Das demokratische Zeitalter ist die erste umfassende Studie des politischen Denkens in Europa, die den ganzen Kontinent in den Blick nimmt und die Vorgeschichte des heute vieldiskutierten postdemokratischen Status quo liefert, ohne die sich dieser nicht verstehen lässt. Sie setzt 1918 ein und reicht bis zum Zusammenbruch der realsozialistischen Staaten Osteuropas Ende der 1980er Jahre. In einer meisterhaften Mischung aus Geistes- und Kulturgeschichte zeichnet Jan-Werner Müller nach, welche politischen Ideen und Köpfe das Zeitalter der ideologischen Extreme bis 1945 geformt und welche das Schicksal Europas danach maßgeblich bestimmt haben.
»Müllers Überblick über die politische Ideengeschichte Europas im 20. Jahrhundert behandelt eine schier unerschöpfliche Bandbreite an Intellektuellen, Ideologien und politischen Theorien. ... Ihm gelingt es dabei in seiner klar strukturierten, von stupendem Wissen geprägten und zugleich lesbaren intellektuellen tour de force, komplizierte intellektuelle Zusammenhänge verständlich zu machen und gedanklich zusammenzufassen.« Jasper M. Trautsch Archiv für Sozialgeschichte 20140414
Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Schön, wie der Autor, ein Ideenhistoriker immerhin, die Klippen einer immer schon sukzessive Lernprozesse voraussetzenden Wissenschaft umschifft, meint Herfried Münkler in seiner Besprechung von Jan-Werner Müllers Reise durch die Geschichte des politischen Denkens im 20. Jahrhundert. Dass Müller stattdessen von einer permanenten Suchbewegung ausgeht, scheint Münkler nicht nur ein gelungener Gegenentwurf zu Francis Fukuyamas bekannter These zu sein, sondern auch eine adäquate Beschreibung für das unscharf konturierte liberaldemokratische Politikmodell, zu dem totalitäre Bewegungen, aber auch eine starke politische Zuversicht gehören, wie Münkler, hiermit dem Autor zustimmend, erklärt. Wenn ihm auch Müllers Gewichtungen nicht immer einleuchten (1914 als Beschleuniger demokratischer Bewegungen hätte Münkler stärker hervorgehoben), so sieht er in dem Band doch eine pointierte Darstellung der Thematik.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 12.03.2013Zeichen im Deckengemälde
Jan-Werner Müller, der „shooting star“ in der amerikanischen Ideengeschichte, erklärt die Demokratie des zwanzigsten Jahrhunderts
Was sich im Rückblick als Geschichte dargestellt findet, ist für die meisten Zeitgenossen des Geschehens das Rauschen einer unübersehbaren Fülle von Ereignissen.
Um in diesem Gemurmel überhaupt Signale vernehmen zu können, braucht jede Geschichtsschreibung auswählende Filter. Sie steuern die Beobachtung, machen Prozesse sichtbar und gestatten die Erfassung geschichtlicher Zusammenhänge. Für den deutschen Politologen Jan-Werner Müller, der politische Theorie an der Universität Princeton lehrt, liefert die politische Ideengeschichte einen solchen Filter. Ihr verdankt er sein methodisches Besteck, sie definiert seine Themen und sorgt also für die Konzentration auf diejenigen Vorstellungen und Konzepte, die zur Legitimation politischer Herrschaft im Zwanzigsten Jahrhundert beigetragen haben.
Doch bezeichnet politische Ideengeschichte in den Vereinigten Staaten nicht bloß eine Disziplin, die den Wandel von Ideen erforscht, die als politisch gelten, weil sie als Organisationsprinzipien politischer Praxis wirksam geworden sind. An den Universitäten jenseits des Atlantiks oblag und obliegt dem Fach die weiter gefasste Aufgabe, „intellectual history“ zu treiben. Unter Ideen versteht diese intellectual history nicht abstrakte und selbständige Geistesgebilde, die womöglich einer dem Rest der Kultur gegenüber eigensinnigen Logik folgen. Vielmehr werden die Ideen auf kulturelle Kontexte bezogen, die prägend sowohl für das Aufkommen bestimmter Überzeugungen als auch für deren Wirkungsgeschichte waren.
