Das Deutsche Reich von 1871 wurzelte noch tief in der Welt des 19. Jahrhunderts und öffnete sich zugleich der heraufziehenden Moderne. Es stand zwischen Altem und Neuem, war ein Gebilde »zwischen den Zeiten«. Davon handelt das Buch. Es nimmt einmal in den Blick, wie sich das Kaiserreich über die fast fünfzig Jahre seiner Existenz verändert hat. Das Buch beschreibt zum anderen den Weg Deutschlands in die Moderne mit allen seinen Verzögerungen und Widersprüchen. Schließlich fragt das Buch nach der Wandlungsfähigkeit des monarchischen Obrigkeitsstaates, darüber hinaus aber, allgemeiner, nach den Chancen von Politik in Zeiten rascher Veränderung.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.03.1996Kaiserreich mit unstetem Charakter
Über die Zeit von 1871 bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges in Deutschland / Politische Taschenbücher
Hans-Peter Ullmann: Das deutsche Kaiserreich 1871-1918. edition suhrkamp 1546, Neue Historische Bibliothek. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1995. 320 Seiten, 22,80 Mark.
Ludolf Herbst: Das nationalsozialistische Deutschland 1933-1945. Die Entfesselung der Gewalt: Rassismus und Krieg. edition suhrkamp 1285, Neue Historische Bibliothek. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1995. 495 Seiten, 29,80 Mark.
Das Kaiserreich ist eine mit parlamentarischen Formen verbrämte, bürokratisch gezimmerte, polizeilich gehütete Militärdespotie, schimpfte Karl Marx 1875. Seine Ansicht hielt sich hartnäckig und gefällt noch heute manch modernem Historiker, der mit marxistischer Lupe auf das Bismarck-Reich blickt, überall Sonderwege entdeckt und den Sozialimperialismus für den Untergang des Reiches verantwortlich macht.
Hans-Peter Ullmann urteilt zurückhaltender. Dem Tübinger Historiker ist das Reich ein "Gebilde zwischen den Zeiten", ein Wesen von kurzer Lebensdauer, das mehrmals seinen Charakter geändert hat. Ullmann interessiert vor allem, welche Wandlungen sich im Laufe der Jahre vollzogen, welche Etappen das Reich auf dem Weg in die Moderne zurücklegte und wie das politische System die Veränderungen bewältigte. Sein Buch ist eine kurze, doch gehaltvolle Gesamtdarstellung des Kaiserreichs, die Wirtschafts- und Sozial- mit Verfassungsgeschichte vereint und die europäische Mächtekonstellation berücksichtigt, obgleich es dem Autor vornehmlich um die innere Entwicklung geht.
Diese war seit der Kaiserproklamation im Spiegelsaal zu Versailles von der Rivalität zwischen Progressiven und Konservativen gekennzeichnet. Die Liberalen hatten Deutschland zwar nicht zu einen vermocht, ihre Position nach 1871 aber erheblich verbessert. Das Reich bescherte ihnen die konstitutionelle Monarchie und stellte der kaiserlichen Macht den Reichstag gegenüber, der sich auf die Volkssouveränität berief. Gewandt beschreibt Ullmann nicht nur die demokratischen Elemente des neuen Rechts- und Verwaltungsstaates mit dem allgemeinen, gleichen wie geheimen Wahlrecht und dem Kaiser als Inhaber der Bundespräsidialgewalt. Er berichtet auch von dem Widerstand der alten Eliten gegen eine parlamentarische Fortentwicklung und der engen Zusammenarbeit zwischen Regierung und nationalliberaler Reichstagsmehrheit, die ein umfangreiches Reformwerk in der Wirtschafts- und Rechtspolitik gebar. Weitergehende Neuerungen, etwa die Kontrolle der Minister durch die Abgeordneten, ließen sich mit Bismarck nicht durchsetzen. Sie gingen dem Kanzler zu weit. Er nutzte die nach dem Börsenkrach umgeschlagene, den Liberalen feindlich gesinnte Stimmung und leitete eine konservative Wende ein. Überhaupt verstand es Bismarck meisterlich, sich im Kampf zwischen Monarchisten und freiheitlich gesinntem Bürgertum als Mittler darzustellen, die gesellschaftlichen Kräfte im Gleichgewicht zu halten und auf diese Weise die Politik allein zu bestimmen.
