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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.09.1999

Die Blendung mit der Maus
Safer Sex dank Bildschirmschoner: Utopien des digitalen Zeitalters

Die Medientheorie ist die letzte Utopie unseres Jahrhunderts. Wie einst der Marxismus weiß sie sich auf der Seite der Wissenschaft, glaubt die "Mythen" von Geist und Subjektivität auf ihr materielles Fundament zurückführen zu können und wähnt sich im Gleichschritt mit dem Gewaltmarsch der Geschichte. Daher brauchen Manifeste der virtuellen Realität oder des Internet auch keine Forderungen aufzustellen, sondern können sich mit der scheinbar objektiven Beschreibung der ohnehin ablaufenden Prozesse begnügen. Die Zukunft, in der das Denken auf Silikonbasis neu entsteht, wird immer schon gekommen sein.

Die englische Kulturwissenschaftlerin Sadie Plant hat mit "Nullen und Einsen" ein Werk vorgelegt, das die Geschlechtergeschichte der letzten 200 Jahre unter dem Vorzeichen der stattfindenden Medienrevolution neu denken will. Ihr zufolge braucht das Computerzeitalter anders als der Sozialismus keinen neuen Menschen heranzuziehen, da der Homo digitalis schon recht lange inkognito mitten unter uns lebt - Deckname: Frau. Dass mittlerweile die Zahl der weiblichen Internetnutzer die der Männer überwiegen soll, sei kein Zufall. Frauen hätten immer schon der Menschheit lebendiges Kleid gewirkt beziehungsweise ihre toten Socken gestrickt: Das World Wide Web sei, wie Textilprodukte von jeher, Frauensache.

Bisher freilich hätten die Frauen ihren angeborenen Hang zur kniffeligen Vernetzung nur unter Bedingungen austoben können, die keinen Zweifel daran ließen, wer die Fäden wirklich zog: Die Frau bediente den Mann, den Webstuhl und die Schreibmaschine: "Dieses grobe Modell von Benutzer und Benutztem diente in der modernen Welt als Legitimation für wissenschaftliche Projekte, koloniale Abenteuer, geschlechtliche Beziehungen und sogar künstlerische Bestrebungen." Die Frauenemanzipation hat bislang allerdings zu kurz gegriffen. Wo Disketten täglich "in die dunklen Vertiefungen aufnahmebereiter vaginaler Schlitze" geschoben werden, können auch Rechenmaschinen als Opfer männlicher Penetrationen auf Solidarität rechnen. EDV, dein Name ist Weib. Die männlichen Programmierer haben die Rechnung lange genug ohne die Frau respektive die Mensch-Maschine gemacht: Wo Eins war, soll Null werden.

"Null" meint natürlich in der digitalen Ära nicht nichts, sondern das Gegenteil von Eins im Sinne von ein-deutiger Bestimmung und wäre somit auch durch gängige Theoriejoker wie das "Andere" oder die "Differenz" zu ersetzen. Plant bietet eine elektrifizierte Variante des poststrukturalistischen Dogmas, dem zufolge die Frau in einer durch binäre "männliche" Logik geprägten Gesellschaft gar keine feste Identität haben könne. Ihr scheinbares Leiden macht sie für die Diskursbombenbastler als Werferin attraktiv. In einer Kultur, "die den Anspruch hat, alles zu nummerieren, alles in Einheiten zu zählen, als Individualität zu inventarisieren", so zitiert Plant Luce Irigaray, repräsentiere die Frau ein "Geheimnis". Während im Steinzeitfeminismus die Männer die Nullen waren, sind es jetzt die Frauen: als "Störfaktoren" und "Leerstellen" und wie dergleichen Komplimente noch lauten mögen. Dass Frauen ebenso wie das Innere des PCs ein ewiges Rätsel aufgeben, mag noch einleuchten. Dunkel bleibt dagegen, wie damit im Geschlechterkampf Punkte zu machen sein sollen.

Alles hat mit allem zu tun

Wer die Zukunft gewinnen will, muss die Vergangenheit erobern. Plant versucht, den Beitrag von Frauen an Wendepunkten der Technologiegeschichte herauszustellen. In Ada Lovelace, Mitarbeiterin des kybernetischen Pioniers Charles Babbage, erkennt Plant den gut 150 Jahre zu früh vom Band gerollten Prototyp einer Cyberfeministin. Private wie theoretische Notizen der zur Datenschutzheiligen verklärten Tochter Lord Byrons bilden gemeinsam mit Zitaten aus der Sciencefiction das optisch auffällige Strickmuster des Textes. Ada notierte einmal: "Alles und jedes steht ganz natürlich in Beziehung und ist miteinander verquickt. Über diesen Gegenstand könnte ich ein ganzes Buch schreiben." Nun, Plant hat es leider getan, und von einem Buch über die allgemeine Verquickung von allem mit allem darf man keine strenge Gliederung erwarten, zumal Plant die nichtlineare Hypertextstruktur des World Wide Web abbilden will. Wohl aber etwas mehr Bemühung um Abstrahierung von der eigenen sexuellen Präferenz. Plant ist offensichtlich lesbisch, und die schönste Nebensache der Welt wird ihr zum Hauptargument.

