Die Kinderfragen der elfjährigen Nora K. sind große Fragen der Philosophie. Vittorio Hösle, von Beruf Philosoph, lotst Nora in seinen Antworten mit sicherer Hand durch die Labyrinthe philosophischen Denkens. Gemeinsam erfinden sie ein phantastisches Cafe, in dem die großen Philosophen von Platon bis Hans Jonas über Gott, die Welt und das richtige Leben diskutieren. Der ungewöhnliche Briefwechsel zwischen beiden ist eine Einführung in die Philosophie für Kinder und Erwachsene.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 01.10.1996Nora in der Noosphäre
Zwei Philosophen beim Vorstaunen / Von Mechthild Lemcke
Die Frage, ob und wie Philosophie zu lehren sei, wurde früher gerne ausgeklammert. Der Adept hatte, um den Professoren die Pein der Vereinfachung zu ersparen, ins kalte Wasser philosophischer Doktrin zu springen. Die in den letzten Jahren - nicht zuletzt dank Jostein Gaarders "Sofies Welt" - intensiver gewordene Diskussion philosophischer Fragen mit Kindern könnte hier unter Umständen für neue Impulse sorgen. Es liegen zwei Neuerscheinungen vor. Briefwechsel von Philosophen mit Kindern, die unterschiedlicher kaum sein könnten.
Der Essener Philosophieprofessor Vittorio Hösle erfand auf die Frage seiner elfjährigen Freundin Nora, ob die Idee des Dinosauriers auch nach dessen Aussterben weiterexistiere, das Café der toten Philosophen. An diesem Ort trifft sich alles, was in der Philosophiegeschichte Rang und Namen hat, um über alle möglichen Probleme, vor allem aber über Noras Fragen, zu diskutieren. Nora steht in ihrer Erfindungsgabe Hösle in nichts nach. Da sie keinen Zugang zum Café der toten Philosophen hat, denkt sie sich Begegnungen mit all jenen Philosophen aus, mit denen sie sich schon immer gerne einmal unterhalten hätte. Mit großer Unbefangenheit werden grundlegende Themen wie Willensfreiheit und Prädestination, Wissen und Macht oder die Gefahr einer emotionalen Austrocknung des Denkens verhandelt.
Besonders reizvoll ist, daß die wiederbelebten Denker quer durch die Jahrhunderte miteinander ins Gespräch kommen und im nachhinein die eine oder andere ihrer Lehrmeinungen revidieren. Mit diesem spielerischen Trick werden handstreichartig alle Doktrinen aus ihrer Erstarrung gelöst. Mit sichtlichem Vergnügen führt Hösle Nora in seinen philosophischen Debattierklub ein, in dem man ohne Umschweife zu den entscheidenden Fragen kommt. Denn - wie Hösle René Descartes sagen läßt - "Naivität ist in der Philosophie vor allen Dingen erforderlich. Gleichgültigkeit gegenüber dem, was andere meinen, Bereitschaft, auch verpönte Fragen zu stellen, ein gewisses Vertrauen darauf, daß die richtigen Antworten auch überraschend einfach sind - all das ist in der Philosophie wichtig, und Kinder haben diesbezüglich weniger Hemmungen als Erwachsene". Diese Ansicht erläutert Hösle noch eingehender in seinem abschließenden Essay über Kindheit und Philosophie.
Auch der Pariser Philosoph Jean-François Lyotard äußert sich im letzten seiner Briefe an Kinder aus den Jahren 1982 bis 1985 zum Thema Vermittlung philosophischen Wissens an Kinder. Der Leser, der sich bis dahin schon gewundert haben mag, wie viele Vorkenntnisse der Autor bei seinen jugendlichen Briefpartnern (deren Briefe nicht ediert sind) voraussetzt, sieht sich dort mit der These konfrontiert, die Kindheit sei das Ungeheuer und die Komplizin der Philosophen, da sie ihnen sage, "daß der Geist nicht gegeben ist, aber zugleich, daß er möglich sei". Das kindliche Wesen muß also erst durch das, was Lyotard den philosophischen Gang (cours) nennt, zur geistigen Blüte "reformiert" werden. Gemeint ist damit kein festgelegtes Curriculum, sondern ein Prozeß des Fragenstellens, der immer von neuem der eigenen Mitte entspringen soll.