In den Jahren eiliger Industrialisierung und raschen sozialen Wandels war es mit dieser Freiheit vorbei. Ullmann schildert "die Fundamentalpolitisierung" der Bevölkerung am Ende des Jahrhunderts, erzählt vom Aufstieg der Sozialdemokratie, von der rasant steigenden Wahlbeteiligung und vom Aufblühen des Pressewesens, kurzum vom Entstehen eines modernen politischen Massenmarktes. Regierung wie Reichstag waren nur bedingt in der Lage, sich diesen Veränderungen anzupassen und die Monarchie modernen, demokratischen Umgangsformen zu unterwerfen. Zwar gelang es dem Parlament, seine Rechte zu mehren - Ullmann nennt den Beschluß des Reichstages von 1912, dem Kanzler wenigstens formal das Mißtrauen auszusprechen -, doch scheiterten weitere Reformen schon im Ansatz an Kaiser und Konservativen. "Dieser weitgehende Immobilismus, die begrenzte Handlungsfähigkeit von Reichsleitung wie Reichstag und nicht zuletzt die wachsende Unzufriedenheit mit diesem Zustand scheinen die Bereitschaft gefördert zu haben, einen Krieg als Weg aus der Krise zu akzeptieren."
Er allerdings brachte das Gegenteil des Gewollten: das Ende der Monarchie nämlich, dazu Millionen von Toten, einen drakonischen Frieden, barbarische Reparationsforderungen und das Gefühl weiter Kreise der Bevölkerung, verraten und verkauft worden zu sein. Adolf Hitler verstand es, diese Verzweiflung in Worte zu kleiden und mit dem Wunsch zu verbinden, endlich die Ärmel hochzukrempeln und dreinzuschlagen, wie Ludolf Herbst in seiner Studie über das nationalsozialistische Deutschland eindrucksvoll schildert. Der Berliner Historiker betont, wie stark der österreichische Gefreite und Gasversehrte vom Krieg geprägt worden war. Für Herbst kamen Hitler und dessen Weltanschauung aus dem Krieg, fanden im Krieg ihre Bestimmung und gingen an ihm zugrunde.
Von Anfang an zielte die nationalsozialistische Politik darauf ab, das kranke, doch kräftige Land kampffähig zu machen und die "Ordnung des Krieges bereits im Frieden zu etablieren", so der Autor. In seinem Buch also ist der Krieg Hauptgegenstand der Betrachtung, doch nicht in Form einer Militärgeschichte von der "Hoßbach-Niederschrift" bis zur Schlacht um Berlin, vielmehr als Darstellung einer gewaltigen Auseinandersetzung im Äußeren wie an der Heimatfront. Normalität habe es im Dritten Reich zu keiner Zeit gegeben, bemerkt der Verfasser. Aus diesem Grund lehnt er eine systematische Gliederung ab und geht in fast jedem Kapitel auf die nationalsozialistische Ausgrenzungs- und Vernichtungspolitik ein. Herausgekommen ist eine souveräne, stets erhellende Gesamtdarstellung, die Machtergreifung wie Herrschaftssystem analysiert, Außen- und Kriegspolitik untersucht und Wirtschaft wie Gesellschaft durchleuchtet. Nur eines verwundert: das verschämte Geständnis des Autors, "nicht primär" mit den Methoden der Sozialgeschichte gearbeitet zu haben. "Macht nichts, Ludolf", möchte man ihm zurufen. Aufstieg und Fall des Führers lassen sich eben nur bedingt anhand des "Pritzwalker Mittelstandes von 1933 bis 1934einhalb" erklären. Da ist es schon richtig, Politik-, Ideen- und Diplomatiegeschichte den Vorzug zu geben.
