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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.01.1997

Wem gehört das Jahrhundert?
Deutsch oder nicht: Jäckels historische Bilanz hat einen hohen Rang

Eberhard Jäckel: Das deutsche Jahrhundert. Eine historische Bilanz. Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 1996. 368 Seiten, 87 Abbildungen, 49,80 Mark.

Warum dieser Titel? Das Buch beginnt mit einer Unterhaltung zwischen Raymond Aron, einem französischen Soziologen, der in Deutschland studiert hatte, und dem in Breslau geborenen, schon in den dreißiger Jahren aus der Heimat vertriebenen, heute amerikanischen Historiker Fritz Stern. Aron bemerkte 1979 in Berlin melancholisch gegenüber Fritz Stern, das 20. Jahrhundert hätte Deutschlands Jahrhundert sein können. Stern gab ihm recht: In der Geschichte des modernen Europa habe es immer ein Land gegeben, nacheinander Spanien, Frankreich, Holland, Großbritannien, das ein Zeitalter nicht nur beherrschte, sondern prägte. "So konnte man am Anfang des Jahrhunderts erwarten, daß Deutschland einen solchen Vorrang erreichen würde." Jäckel fährt fort, es sei kein Widerspruch, sondern im gleichen Sinne gemeint, wenn sein Buchtitel sage: "Es war das deutsche Jahrhundert. Kein anderes Land hat Europa und der Welt im 20. Jahrhundert so tief seinen Stempel eingebrannt wie Deutschland."

Das läßt sich bezweifeln, und Jäckel selbst zögert offensichtlich bei dieser Behauptung. Er hält für möglich, daß man das 20. Jahrhundert auch das russische, mit noch größerem Recht das amerikanische nennen könne. In der Tat. War unser Jahrhundert nicht geprägt vom Aufstieg der Vereinigten Staaten zur schließlich einzigen Weltmacht? Auch vom Siegeszug der amerikanischen Zivilisation und Kultur, vom Hamburger bis Hollywood? Vermutlich glaubt Jäckel, die von ihm wiederholt betonte Einzigartigkeit der Judenvernichtung rechtfertige seinen Titel. Aber ist das so? Man braucht nur an die unerhörten Massenverbrechen des Stalinismus zu denken oder an die millionenfach umgebrachten Grundbesitzer beim Sieg der chinesischen Kommunisten, man muß sich Kambodscha, auch Serbien oder Ruanda stellvertretend für alle Schauplätze des Grauens vor Augen halten, um zu erkennen, daß das 20. Jahrhundert in vielen Erdteilen eine Phase bis dahin unbekannter, unerhörter Ausrottungsaktionen gewesen ist. Und was ist mit den Kriegen? Die moderne Technik hat auch sie weltweit brutalisiert, unschuldige Frauen und Kinder zu Tausenden, zu Millionen dahingerafft.

Erst recht kann, obwohl Jäckel das Gegenteil meint, deutsches Großmachtstreben nicht als einzigartig gelten, wie der verbreitete Imperialismus des Jahrhundertanfangs, später der jahrzehntelange Siegeszug der Sowjetunion beweist. Wenn die Hitlerzeit, wie Meinungsumfragen zeigten, wirft Jäckel ein, der wichtigste historische Bezugspunkt der Deutschen sei, auch das Ausland uns noch immer vorwiegend unter diesem Gesichtspunkt betrachte, sei zumindest in dieser Hinsicht "das deutsche Jahrhundert" noch nicht zu Ende. Ich weiß nicht. Wie man es auch dreht und wendet: Die beschämenden zwölf Jahre waren nicht das Jahrhundert, und es war überhaupt nicht das unsere, weder im Guten noch im Bösen.

Aber der Einwand, der Buchtitel sei irreführend, ist marginal. Nicht auf ihn, sondern auf den Inhalt des Buches, das eine eindrucksvolle Bilanz Deutschlands in unserem Jahrhundert ist, kommt es an. Jede Seite, zumal in den ersten zwei Dritteln des Bandes, zeugt von der großen Kennerschaft Jäckels. Es handelt sich um eine gelungene Zusammenfassung, wie der Autor schreibt, "fast lebenslanger Bemühungen". Resolut wird gleich eingangs die These von einem deutschen Sonderweg abgelehnt. Schon der Begriff sei fragwürdig, weil er eine Norm unterstelle, der Deutschland hätte entsprechen müssen. In Wahrheit seien aber alle Nationen immer ihre eigenen Wege gegangen. Jäckel hält es auch für falsch, das Kaiserreich schwarz in schwarz zu malen. Nachdrücklich betont er, Deutschland sei schon am Beginn des Jahrhunderts ein Rechtsstaat, ein Verfassungsstaat gewesen, beinahe eine parlamentarische Demokratie. Ein allgemeines Wahlrecht für Männer sei damals "noch durchaus ungewöhnlich", das Deutsche Reich in dieser Hinsicht der allgemeinen Entwicklung, selbst England, dem Mutterland der Demokratie, voraus gewesen. Wilhelm II., oft als Inkarnation des Bösen, als Kriegstreiber betrachtet, wird zurückgestutzt: Er habe eher zu den bellenden Hunden gehört, die nicht beißen. Keine der wichtigen Entscheidungen, auch nicht jene, die 1914 zum Kriege führten, sei von ihm maßgeblich bestimmt worden. Noch in der Monarchie, gegen Ende des Ersten Weltkrieges, und zwar schon 1917 bei Hertlings Ernennung zum Reichskanzler, nicht erst im folgenden Jahr mit Max von Baden, sei die Parlamentisierung Deutschlands faktisch durchgesetzt worden.

