Die Geschichte spielte in der kommunistischen Herrschaftsordnung der DDR und in ihrem Selbstverständnis eine äußerst wichtige Rolle. Sabrows Studie leistet einen Beitrag zum Verständnis der gelenkten Geschichtswissenschaft in der DDR und zeigt auf, inwieweit Einflüsse inner- und außerhalb des Faches Bedeutung hatten. Dazu kombiniert der Autor den Blick auf die Geschichte des Faches mit der Untersuchung des Charakters und der Funktionsweise der SED-Diktatur als politischen und gesellschaftlichen Systems.
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Hans-Ulrich Wehler zeigt sich sehr angetan von Martin Sabrows "ausgezeichneter Monografie" über die Geschichtswissenschaft in der DDR. Die "glänzend recherchierte" Untersuchung des "Instituts für Geschichte" an der Akademie der Wissenschaften in den Jahren 1949-1969 führt ausführlich die Unfreiheit der dort forschenden Historiker vor Augen: brutale Sanktionen, Kontrolle, Steuerung, Überwachung, der deprimierende Alltag der Mitarbeiter, Selbstmorde... "Bedrückend" findet der Rezensent das alles. Wehler stimmt Sabrow vollkommen zu, wenn dieser am Beispiel des "Lehrbuchs der deutschen Geschichte" exemplifiziert, zu welch haarsträubenden Ergebnissen die Forschung unter marxistischem Denk- und Schreibzwang gelangte: "Tatsächlich stellt es ein Unikat an Fehlern und Fehldeutungen dar." Wehler geht aber noch einen Schritt weiter: er wirft die Frage auf, ob man wirklich von einer "zweiten deutschen, sozialistischen Geschichtswissenschaft" sprechen dürfe, und verneint dies sogleich. Bei der DDR-Geschichtswissenschaft handele es sich in der Regel vielmehr um eine auf vulgärmarxistischen Annahmen basierende "kommunistische Geschichtsscholastik" von außerordentlich schlechter Qualität. Ausnahmen gab es indes: so z.B. eine Gruppe von Experten ostelbischer Agrargeschichte. Dieses kleine "Fähnlein der Aufrichtigen", so der Rezensent, hätten auch bei Sabrow mehr Aufmerksamkeit verdient.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 05.12.2001Deutschland um 500000 vor Christus
Historiker in der DDR: Martin Sabrow beschreibt Geschichtsscholastik im Staatsauftrag
Zu der rasch anwachsenden Literatur über die innere Verfassung der DDR tritt jetzt Martin Sabrows glänzend recherchierte, von 1949 bis 1969 führende Untersuchung des „Instituts für Geschichte” an der Akademie der Wissenschaften. Die Gängelung und Schurigelei dieser großen – 250 Mitarbeiter zählenden – für Forschung freigestellten Historikergruppe war noch deprimierender als wir das bisher ohnehin angenommen hatten. Nachrichten von der Flucht in den Westen; Berichte darüber, dass wieder zahlreiche Mitarbeiter an Nerven- und Kreislaufproblemen laborierten; die brutalen Sanktionen gegen Historiker, die sich um Millimeter von der Parteidoktrin entfernten – das alles kann nach dieser präzisen Aufklärung überhaupt nicht mehr verwundern. Die Selbstmordserie unter Historikern (Griewank, Lintzel, Flach, Nichtweiß) bleibt ein Menetekel.
Sabrow beginnt mit der Gründungsgeschichte des „Instituts für Geschichte”, die mit der völligen Vereinnahmung der Berliner Akademie eng zusammenhing. Dazu gehören auch die erbitterten Grabenkämpfe der verschiedenen parteiamtlichen und wissenschaftlichen Fraktionen und schließlich die nur anfangs mühselige Konsolidierung des Projekts in den fünfziger Jahren. Der einzige, der auf eine konventionelle Universitätsausbildung (samt historischer Promotion bei Hermann Oncken) verweisen konnte, war Ernst Engelbert. Im Institut aber gerierte er sich vornehmlich als linientreuer Politruk, der „Abweichler” und „Versöhnler” an die Kandare nahm, sich auch als Großmeister der Intrige erwies. Überhaupt wurden Intrigantentum und Machtpoker – wer kann seine Beziehungen zum ZK am besten ausnutzen? – von der Equipe gepflegt.
Machthunger, Intrigantentum
Unter wissenschaftlicher „Normalisierung” versteht Sabrow auch die fragwürdige Konsolidierung durch „Steuerung” und „Überwachung”. Das Ganze ist ein trübseliges Kapitel der Indienstnahme dieser Historiker durch die unerbittlichen Repräsentanten der Parteidiktatur, welche die Macht der Geschichtsbilder immerhin so ernst nahmen, dass sie ihre Regelungswut noch auf das letzte Detail ausdehnten. Unter solchen Bedingungen konnten die Ergebnisse des Instituts – trotz des vergleichsweise großen Aufwands – nur deplorabel sein.