Wie die Unterschiede zwischen den Geschlechtern verschwimmen, so werden auch die Grenzen zwischen Mensch und Maschine im Zeitalter der Genmanipulation und der künstlichen Intelligenz durchlässig. Transvestiten und Roboter, liebestolle Programmierer und geschlechtslose Netzbenutzer schlagen gemeinsam die Nägel in die Särge der "Herren der alten weißen Welt". Warum aber hält Plant gleichgeschlechtliche Liebe für die unausweichliche Zukunft der Menschheit? "Verlassen von der ökonomischen Macht und dem sozialen Privileg, die aus den Männern einst so attraktive, ja notwendige Gesellen gemacht hatten, fielen die Spermienzahlen, sanken die Geburtenraten drastisch, und die einst so nützliche Muskelkraft und Hormonenergie wurden nun zu Belastungen." In wirren Kapiteln über Fortpflanzungsgenetik und Evolution wird mit biologischem Halbwissen die Vision einer Menschheit ohne Y-Chromosom entworfen. Dass die Autorin von Kastration schweigt, hat man wohl dem Fortschritt zu danken.

Maschinen erinnern sich nicht

Dabei kommt ein Fisch bekanntlich ohne Fahrrad, aber nicht ohne Modem aus. Denn die neuen Medien sind der Motor gesellschaftlichen Wandels, da sie sich der (männlichen) Kontrolle entziehen und die vermeintlichen Programmierer zu Erfüllungsgehilfen ihrer technischen Selbstrevolution machten. In seiner differenzierten Studie zu den "Strategien der Neuen Medien" im "Digital" diskutiert Matthias Groll von einem medienkritischen Standpunkt aus die Frage nach dem Verhältnis von Herr und Knecht im Computerzeitalter. Auch er sieht die Apparate an der Schwelle zur Machtübernahme: Gegen die illusionäre Hoffnung auf eine digitale Demokratie macht er mit Jean Baudrillard einen "dezentralisierten Totalitarismus" dingfest, der freilich Frauen wie Männer gleichermaßen zu Konsumenten der Medienangebote degradieren würde. Plants Technophantasien erweisen sich so nicht nur als ideologisch, sondern auch als naiv.

So setzt sie etwa unbesehen voraus, dass die Komplexität der Vernetzung einen Geist in der Maschine erscheinen lässt, Quantität der Verschaltung in Qualität einer "zerstreuten" Intelligenz umschlägt. Dagegen weist Groll darauf hin, dass der kybernetisch geformte "Homo Copy" nicht viel mehr als eine Informationsansammlung sein wird, die nicht über den Horizont ihrer zuvor programmierten Strukturen hinauszublicken vermag. "Der Mensch verarbeitet Informationen, wohingegen Apparate nur mit ihnen haushalten." Die digitale Datenverarbeitung erscheine nur komplex. Erinnerung sei etwas anderes als das Abrufen von Daten, menschliche Kommunikation eben kein einfacher Austausch unter Speichern. "Erst wer der Niedrigkomplexität entgegenkommt, kann als Kommunikationspilot, der Informationsgeschosse abfeuert, zum Helden der Digitalwelt werden." Der Cyberspace - nicht mehr als die Szenerie eines raffinierten Videospiels?

In der Tat behauptet Groll eine Tendenz des Mediums zum eindimensionalen reinen Datenaustausch, der einen kritischen Umgang von vornherein verhindere: "Allzu lange Reflexionen blockieren die Netzkommunikation und bestrafen den ,Denker' mit dem Bildschirmschoner und hohen Telefonrechnungen." Gegen diese zunehmende Verkümmerung der Reflexion zum Reflex entwickelt Groll ein Konzept der poetischen Aneignung "informierender" Pauschalangebote. Weil die mediale Attacke den Sinnen gelte, müsse die Wahrnehmung selbst Abwehrstrategien entwickeln: "Da die Bilder fraktal flackern, muß der Betrachter gewissermaßen blinzeln."

Die Gelassenheit, mit der hier die Gemeinplätze des Mediendiskurses einer kritischen Musterung unterzogen werden, ist äußerst wohltuend. Groll trifft für die Debatte notwendige Unterscheidungen wie die zwischen Wissen und Information, Datenverarbeitung und Erfahrung, Rechnen und Reflexion. Plant hielte das wohl für einen typisch männlichen Binarismus, dem sich die neuen Medien samt ihrer weiblichen Logik gerade entzögen. Unterscheidungen zu unterminieren und Entlegenes zu vernetzen ist im Grunde ein poetisches Verfahren. Die Grenzbefestigung zwischen Sachbuch und Fiktion wird bei Sadie Plant konsequenterweise abgerissen. Indem sie die Wissenschaft kampflos dem anderen Geschlecht überlässt, lässt sie die feministische Botschaft abstürzen.

RICHARD KÄMMERLINGS

Sadie Plant: "Nullen und Einsen". Digitale Frauen und die Kultur der neuen Technologien. Aus dem Englischen von Gustav Roßler. Berlin Verlag, Berlin 1998. 304 S., geb., 39,80 DM.

Matthias Groll: "Das Digital". Strategien der neuen Medien. Klaus Boer Verlag, München 1998. 208 S., geb., 36,- DM.

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