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In der nahen Zukunft: Antar, ein ägyptischer Teleworker in New York, stellt Nachforschungen über das Schicksal seines verschollenen Kollegen Murugan an. Der war 1995 zu einer umstrittenen Mission nach Kalkutta aufgebrochen, um vor Ort zu beweisen, daß fast hundert Jahre zuvor nicht alles mit rechten Dingen zugegangen war, als der Nobelpreisträger Sir Robert Moss den Malaria-Erreger entdeckte.

Produktbeschreibung
In der nahen Zukunft: Antar, ein ägyptischer Teleworker in New York, stellt Nachforschungen über das Schicksal seines verschollenen Kollegen Murugan an. Der war 1995 zu einer umstrittenen Mission nach Kalkutta aufgebrochen, um vor Ort zu beweisen, daß fast hundert Jahre zuvor nicht alles mit rechten Dingen zugegangen war, als der Nobelpreisträger Sir Robert Moss den Malaria-Erreger entdeckte.
Autorenporträt
Amitav Ghosh, wurde 1956 in Kalkutta geboren und studierte Geschichte und Sozialanthropologie in Neu-Delhi. Nach seiner Promotion in Oxford unterrichtete er an verschiedenen Universitäten Indiens und Amerikas. Ghosh lebt mit seiner Frau und seinen zwei Kindern in New York, verbringt jedoch jedes Jahr mehrere Monate in Indien.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 18.04.1997

Moskitos der Ewigkeit
Macht Malaria unsterblich? Amitav Ghoshs Chromosomenforschung

Der indische Romancier und Sozialanthropologe Amitav Ghosh hat sich in die Rolle eines Großschriftstellers hineingeschrieben. Sein dritter Roman "Das Calcutta Chromosom" erschien letztes Jahr gleichzeitig in New York, London und Neu-Delhi, und die deutsche Übersetzung folgte nur wenige Monate später. Ghoshs Lebensrahmen ist von Anfang an auf Internationalität angelegt. Er wurde in Kalkutta geboren, wuchs in Dhaka, Colombo und Kalkutta auf, er studierte in Delhi und Oxford, betrieb Feldforschung in Ägypten, unterrichtete Sozialanthropologie zunächst in Delhi und folgte dann einem Ruf an die Columbia-Universität in New York, wo er heute mit seiner Familie lebt. Ist er noch ein indischer Autor? Bezeichnenderweise vermerkt die Titelseite seines letzten Buches: "Aus dem Amerikanischen übersetzt". Noch spürt man in Ghoshs Texten nicht die Wehmut der Heimatlosigkeit; seine Bücher reflektieren im Gegenteil den Zuwachs an Erlebnisfrische und Originalität, den im Glücksfall ein solcher kulturenüberspannender Lebensrahmen vermittelt; sie empfangen ihre Spannung und Dichte aus dem Gegenüber unterschiedlicher kultureller Milieus.

Amitav Ghosh begann als Wunderkind der anglo-indischen Literatur mit dem ausufernd amorphen Roman "Bengalisches Feuer oder Die Macht der Vernunft", den er mit dreißig Jahren veröffentlichte. Zweierlei bewies Ghosh schon damals: daß er ein hinreißender Erzähler ist und daß er eine überquellende Phantasie besitzt, die ihn manchmal zur Phantastik treibt. In "Schattenlinien", seinem zweiten Roman und Meisterwerk, entwickelte er seinen Stil von der charakteristisch indischen epischen Breite zu einer disziplinierten Form. Die Handlung springt zwischen Ghoshs Geburtsort Kalkutta und England hin und her.

Auch "Das Calcutta Chromosom" liebt die raschen, knappen, filmschnittartigen Wechsel von einem kulturellen Milieu zum anderen. Die Handlung spielt in New York und Kalkutta; eingestreut sind Episoden in Südindien und Ägypten. Ghosh erzählt auf drei Zeitebenen. Da ist der Ägypter Antar, der in einer Zeit der nahen Zukunft in New York als Angestellter einer internationalen Organisation an einem nahezu allwissenden Computer sitzt und dem Inder Murugan auf der Spur ist. Murugan ist 1995 unter mysteriösen Umständen in Kalkutta verschollen. Er war besessen von dem Wunsch, die Rätsel aufzudecken, welche die Geschichte der Malaria-Forschung umgeben. Seine Forschung führt uns zurück in die Zeit der Jahrhundertwende, als der Engländer Ronald Ross in einem Laboratorium in Kalkutta entdeckte, auf welche Weise Malaria von Moskitos auf den Menschen übertragen wird, wofür er einige Jahre später den Nobelpreis erhielt. Murugan reiste selbst nach Kalkutta, um seine eigenen Hypothesen über die Malaria-Forschung nachzuprüfen.