Zumal Herbst keinesfalls darauf verzichtet, Hitler und seine Politik breit einzubetten. Ausführlich legt er die republikfeindliche, düstere Stimmung der Weimarer Jahre dar, um zu belegen, daß Hitler Altes, irgendwie schon Dagewesenes verkörperte und rabaukenhaft auf die Spitze trieb. Doch was er außen- wie innenpolitisch schuf, stellte alles Dagewesene in den Schatten - ein Umstand, der dazu führte, daß die tausend Jahre schneller vorbeigingen, als manch einer glaubte. JACQUES SCHUSTER
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Über die Zeit von 1871 bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges in Deutschland / Politische Taschenbücher
Hans-Peter Ullmann: Das deutsche Kaiserreich 1871-1918. edition suhrkamp 1546, Neue Historische Bibliothek. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1995. 320 Seiten, 22,80 Mark.
Ludolf Herbst: Das nationalsozialistische Deutschland 1933-1945. Die Entfesselung der Gewalt: Rassismus und Krieg. edition suhrkamp 1285, Neue Historische Bibliothek. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1995. 495 Seiten, 29,80 Mark.
Das Kaiserreich ist eine mit parlamentarischen Formen verbrämte, bürokratisch gezimmerte, polizeilich gehütete Militärdespotie, schimpfte Karl Marx 1875. Seine Ansicht hielt sich hartnäckig und gefällt noch heute manch modernem Historiker, der mit marxistischer Lupe auf das Bismarck-Reich blickt, überall Sonderwege entdeckt und den Sozialimperialismus für den Untergang des Reiches verantwortlich macht.
Hans-Peter Ullmann urteilt zurückhaltender. Dem Tübinger Historiker ist das Reich ein "Gebilde zwischen den Zeiten", ein Wesen von kurzer Lebensdauer, das mehrmals seinen Charakter geändert hat. Ullmann interessiert vor allem, welche Wandlungen sich im Laufe der Jahre vollzogen, welche Etappen das Reich auf dem Weg in die Moderne zurücklegte und wie das politische System die Veränderungen bewältigte. Sein Buch ist eine kurze, doch gehaltvolle Gesamtdarstellung des Kaiserreichs, die Wirtschafts- und Sozial- mit Verfassungsgeschichte vereint und die europäische Mächtekonstellation berücksichtigt, obgleich es dem Autor vornehmlich um die innere Entwicklung geht.
Diese war seit der Kaiserproklamation im Spiegelsaal zu Versailles von der Rivalität zwischen Progressiven und Konservativen gekennzeichnet. Die Liberalen hatten Deutschland zwar nicht zu einen vermocht, ihre Position nach 1871 aber erheblich verbessert. Das Reich bescherte ihnen die konstitutionelle Monarchie und stellte der kaiserlichen Macht den Reichstag gegenüber, der sich auf die Volkssouveränität berief. Gewandt beschreibt Ullmann nicht nur die demokratischen Elemente des neuen Rechts- und Verwaltungsstaates mit dem allgemeinen, gleichen wie geheimen Wahlrecht und dem Kaiser als Inhaber der Bundespräsidialgewalt. Er berichtet auch von dem Widerstand der alten Eliten gegen eine parlamentarische Fortentwicklung und der engen Zusammenarbeit zwischen Regierung und nationalliberaler Reichstagsmehrheit, die ein umfangreiches Reformwerk in der Wirtschafts- und Rechtspolitik gebar. Weitergehende Neuerungen, etwa die Kontrolle der Minister durch die Abgeordneten, ließen sich mit Bismarck nicht durchsetzen. Sie gingen dem Kanzler zu weit. Er nutzte die nach dem Börsenkrach umgeschlagene, den Liberalen feindlich gesinnte Stimmung und leitete eine konservative Wende ein. Überhaupt verstand es Bismarck meisterlich, sich im Kampf zwischen Monarchisten und freiheitlich gesinntem Bürgertum als Mittler darzustellen, die gesellschaftlichen Kräfte im Gleichgewicht zu halten und auf diese Weise die Politik allein zu bestimmen.