Auf den Spuren dieser US-amerikanischen Tradition, die in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts entstand, hat Jan-Werner Müller, der zuvor durch eine in Großbritannien erarbeitete Studie über Carl Schmitt hervorgetreten war, bereits vor zwei Jahren einen viel beachteten ideenhistorischen Essay veröffentlicht. Unter dem Titel „Contesting Democracy“ präsentierte die Studie einer englischsprachigen Leserschaft die für das demokratische Europa des Zwanzigsten Jahrhunderts signifikanten politischen Ideen in komprimierter Gestalt. Sie bietet keine Sammlung detaillierter Einzeluntersuchungen, sondern ein weit gespanntes Deckengemälde, das in kühner Ambition die großen Linien und die intellektuellen Protagonisten der politischen Entwicklungen erfasst, die sich sowohl im Westen wie im Osten des Kontinents abgespielt haben. Dabei lautet die den Ansatz des Buches bestimmende Behauptung, dass sich in der Spanne zwischen dem Ende des Ersten Weltkrieges und dem Untergang der Sowjetunion eine Epoche aufgetan hat, „in der der Streit um das wahre Wesen der Demokratie im Mittelpunkt der politischen Auseinandersetzung stand“.
Dieser Perspektive trägt die jetzt vorliegende und gut lesbare deutsche Übersetzung von Müllers historischer Erzählung Rechnung, indem sie „Das demokratische Zeitalter“ betitelt wurde. Was dieses Zeitalter ausmacht, sucht der Politikwissenschaftler in einer zeithistorischen Situation zu sondieren, die nach 1989 ein erstes Resümee gestattet.
Nun ließe sich selbstverständlich sofort zurückfragen, ob es sinnvoll ist, einem derart facettenreichen historischen Phänomen wie der Demokratie „ein wahres Wesen“ (so Müller) zuzuschreiben. Auch kann man bezweifeln, ob sich das Feld der politischen Konflikte in den sieben Jahrzehnten zwischen 1919 und 1989 angemessen als eine Kontroverse um Wesensbestimmungen der Demokratie rekonstruieren lässt. Doch besitzt Müller bei all seiner stupenden Belesenheit und Sachkenntnis den Mut zu großflächigen Schematisierungen.
Zum Vorteil seiner Leser organisieren diese Rahmungen den Reichtum seines – für einen einzelnen Historiker ja kaum überschaubaren – geschichtlichen Materials. Im Übrigen sprechen gewichtige Indizien wie etwa gravierende Verfassungsänderungen und einschneidende Wahlrechtsreformen durchaus dafür, dass die Grundfrage nach neuen Formen politischer Teilhabe sowohl durch den Ausgang des Ersten Weltkrieges als auch durch die russische Oktoberrevolution auf die Tagesordnungen europäischer Politik geriet. Jedenfalls hört Müller auf die immer wiederkehrende Problematik: wie das Recht auf demokratische Partizipation institutionell gesichert, erweitert und vertieft werden kann. Der Generalbass, den Müller festhält: das ist die ideengeschichtliche Evolution, mit der sich sein Deutungsversuch beschäftigt. Daher heißt politische Ideengeschichte für ihn, den unterschiedlichen, mitunter geradezu gegenstrebigen Konzepten und Ideologien nachzugehen, die seit der Zwischenkriegszeit und bis in unsere Gegenwart hinein zur Etablierung und Ausformung des westeuropäischen Typus demokratischer Wohlfahrtstaatlichkeit beigetragen haben.
Faktisch schreibt Müller eine Problem- und Bewusstseinsgeschichte der sich demokratisierenden Demokratien in Europa.
Müller zeigt insbesondere, dass sich die nach 1945 geschaffenen demokratischen Gemeinwesen in einer doppelten Suchbewegung ihre Konturen gaben. Sie stoßen sich von faschistischen respektive nationalsozialistischen Vergangenheiten ab, andererseits aber auch von den realsozialistischen Großexperimenten in Mittel- und Osteuropa. Der Befund ist als solcher nicht eben originell, freilich überzeugt Müllers Schlussfolgerung, dass sich aus dieser Konstellation eine für die westeuropäischen Demokratien bezeichnende Skepsis gegenüber „der totalitären Vorstellung der uneingeschränkten historischen Handlungsmöglichkeiten von Kollektivsubjekten“ ergeben hat. Alle Demokratien im Westen und Süden des europäischen Kontinents misstrauen ungezügelter Volkssouveränität. Deshalb handelt es sich um repräsentativ-demokratische Gemeinwesen, die das dynamisierende Potenzial demokratischer Teilhabe durch nicht-wählbare Institutionen, etwa durch Verfassungsgerichte und Verwaltungsapparate, einhegen.