Das ist nur das Gerippe eines kompliziert verschachtelten Plots, der den Leser von der ersten Seite an in Atem hält. Der Untertitel der Originalausgabe, den die deutsche Übersetzung unterdrückt, lautet übersetzt: "Ein Roman über Fieberanfälle, Delirium und Entdeckung". Er charakterisiert den paradoxen Dschungel der Handlung, der tropisch wuchernd nach uns zu greifen scheint. Zur Handlung gehören die episodenhafte Nacherzählung der Malaria-Forschung bis zu Ross' Durchbruch, ein uralter bengalischer Dichter Phulboni, die bengalische Filmschauspielerin Sonali, ihr Freund Romen Haldar und ihre jüngere Freundin Urmila, die Besitzerin einer kleinen Pension, Frau Aratounian. Sie alle sind Schachfiguren eines Spiels, das keineswegs nur die Überwindung der Malaria zum Ziel hat, sondern ein Programm ganz anderer Größenordnung verfolgt, nämlich, in Murugans Worten, eine "Technologie für interpersonelle Transferenz", oder noch phantastischer: die Erlangung der "Unsterblichkeit".

Unter dem Deckmantel der Malaria-Forschung versucht eine obskure, der Magie und dem Verbrechen verfallene Gruppe, das "Calcutta Chromosom" zu entdecken: ein Chromosom, das von einem Körper in einen anderen transferiert wird, um auf diese Weise die personale Struktur eines Menschen in anderen Körpern zu perpetuieren. Gewiß ein aktuelles Thema im Zeitalter der Gentechnologie. Dementsprechend begegnen wir einem Laboranten Lutchman um die Jahrhundertwende, der Ronald Ross für seine Zwecke benutzte, der aber als Laakhan auf der Zeitebene, in der Murugan und Antar agieren, wiederauftaucht. Ist er also ein Prototyp jenes "neuen" Menschen, der durch die Übertragung von Chromosomen von Körper zu Körper "unsterblich" geworden ist? Murugan ist hinter der Technik dieser Übertragung her, über die er einiges weiß und noch mehr vermutet. Sich von Spekulation zu Spekulation hangelnd, richtet er ein verwegenes Gedankengebäude auf und muß schließlich den Preis für seine Wißbegier bezahlen: Er wird in die Aktivitäten jener Menschen, die den lieben Gott spielen, hineingezogen.

Der Umschlagtext erwähnt die Verknüpfung von westlichen Naturwissenschaften und östlicher Mystik. Gewiß hat die Technologie für interpersonelle Transferenz Ähnlichkeit mit den Inkarnationstheorien des Hinduismus und Buddhismus. Die magischen Riten, in die wir durch ein Schlüsselloch Einblick erhalten, erinnern an Tantra. Der spekulative Gedankenbau und die vielschichtige Struktur des Romans, der sich aus einer irrwitzigen Kette unwahrscheinlicher Zufälle zusammensetzt, versuchen offenbar die Maxime der indischen Philosophie zu demonstrieren, daß "alles mit allem zusammenhängt". Der erfahrene Leser spürt jedoch schnell, daß Amitav Ghoshs mystisches Einfühlungsvermögen begrenzt ist. Die Darstellungen verdichten sich nicht atmosphärisch, sie bleiben konstruiert. Welch ein Unterschied etwa zu den Erzählungen von Mircea Eliade, zum Beispiel "Nächte in Serampore", die indische Mystik auf eine Weise in den modernen Alltag hineinstellen, die unter die Haut geht.

Allerdings gelingt Amitav Ghosh ein medizinischer Thriller, der rasant und oft grotesk-humorvoll erzählt ist und glänzende Milieuschilderungen des Lebens in New York und in Kalkutta bietet. Die Handlung des Romans verwirrt sich jedoch zusehends zu einem Knäuel von Spekulationen und Zufällen, so daß dem Leser immer mehr Fäden aus den Fingern gleiten und er den Überblick verliert. Also doch wieder die amorph-ausufernde Form? Oder eher ein postmoderner Roman bizarrer Beliebigkeiten, bei dem lose Handlungsstränge und zusammenhanglose Episoden völlig in Ordnung sind, weil auf irgendeiner höheren Ebene doch "alles mit allem zusammenhängt"?

Das vorletzte Buch, das Amitav Ghosh vorlegte, das Sachbuch "In einem alten Land" (1995), beschreibt seinen Forschungsaufenthalt in einem ägyptischen Dorf, in dem er anhand von Manuskripten die Spuren eines arabischen Kaufmanns des Mittelalters durch Südindien und Ägypten verfolgt. Auch hier verband der Autor historische Erzählung mit der Darstellung des vielfältigen Lebens, das ihn umgab. Es gelang ihm überzeugender als in seinem neuen Roman. MARTIN KÄMPCHEN

Amitav Ghosh: "Das Calcutta Chromosom". Roman. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Martina Tichy. Karl Blessing Verlag, München, 1996. 286 S., geb., 39,50 DM.

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