Am Beispiel des „Lehrbuchs der deutschen Geschichte” schildert Sabrow die Verhärtung der Diskussion. Das von 1959 bis 1969 erscheinende 12-bändige „Lehrbuch” hat drei Jahrzehnte lang das letzte Wort der Dogmatik bedeutet. Tatsächlich stellt es ein Unikat an Fehlern und Fehldeutungen dar. Mit unglaublicher Naivität wurde etwa ein objektivistischer Nationsbegriff zugrunde gelegt (so in Band I: Deutschland in der Epoche der Urgesellschaft von 500.000 v. Chr. bis circa 600 n. Chr.), der ein ganz junges, modernes Phänomen durch die erfundene Kontinuität von Jahrtausenden ersetzte. Am Feudalismus, Inbegriff „faulender Stagnation”, konnten die Verfasser weder seine eminente Wirkung auf die Herausbildung der europäischen Rechtskultur durch die Verrechtlichung von Sozialökonomie und Politik erkennen, noch konnten sie sehen, wie offen sich diese verketzerte „Gesellschaftsformation” für produktive Fortentwicklung erwies.
Der eigentliche Tiefpunkt aber wurde mit der Behandlung des 19. und 20. Jahrhunderts erreicht. Engelberg traktierte eigenhändig die beiden Abschnitte von 1848 bis 1871 und von 1871 bis 1897 (die abstruse Periodisierung folgte Lenins willkürlicher Fixierung des Beginns seiner Epoche des Imperialismus) in dem Bewusstsein, die historischen Gesetzmäßigkeiten, samt Erfüllung und Abweichung, vom hohen Kothurn der marxistisch-leninistischen Geschichtsphilosophie aus erkennen zu können.
Jede glaubwürdige Annäherung an die Realität wurde schließlich durch die Holzhammerformel Dimitroffs blockiert, wonach der Nationalsozialismus nur der Büttel der rabiatesten Variante des Finanzkapitalismus sei. Die Literaturhinweise zeugten von tiefster Provinzialität und argwöhnischer Abschottung. Dran hatte auch die – mitten im Institut ansässige – Stasi ihren Anteil: Wenn einmal die Teilnahme an Tagungen im Westen zur Debatte stand, legten Parteifunktionäre den Charakter der Wortmeldung bis ins Einzelne fest.
Nicht weniger bedrückend fällt das Kapitel über den Umgang mit jenen Konflikten aus, bei denen es um eine Abweichung von der wahren Lehre ging. Sabrow betont, dass nicht nur Zwang, sondern auch Überzeugung und Engagement der Historiker eine Rolle gespielt hätten. Daran ist zweierlei richtig. Für die erste politische Generation verbanden sich Kriegserfahrung, Aufbauwille, Bereitschaft zur Mitwirkung an einem „ehrlichen Sozialismus” und rudimentäre Marxismuskenntnisse zu einer Einstellung, die bereitwillige Kooperation ermöglichte. Wer dagegen nach dem Mauerbau groß wurde und studierte, war in aller Regel schon einer so massiven politischen Sozialisation ausgesetzt, dass die Bereitschaft zur Gefügigkeit meist verinnerlicht war. Zum herrschenden Denkverbot gehörte auch die Lüge, denn bis 1989 – als die russischen Historiker, dank Gorbatschow, sich schon freischwammen – mussten die DDR- Historiker die Aufteilung Osteuropas in den Geheimabsprachen zum Hitler-Stalin- Pakt für eine Erfindung des Klassenfeindes halten, mussten sie sowjetische Massenmorde wie die von Katyn sowie die horrende Zahl der sowjetischen KPD- Opfer des Stalinismus leugnen.
All den Beschönigungsversuchen, mit denen ehemalige Großkopfeten der Bonzokratie wie etwa Walter Schmidt noch immer die „Leistungen” der DDR- Historiker verteidigen, reißt Sabrow mit hervorragender Sachkunde den Schleier fort. Dennoch wirft seine ausgezeichnete Monographie einige grundsätzliche Probleme auf: Gab es in der DDR tatsächlich eine „zweite deutsche”, zudem eine „sozialistische Geschichtswissenschaft”, die diesen Namen verdient? Wurde dort nicht vielmehr nur eine Pseudo- oder Afterwissenschaft betrieben? Das Adjektiv „sozialistisch” werden jene Sozialdemokraten, die dem gemeineuropäischen Normaltypus einer linken Reformpartei verpflichtet sind, überdies für propagandistische Usurpation halten.