Noch die Bereitschaft im Kontext der europäischen Einigung nationalstaatliche Souveränität an transnationale Regierungsorganisationen abzutreten, mithin eklatante Demokratiedefizite in Kauf zu nehmen, führt Müller auf die geschichtlichen Lektionen zurück, die Europa angesichts seiner Erfahrungen mit links- und rechtstotalitären Regimes absolvieren musste. Auch die neben der europäischen Vergemeinschaftung zweite wichtigste „Nachkriegsinnovation“, den europäischen Wohlfahrtsstaat nämlich, erklärt er aus einem verwandten Zivilisierungsmotiv: Dass sich Staat und Verwaltung nicht nur um die Freiheiten ihrer Bürgerinnen und Bürger sorgten, sondern in diese Sorge deren materielle Bedürfnisse einbezogen, sollte „einen Rückfall in den Faschismus verhindern“. Der durch Wohlstandsverteilung und Transferleistungen garantierten sozialen Sicherheit korrespondierte in den entstehenden nivellierten Mittelstandsgesellschaften dann eine politische Kultur, die „Gelassenheit“ im Urteil als politische Tugend prämierte. Der Aufheizung politischer Affekte und extremistischer Neigungen war der Zufluss entzogen.
Moderne Gesellschaft über Sekuritätsgarantien und eine Form demokratischer Repräsentation zu stabilisieren, die plebiszitäre oder gar rätedemokratische Impulse neutralisiert, ist die geschichtliche Leistung, die Müller der europäischen Christdemokratie mit ihrem katholischen Personalismus und nachdrücklichem Antikommunismus bescheinigt. Gegen die solchermaßen formierte, in ihrem illiberalen Paternalismus durchaus auch patriarchalisch-autoritär eingefärbte Wohlfahrtsstaatlichkeit machte die Bewegung der 68ziger Front. Müller porträtiert sie als einen primär kulturellen Aufbruch, der das institutionelle Gefüge der westeuropäischen Wohlfahrtsstaatlichkeit trotz sozialrevolutionärer Rhetorik nicht angetastet hat, die aber doch am Ende zu weiterer Demokratisierung führte, nicht zuletzt zu einem Schub der Frauenemanzipation.
Wirklich bedrohlich für die soziale Textur und die institutionellen Arrangements der Wohlfahrtsgesellschaften ist nach Müllers abschließender Einschätzung der Neoliberalismus. So berechtigt Bedenken gegen Überdehnungen der Leistungsfähigkeit des Wohlfahrtsstaats sein mögen, verkennt der Neoliberalismus nicht nur, dass Märkte ein politisches Apriori haben und brauchen, sondern auch, dass die marktradikale Entgrenzung des individuellen Egoismus die gesellschaftlichen Voraussetzungen der Demokratie als politischer Form zerstört. Diese Liberalisierung könnte das Ende des demokratischen Zeitalters sein.
MARTIN BAUER
Jan-Werner Müller: Das demokratische Zeitalter. Eine politische Ideengeschichte im 20. Jahrhundert. Aus dem Englischen von Michael Adrian. Suhrkamp, Berlin 2013. 509 Seiten, 39,95 Euro.
Was ist es, was macht es aus:
Das wahre Wesen
der Demokratie?
Der Marktradikalismus
zerstört die demokratische
Kultur, sagt Jan-Werner Müller
Der Berliner Bundestag sollte eine demokratische Antwort sein auf den früheren, wohlfahrtsstaatlichen Paternalismus. Licht und offen wurde er konzipiert, zugänglch für alle interessierten Bürger.
FOTO: GERHARD WESTRICH/LAIF
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Jan-Werner Müller, der „shooting star“ in der amerikanischen Ideengeschichte, erklärt die Demokratie des zwanzigsten Jahrhunderts
Was sich im Rückblick als Geschichte dargestellt findet, ist für die meisten Zeitgenossen des Geschehens das Rauschen einer unübersehbaren Fülle von Ereignissen.
Um in diesem Gemurmel überhaupt Signale vernehmen zu können, braucht jede Geschichtsschreibung auswählende Filter. Sie steuern die Beobachtung, machen Prozesse sichtbar und gestatten die Erfassung geschichtlicher Zusammenhänge. Für den deutschen Politologen Jan-Werner Müller, der politische Theorie an der Universität Princeton lehrt, liefert die politische Ideengeschichte einen solchen Filter. Ihr verdankt er sein methodisches Besteck, sie definiert seine Themen und sorgt also für die Konzentration auf diejenigen Vorstellungen und Konzepte, die zur Legitimation politischer Herrschaft im Zwanzigsten Jahrhundert beigetragen haben.