In den Jahren eiliger Industrialisierung und raschen sozialen Wandels war es mit dieser Freiheit vorbei. Ullmann schildert "die Fundamentalpolitisierung" der Bevölkerung am Ende des Jahrhunderts, erzählt vom Aufstieg der Sozialdemokratie, von der rasant steigenden Wahlbeteiligung und vom Aufblühen des Pressewesens, kurzum vom Entstehen eines modernen politischen Massenmarktes. Regierung wie Reichstag waren nur bedingt in der Lage, sich diesen Veränderungen anzupassen und die Monarchie modernen, demokratischen Umgangsformen zu unterwerfen. Zwar gelang es dem Parlament, seine Rechte zu mehren - Ullmann nennt den Beschluß des Reichstages von 1912, dem Kanzler wenigstens formal das Mißtrauen auszusprechen -, doch scheiterten weitere Reformen schon im Ansatz an Kaiser und Konservativen. "Dieser weitgehende Immobilismus, die begrenzte Handlungsfähigkeit von Reichsleitung wie Reichstag und nicht zuletzt die wachsende Unzufriedenheit mit diesem Zustand scheinen die Bereitschaft gefördert zu haben, einen Krieg als Weg aus der Krise zu akzeptieren."
Er allerdings brachte das Gegenteil des Gewollten: das Ende der Monarchie nämlich, dazu Millionen von Toten, einen drakonischen Frieden, barbarische Reparationsforderungen und das Gefühl weiter Kreise der Bevölkerung, verraten und verkauft worden zu sein. Adolf Hitler verstand es, diese Verzweiflung in Worte zu kleiden und mit dem Wunsch zu verbinden, endlich die Ärmel hochzukrempeln und dreinzuschlagen, wie Ludolf Herbst in seiner Studie über das nationalsozialistische Deutschland eindrucksvoll schildert. Der Berliner Historiker betont, wie stark der österreichische Gefreite und Gasversehrte vom Krieg geprägt worden war. Für Herbst kamen Hitler und dessen Weltanschauung aus dem Krieg, fanden im Krieg ihre Bestimmung und gingen an ihm zugrunde.
Von Anfang an zielte die nationalsozialistische Politik darauf ab, das kranke, doch kräftige Land kampffähig zu machen und die "Ordnung des Krieges bereits im Frieden zu etablieren", so der Autor. In seinem Buch also ist der Krieg Hauptgegenstand der Betrachtung, doch nicht in Form einer Militärgeschichte von der "Hoßbach-Niederschrift" bis zur Schlacht um Berlin, vielmehr als Darstellung einer gewaltigen Auseinandersetzung im Äußeren wie an der Heimatfront. Normalität habe es im Dritten Reich zu keiner Zeit gegeben, bemerkt der Verfasser. Aus diesem Grund lehnt er eine systematische Gliederung ab und geht in fast jedem Kapitel auf die nationalsozialistische Ausgrenzungs- und Vernichtungspolitik ein. Herausgekommen ist eine souveräne, stets erhellende Gesamtdarstellung, die Machtergreifung wie Herrschaftssystem analysiert, Außen- und Kriegspolitik untersucht und Wirtschaft wie Gesellschaft durchleuchtet. Nur eines verwundert: das verschämte Geständnis des Autors, "nicht primär" mit den Methoden der Sozialgeschichte gearbeitet zu haben. "Macht nichts, Ludolf", möchte man ihm zurufen. Aufstieg und Fall des Führers lassen sich eben nur bedingt anhand des "Pritzwalker Mittelstandes von 1933 bis 1934einhalb" erklären. Da ist es schon richtig, Politik-, Ideen- und Diplomatiegeschichte den Vorzug zu geben.
Zumal Herbst keinesfalls darauf verzichtet, Hitler und seine Politik breit einzubetten. Ausführlich legt er die republikfeindliche, düstere Stimmung der Weimarer Jahre dar, um zu belegen, daß Hitler Altes, irgendwie schon Dagewesenes verkörperte und rabaukenhaft auf die Spitze trieb. Doch was er außen- wie innenpolitisch schuf, stellte alles Dagewesene in den Schatten - ein Umstand, der dazu führte, daß die tausend Jahre schneller vorbeigingen, als manch einer glaubte. JACQUES SCHUSTER
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