Auch für Jäckel ist der Erste Weltkrieg die "Urkatastrophe" des Jahrhunderts, ein "grauenerregender Fehler", von der Außen-, nicht der Innenpolitik bedingt. Diese bestimmte Weimar. Nach der Niederlage 1918 war das eigentliche Thema nach Jäckels Überzeugung weder die Überwindung von Versailles noch der Aufstieg Hitlers, sondern der Kampf um die Staatsgewalt unter den neuen, vom Krieg geschaffenen Voraussetzungen.

Schon vor 1914 hatte es jahrzehntelang eine kontinuierliche Entwicklung weg von den Parteien der Rechten, den Konservativen und Nationalliberalen, hin zu den Parteien der linken Mitte, der SPD, dem Zentrum und den Linksliberalen, gegeben. Jäckel nennt, bewußt vereinfachend, weil sie in Weimar auf die Restauration des untergegangenen Regimes abzielten, die erste Gruppe die "Monarchisten", die zweite die "Demokraten". 1919 schien es einen Moment lang, als besäße diese Weimarer Koalition eine verläßliche Basis in der Bevölkerung. Doch schon 1920, als die drei demokratischen Partnerparteien die Mehrheit verloren, war die Grundlage dahin. Die Weimarer Koalition bekam ihre Mehrheit erst in der Bonner Republik wieder.

Denn zwischen die beiden Lager der Monarchisten und Demokraten war am Ende der zwanziger Jahre eine neuartige Kraft getreten, die sich am Kampf um die Staatsgewalt ursprünglich nicht beteiligt hatte, weder das alte konstitutionelle noch das neue parlamentarische System bejahte. Sie wollte, was weder Monarchisten noch Demokraten beabsichtigten: eine Diktatur. Waren 1920 die Demokraten um ihre Mehrheit gebracht worden, so prellte nun die NSDAP die Monarchisten um ihren Sieg. Nie vor Jäckel ist diese Entwicklung der politischen Machtverhältnisse in Deutschland so plausibel zusammengefaßt worden.

Nach Jäckels Schema ist gleichzeitig klar, daß er Hitler nicht als zwangsläufiges Ergebnis der deutschen Geschichte sehen kann. Er hält Hitlers Sieg "mit Entschiedenheit" für einen GAU, in der Kernkraftsprache den "größten anzunehmenden Unfall", eine fatale Koinzidenz ganz verschiedener Ursachen, die unglücklicherweise gleichzeitig wirksam wurden.

Zum einen gab es strukturelle Mängel, die aus dem Reich von 1871 herrührten. Zum anderen waren zwei neue Parteien am Werke, KPD und NSDAP. Durch sie war das deutsche Volk statt in zwei in drei (oder sogar vier) Gruppen geteilt, was die Entscheidung des Machtkampfes zugunsten der Monarchisten oder der Demokraten unmöglich machte. Die dritte Ursache des GAU war nach Jäckels Meinung menschliches Versagen der Monarchisten, die widerstandslos die Errichtung der Diktatur geschehen ließen, obwohl sie doch die Mehrheit in der Hitler-Regierung besaßen. Insofern waren es die Monarchisten, die Hitler zur Macht verhalfen, obwohl er keiner der Ihren war.

Innerhalb von zwölf Monaten, nicht erst nach zwölf Jahren, kam es zum völligen Zusammenbruch des deutschen Staats. Hitler zerstörte atemlos rasch nicht nur die Weimarer Republik, sondern den in Jahrhunderten gewachsenen Rechts- und Verfassungsstaat. Auch den Zweiten Weltkrieg hat Hitler gegen den Willen der deutschen Führungsschicht ausgelöst. Für Hitler war Krieg nicht die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln, sondern deren wesentlicher Inhalt überhaupt. "Krieg mußte unter allen Umständen sein." Ebenso war Hitler beim Massenmord die treibende Kraft. Energisch setzte er ihn gegen Einwände und Bedenken durch. Obwohl der größere Teil des Jahrhunderts in die Zeit nach 1945 fällt, bilden die Passagen über das Dritte Reich den Mittelpunkt des Buches: Man spürt in jedem Satz, daß Jäckel mit dieser Epoche auch wissenschaftlich besonders vertraut ist.

Unvermeidlich fällt die Schilderung der deutschen Nachkriegsentwicklung blasser aus, obwohl sich auch hier eindringliche Passagen, pointierte Formulierungen finden: So folgte die Westverschiebung Polens zwangsläufig aus Stalins früherer Entschlossenheit, der Sowjetunion die Westukraine einzuverleiben. Die Einteilung in vier Besatzungszonen war nicht als Zerschlagung Deutschlands gedacht, obwohl diese sich schließlich daraus ergab. Der Aufstieg der Bundesrepublik wurde nicht trotz, sondern wegen der gewaltigen Verluste möglich, die das Land erlitten hatte. Rechts von der Mitte gibt es, von den bedeutungslosen Randgruppen abgesehen, in der deutschen politischen Landschaft keine Kraft mehr, weil es die Klassen nicht mehr gibt, die konservative Parteien trugen und wählten. Die Verfassungstreue unserer Bevölkerung liegt weder an neuen Vorschriften noch an historischen Lernprozessen, sondern an dieser neuen Struktur der deutschen Gesellschaft. "Der seit 1918 ausgetragene Kampf um die Staatsgewalt führte 1933 in die Diktatur. Die Diktatur führte in die Katastrophe von 1945, und es war dann eine Katastrophe, die dem Kampf die Grundlagen entzog. Das ist der rote Faden des deutschen Jahrhunderts." ARNULF BARING

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