Doch bezeichnet politische Ideengeschichte in den Vereinigten Staaten nicht bloß eine Disziplin, die den Wandel von Ideen erforscht, die als politisch gelten, weil sie als Organisationsprinzipien politischer Praxis wirksam geworden sind. An den Universitäten jenseits des Atlantiks oblag und obliegt dem Fach die weiter gefasste Aufgabe, „intellectual history“ zu treiben. Unter Ideen versteht diese intellectual history nicht abstrakte und selbständige Geistesgebilde, die womöglich einer dem Rest der Kultur gegenüber eigensinnigen Logik folgen. Vielmehr werden die Ideen auf kulturelle Kontexte bezogen, die prägend sowohl für das Aufkommen bestimmter Überzeugungen als auch für deren Wirkungsgeschichte waren.
Auf den Spuren dieser US-amerikanischen Tradition, die in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts entstand, hat Jan-Werner Müller, der zuvor durch eine in Großbritannien erarbeitete Studie über Carl Schmitt hervorgetreten war, bereits vor zwei Jahren einen viel beachteten ideenhistorischen Essay veröffentlicht. Unter dem Titel „Contesting Democracy“ präsentierte die Studie einer englischsprachigen Leserschaft die für das demokratische Europa des Zwanzigsten Jahrhunderts signifikanten politischen Ideen in komprimierter Gestalt. Sie bietet keine Sammlung detaillierter Einzeluntersuchungen, sondern ein weit gespanntes Deckengemälde, das in kühner Ambition die großen Linien und die intellektuellen Protagonisten der politischen Entwicklungen erfasst, die sich sowohl im Westen wie im Osten des Kontinents abgespielt haben. Dabei lautet die den Ansatz des Buches bestimmende Behauptung, dass sich in der Spanne zwischen dem Ende des Ersten Weltkrieges und dem Untergang der Sowjetunion eine Epoche aufgetan hat, „in der der Streit um das wahre Wesen der Demokratie im Mittelpunkt der politischen Auseinandersetzung stand“.
Dieser Perspektive trägt die jetzt vorliegende und gut lesbare deutsche Übersetzung von Müllers historischer Erzählung Rechnung, indem sie „Das demokratische Zeitalter“ betitelt wurde. Was dieses Zeitalter ausmacht, sucht der Politikwissenschaftler in einer zeithistorischen Situation zu sondieren, die nach 1989 ein erstes Resümee gestattet.
Nun ließe sich selbstverständlich sofort zurückfragen, ob es sinnvoll ist, einem derart facettenreichen historischen Phänomen wie der Demokratie „ein wahres Wesen“ (so Müller) zuzuschreiben. Auch kann man bezweifeln, ob sich das Feld der politischen Konflikte in den sieben Jahrzehnten zwischen 1919 und 1989 angemessen als eine Kontroverse um Wesensbestimmungen der Demokratie rekonstruieren lässt. Doch besitzt Müller bei all seiner stupenden Belesenheit und Sachkenntnis den Mut zu großflächigen Schematisierungen.
Zum Vorteil seiner Leser organisieren diese Rahmungen den Reichtum seines – für einen einzelnen Historiker ja kaum überschaubaren – geschichtlichen Materials. Im Übrigen sprechen gewichtige Indizien wie etwa gravierende Verfassungsänderungen und einschneidende Wahlrechtsreformen durchaus dafür, dass die Grundfrage nach neuen Formen politischer Teilhabe sowohl durch den Ausgang des Ersten Weltkrieges als auch durch die russische Oktoberrevolution auf die Tagesordnungen europäischer Politik geriet. Jedenfalls hört Müller auf die immer wiederkehrende Problematik: wie das Recht auf demokratische Partizipation institutionell gesichert, erweitert und vertieft werden kann. Der Generalbass, den Müller festhält: das ist die ideengeschichtliche Evolution, mit der sich sein Deutungsversuch beschäftigt. Daher heißt politische Ideengeschichte für ihn, den unterschiedlichen, mitunter geradezu gegenstrebigen Konzepten und Ideologien nachzugehen, die seit der Zwischenkriegszeit und bis in unsere Gegenwart hinein zur Etablierung und Ausformung des westeuropäischen Typus demokratischer Wohlfahrtstaatlichkeit beigetragen haben.
Faktisch schreibt Müller eine Problem- und Bewusstseinsgeschichte der sich demokratisierenden Demokratien in Europa.