Lyotards Briefe sind Monologe, die nur am Rande auf die Fragen der Kinder eingehen; sie kommentieren aktuelle und frühere Lesefrüchte und umkreisen Debatten, in die der Autor verstrickt ist - vor allem die Themen Postmoderne und Totalitarismus. Immer auf der Suche nach dem Nichtidentischen, scheut sich Lyotard, Klartext zu reden, sieht man einmal von seiner These ab, das Projekt einer fortschreitenden Emanzipation der Menschheit sei nichts als ein Märchen und damit gescheitert. Die zunehmende Komplexität des Lebens verlange "Widerstand gegen den Simplismus, gegen die vereinfachenden Slogans und gegen das Verlangen nach Klarheit und Leichtigkeit, gegen den Wunsch nach Wiederherstellung sicherer Werte". Vereinfachung sei barbarisch und reaktionär. Was aber kann verwirrender sein als eine Totalitarismuskritik, die - von ihrem Gegenstand infiziert - selbst totalitär geworden ist und überall (außer bei sich) nur noch Unfreiheit und Vereinnahmung wittert? Die Angst vor der Banalität, der Unglaube, etwas könne einfach sein und dargestellt werden, macht diese Briefe allenfalls zu einem Lesevergnügen für Erwachsene, die Texte lieber erahnen als verstehen.
Nora K. / Vittorio Hösle: "Das Café der toten Philosophen". Ein philosophischer Briefwechsel für Kinder und Erwachsene. Verlag C. H. Beck, München 1996. 257 S., geb., 34,- DM.
Jean-François Lyotard: "Postmoderne für Kinder". Briefe aus den Jahren 1982 - 1985. Aus dem Französischen von Dorothea Schmidt unter Mitarbeit von Christine Pries. Passagen Verlag, Wien 1996. 137 S., br., 28,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Zwei Philosophen beim Vorstaunen / Von Mechthild Lemcke
Die Frage, ob und wie Philosophie zu lehren sei, wurde früher gerne ausgeklammert. Der Adept hatte, um den Professoren die Pein der Vereinfachung zu ersparen, ins kalte Wasser philosophischer Doktrin zu springen. Die in den letzten Jahren - nicht zuletzt dank Jostein Gaarders "Sofies Welt" - intensiver gewordene Diskussion philosophischer Fragen mit Kindern könnte hier unter Umständen für neue Impulse sorgen. Es liegen zwei Neuerscheinungen vor. Briefwechsel von Philosophen mit Kindern, die unterschiedlicher kaum sein könnten.
Der Essener Philosophieprofessor Vittorio Hösle erfand auf die Frage seiner elfjährigen Freundin Nora, ob die Idee des Dinosauriers auch nach dessen Aussterben weiterexistiere, das Café der toten Philosophen. An diesem Ort trifft sich alles, was in der Philosophiegeschichte Rang und Namen hat, um über alle möglichen Probleme, vor allem aber über Noras Fragen, zu diskutieren. Nora steht in ihrer Erfindungsgabe Hösle in nichts nach. Da sie keinen Zugang zum Café der toten Philosophen hat, denkt sie sich Begegnungen mit all jenen Philosophen aus, mit denen sie sich schon immer gerne einmal unterhalten hätte. Mit großer Unbefangenheit werden grundlegende Themen wie Willensfreiheit und Prädestination, Wissen und Macht oder die Gefahr einer emotionalen Austrocknung des Denkens verhandelt.
