung seit alter Zeit zu ihrer Verfügung. Die Versuchung, diese Klaviatur in Gänze zu bespielen - oder sich an ihr auszutesten -, muss groß sein. Wenn es ihr gelingt, sich zu beschränken, und sie demnächst vielleicht einen Übersetzer findet, der ihr eine klare, eindeutige Stimme verleiht, werden wir mit dem vorliegenden Buch die ersten deutschen Texte einer großen Dichterin gelesen haben.
STEFAN WEIDNER
Lina Atfah: "Das Buch von der fehlenden Ankunft". Gedichte aus Syrien.
Aus dem Arabischen übersetzt und nachgedichtet von Dorothea Grünzweig u.a. Pendragon Verlag, Bielefeld 2019. 148 S., geb., 22,- [Euro].
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