Müller zeigt insbesondere, dass sich die nach 1945 geschaffenen demokratischen Gemeinwesen in einer doppelten Suchbewegung ihre Konturen gaben. Sie stoßen sich von faschistischen respektive nationalsozialistischen Vergangenheiten ab, andererseits aber auch von den realsozialistischen Großexperimenten in Mittel- und Osteuropa. Der Befund ist als solcher nicht eben originell, freilich überzeugt Müllers Schlussfolgerung, dass sich aus dieser Konstellation eine für die westeuropäischen Demokratien bezeichnende Skepsis gegenüber „der totalitären Vorstellung der uneingeschränkten historischen Handlungsmöglichkeiten von Kollektivsubjekten“ ergeben hat. Alle Demokratien im Westen und Süden des europäischen Kontinents misstrauen ungezügelter Volkssouveränität. Deshalb handelt es sich um repräsentativ-demokratische Gemeinwesen, die das dynamisierende Potenzial demokratischer Teilhabe durch nicht-wählbare Institutionen, etwa durch Verfassungsgerichte und Verwaltungsapparate, einhegen.
Noch die Bereitschaft im Kontext der europäischen Einigung nationalstaatliche Souveränität an transnationale Regierungsorganisationen abzutreten, mithin eklatante Demokratiedefizite in Kauf zu nehmen, führt Müller auf die geschichtlichen Lektionen zurück, die Europa angesichts seiner Erfahrungen mit links- und rechtstotalitären Regimes absolvieren musste. Auch die neben der europäischen Vergemeinschaftung zweite wichtigste „Nachkriegsinnovation“, den europäischen Wohlfahrtsstaat nämlich, erklärt er aus einem verwandten Zivilisierungsmotiv: Dass sich Staat und Verwaltung nicht nur um die Freiheiten ihrer Bürgerinnen und Bürger sorgten, sondern in diese Sorge deren materielle Bedürfnisse einbezogen, sollte „einen Rückfall in den Faschismus verhindern“. Der durch Wohlstandsverteilung und Transferleistungen garantierten sozialen Sicherheit korrespondierte in den entstehenden nivellierten Mittelstandsgesellschaften dann eine politische Kultur, die „Gelassenheit“ im Urteil als politische Tugend prämierte. Der Aufheizung politischer Affekte und extremistischer Neigungen war der Zufluss entzogen.
Moderne Gesellschaft über Sekuritätsgarantien und eine Form demokratischer Repräsentation zu stabilisieren, die plebiszitäre oder gar rätedemokratische Impulse neutralisiert, ist die geschichtliche Leistung, die Müller der europäischen Christdemokratie mit ihrem katholischen Personalismus und nachdrücklichem Antikommunismus bescheinigt. Gegen die solchermaßen formierte, in ihrem illiberalen Paternalismus durchaus auch patriarchalisch-autoritär eingefärbte Wohlfahrtsstaatlichkeit machte die Bewegung der 68ziger Front. Müller porträtiert sie als einen primär kulturellen Aufbruch, der das institutionelle Gefüge der westeuropäischen Wohlfahrtsstaatlichkeit trotz sozialrevolutionärer Rhetorik nicht angetastet hat, die aber doch am Ende zu weiterer Demokratisierung führte, nicht zuletzt zu einem Schub der Frauenemanzipation.
Wirklich bedrohlich für die soziale Textur und die institutionellen Arrangements der Wohlfahrtsgesellschaften ist nach Müllers abschließender Einschätzung der Neoliberalismus. So berechtigt Bedenken gegen Überdehnungen der Leistungsfähigkeit des Wohlfahrtsstaats sein mögen, verkennt der Neoliberalismus nicht nur, dass Märkte ein politisches Apriori haben und brauchen, sondern auch, dass die marktradikale Entgrenzung des individuellen Egoismus die gesellschaftlichen Voraussetzungen der Demokratie als politischer Form zerstört. Diese Liberalisierung könnte das Ende des demokratischen Zeitalters sein.
MARTIN BAUER
Jan-Werner Müller: Das demokratische Zeitalter. Eine politische Ideengeschichte im 20. Jahrhundert. Aus dem Englischen von Michael Adrian. Suhrkamp, Berlin 2013. 509 Seiten, 39,95 Euro.
Was ist es, was macht es aus:
Das wahre Wesen
der Demokratie?
Der Marktradikalismus
zerstört die demokratische
Kultur, sagt Jan-Werner Müller
Der Berliner Bundestag sollte eine demokratische Antwort sein auf den früheren, wohlfahrtsstaatlichen Paternalismus. Licht und offen wurde er konzipiert, zugänglch für alle interessierten Bürger.
FOTO: GERHARD WESTRICH/LAIF
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