Besonders reizvoll ist, daß die wiederbelebten Denker quer durch die Jahrhunderte miteinander ins Gespräch kommen und im nachhinein die eine oder andere ihrer Lehrmeinungen revidieren. Mit diesem spielerischen Trick werden handstreichartig alle Doktrinen aus ihrer Erstarrung gelöst. Mit sichtlichem Vergnügen führt Hösle Nora in seinen philosophischen Debattierklub ein, in dem man ohne Umschweife zu den entscheidenden Fragen kommt. Denn - wie Hösle René Descartes sagen läßt - "Naivität ist in der Philosophie vor allen Dingen erforderlich. Gleichgültigkeit gegenüber dem, was andere meinen, Bereitschaft, auch verpönte Fragen zu stellen, ein gewisses Vertrauen darauf, daß die richtigen Antworten auch überraschend einfach sind - all das ist in der Philosophie wichtig, und Kinder haben diesbezüglich weniger Hemmungen als Erwachsene". Diese Ansicht erläutert Hösle noch eingehender in seinem abschließenden Essay über Kindheit und Philosophie.
Auch der Pariser Philosoph Jean-François Lyotard äußert sich im letzten seiner Briefe an Kinder aus den Jahren 1982 bis 1985 zum Thema Vermittlung philosophischen Wissens an Kinder. Der Leser, der sich bis dahin schon gewundert haben mag, wie viele Vorkenntnisse der Autor bei seinen jugendlichen Briefpartnern (deren Briefe nicht ediert sind) voraussetzt, sieht sich dort mit der These konfrontiert, die Kindheit sei das Ungeheuer und die Komplizin der Philosophen, da sie ihnen sage, "daß der Geist nicht gegeben ist, aber zugleich, daß er möglich sei". Das kindliche Wesen muß also erst durch das, was Lyotard den philosophischen Gang (cours) nennt, zur geistigen Blüte "reformiert" werden. Gemeint ist damit kein festgelegtes Curriculum, sondern ein Prozeß des Fragenstellens, der immer von neuem der eigenen Mitte entspringen soll.
Lyotards Briefe sind Monologe, die nur am Rande auf die Fragen der Kinder eingehen; sie kommentieren aktuelle und frühere Lesefrüchte und umkreisen Debatten, in die der Autor verstrickt ist - vor allem die Themen Postmoderne und Totalitarismus. Immer auf der Suche nach dem Nichtidentischen, scheut sich Lyotard, Klartext zu reden, sieht man einmal von seiner These ab, das Projekt einer fortschreitenden Emanzipation der Menschheit sei nichts als ein Märchen und damit gescheitert. Die zunehmende Komplexität des Lebens verlange "Widerstand gegen den Simplismus, gegen die vereinfachenden Slogans und gegen das Verlangen nach Klarheit und Leichtigkeit, gegen den Wunsch nach Wiederherstellung sicherer Werte". Vereinfachung sei barbarisch und reaktionär. Was aber kann verwirrender sein als eine Totalitarismuskritik, die - von ihrem Gegenstand infiziert - selbst totalitär geworden ist und überall (außer bei sich) nur noch Unfreiheit und Vereinnahmung wittert? Die Angst vor der Banalität, der Unglaube, etwas könne einfach sein und dargestellt werden, macht diese Briefe allenfalls zu einem Lesevergnügen für Erwachsene, die Texte lieber erahnen als verstehen.
Nora K. / Vittorio Hösle: "Das Café der toten Philosophen". Ein philosophischer Briefwechsel für Kinder und Erwachsene. Verlag C. H. Beck, München 1996. 257 S., geb., 34,- DM.
Jean-François Lyotard: "Postmoderne für Kinder". Briefe aus den Jahren 1982 - 1985. Aus dem Französischen von Dorothea Schmidt unter Mitarbeit von Christine Pries. Passagen Verlag, Wien 1996. 137 S., br., 28,- DM.
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