Gitta Serenys Lebensthema heißt Deutschland. Schon früh drängten sich mit dem "Anschluss" Österreichs Hitler und die Nationalsozialisten in ihre Biographie. Während des Kriegs arbeitete sie in Frankreich als Fürsorgerin in einem Heim für Flüchtlingskinder. Dieselbe Arbeit setzte sie nach dem Krieg in Lagern für von den Nazis verschleppte Menschen und für KZ-Überlebende fort. Dabei lernte sie zu verstehen, wie das Nazigift in das Leben der Menschen eindrang. Die Arbeit mit Nazi-Opfern und die Suche nach gestohlenen Kindern ließ sie das Ausmaß der Menschenverachtung begreifen, die das Wesen der Nazi-Ideologie bestimmte. Anhand ihrer eigenen Erfahrungen sowie anhand der Biographien von Nazi-Tätern, mit denen sie intensive Gespräche führte, versucht Gitta Sereny, Hintergründe und Motive, Gefühle und Taten zu erhellen, um das scheinbar Unfassbare im Konkreten, im einzelnen Leben greifbar werden zu lassen. Der Nationalsozialismus - seine Verdrängung wie seine bewusste Aufarbeitun g - hat das Selbstverständnis der Deutschen in den letzten 50 Jahren entscheidend geprägt und beeinflusst weiterhin die deutsche Politik. Die renommierte Autorin ist aber zutiefst überzeugt, dass Millionen Deutsche die tiefe Wunde, die von der nationalsozialistischen Tyrannei auch in den nachfolgenden Generationen geschlagen wurde, annehmen. Dass Deutschland heute das Herz Europas sein kann, gerade weil Deutsche jeden Alters sich dieser Wunde bewusst sind.
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Viel Lob hat Klaus Harpprecht für die Textsammlung Gitta Serenys, in der sie ihre Erinnerungen zur Erfahrung mit der Deutschen Geschichte aufgezeichnet hat. Die britische Autorin ungarischer Abstammung hat, wie wir vom Rezensenten erfahren, selbst im Kindesalter die Faszination gespürt, die von den Reden Hitlers ausgegangen sei, welche sie in Nürnberg verfolgen konnte. Vor diesem Hintergrund ist Harpprecht von der "Aufrichtigkeit" Serenys beeindruckt, mit der sie ihre persönlichen Eindrücke schildert. Gefallen hat ihm der Wahrheitswille, der in der Regel die Oberhand behalte und sich "nur auf den eigenen Spürsinn" verlasse. Deshalb ist das vorliegende Buch seiner Ansicht nach nicht einfach eine Textsammlung, sondern "auch eine fragmentarische Autobiografie". Obwohl auch positive Erfahrungen fairerweise aufgeführt würden, die Sereny mit deutschen Offizieren beispielsweise während der Besatzungszeit in Frankreich gemacht hat, dominiere doch "der Blick auf die Nachtseite" des zwanzigsten Jahrhunderts das Buch, so der Rezensent. Besonders in einem von Harpprecht herausgestellten Kapitel - 'Gespräch mit einem Gewissen' - zeige sich die "bemerkenswerte psychische Energie" Serenys, mit der sie in Gesprächen mit den Nachkommen von SS-Verbrechern versucht, deren Schuldbewusstsein auf die Schliche zu kommen. Durch das Ende des Buches, in dem die Autorin der jüngeren deutschen Generation einen tiefgreifenden Wandel hinsichtlich der Anfälligkeit für Rassismus bescheinigt, sieht Harpprecht schließlich den Untertitel von der 'heilenden Wunde' gerechtfertigt, der jedoch nicht - und auch hier zollt er Sereny Respekt - über die gegenwärtigen Missstände hinwegtäuschen könne.
© Perlentaucher Medien GmbH
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