Nein, bei der vermeintlichen „zweiten deutschen Geschichtswissenschaft” trifft man in der Regel auf eine kommunistische Geschichtsscholastik, die auf vulgärmarxistischen, leninfetischistischen, letztlich geschichtstheologischen Grundlagen beruhte, die relative Autonomie der Wissenschaft negierte und zerstörte und die Direktiven der Parteidiktatur befolgte. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts empfahl Friedrich Engels, den Marxismus nur als eine „kritische Methode” unter anderen zu nutzen, dieser Appell kann aller Erfahrung nach nur in liberalen Gesellschaften befolgt werden. Das zweite Problem liegt darin, dass Institutionen und Heilswächter eben nicht über das intellektuelle Niveau der Geschichtswissenschaft entscheiden. Vielmehr tut das allein die Qualität ihrer Leistungen. Und der allergrößte Teil der historischen DDR-Publikationen ist nun einmal im Mülleimer der Geschichte gelandet.
Heilswächter, Apparatschiks
Das wäre sofort deutlich geworden, wenn Sabrow sich auch noch auf einen inhaltlichen Vergleich der ostdeutschen mit westlichen Veröffentlichungen eingelassen hätte. Einerlei worum es geht – den „Feudalismus”, die Erfindung einer „frühbürgerlichen Revolution”, die Leninsche Imperialismus- und Stamokap-Theorie, die Dimitroff-Formel, die Geschichte der Linksparteien und die Zeitgeschichte nach 1945 – nichts hält der Kritik stand, nichts hat Bestand gehabt. Wenn man den DDR-Output mit der gleichzeitigen Leistung der englischen Neomarxisten – Hobsbawm, Thompson, Hill, Hilton – vergleicht, tritt das Debakel einer durch Diktatur und Parteidoktrin verstümmelten Geschichtsschreibung um so greller zutage.
Dass einige wenige Leistungen dauerhaft bestehen bleiben, verdient umso größere Anerkennung. Von den zahllosen Untersuchungen zur deutschen Arbeiterbewegung überlebt allein Hartmut Zwahrs glänzende Analyse der Entstehung der Leipziger Arbeiterschaft; anfangs war sie heftig umstritten, da sie angeblich zu unpolitisch nur der Sozialgeschichte, nicht aber der privilegierten Bewegungsgeschichte des Proletariats nachspürte. Zwahrs brillantes Buch über „Herr und Knecht” jedoch, das dieses klassische asymmetrische Verhältnis über viele Jahrhunderte hinweg verfolgte, konnte vor der „Wende” selbstredend nicht veröffentlicht werden, da der Vergleich mit Herrschaft und Knechtschaft in der DDR sich allzu aufschlussreich aufgedrängt hätte.
Vorzügliches verdankt die Geschichtsschreibung auch den Experten der ostelbischen Agrargeschichte: Hartmut Harnisch, Fritz Müller, Rudolf Berthold, dazu das Team, das zusammen mit Volkskundlern die Magdeburger Börde erforscht hat. Im Vorwort des Buches wurde eine knappe Verbeugung vor Lenins „preußischem Weg” absolviert. Hernach folgten Ergebnisse, die auf diesem Gebiet in der Bundesrepublik damals nicht zu finden waren. Woran lag es, dass die Agrargeschichte ungleich weniger eingeschnürt war als die Industrialisierungsgeschichte? Lag es am Behauptungswillen der Historiker, an der geringeren politischen Aufladung von Problemen der ländlichen Gesellschaft, an der empirischen Arbeitsintensität? Wie auch immer, dieses kleine „Fähnlein der Aufrechten” verdiente mehr Aufmerksamkeit. Vor allem aber bedarf es einer Klärung, was mit klarem Kopf, starkem Willen und allerhand Risikobereitschaft selbst in der DDR möglich war.
HANS–ULRICH WEHLER
MARTIN SABROW: Das Diktat des Konsenses. Geschichtswissenschaft in der DDR 1949-1969. R. Oldenbourg-Verlag, München 2001. 488 Seiten, 87,62 Mark.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Historiker in der DDR: Martin Sabrow beschreibt Geschichtsscholastik im Staatsauftrag
Zu der rasch anwachsenden Literatur über die innere Verfassung der DDR tritt jetzt Martin Sabrows glänzend recherchierte, von 1949 bis 1969 führende Untersuchung des „Instituts für Geschichte” an der Akademie der Wissenschaften. Die Gängelung und Schurigelei dieser großen – 250 Mitarbeiter zählenden – für Forschung freigestellten Historikergruppe war noch deprimierender als wir das bisher ohnehin angenommen hatten. Nachrichten von der Flucht in den Westen; Berichte darüber, dass wieder zahlreiche Mitarbeiter an Nerven- und Kreislaufproblemen laborierten; die brutalen Sanktionen gegen Historiker, die sich um Millimeter von der Parteidoktrin entfernten – das alles kann nach dieser präzisen Aufklärung überhaupt nicht mehr verwundern. Die Selbstmordserie unter Historikern (Griewank, Lintzel, Flach, Nichtweiß) bleibt ein Menetekel.
Sabrow beginnt mit der Gründungsgeschichte des „Instituts für Geschichte”, die mit der völligen Vereinnahmung der Berliner Akademie eng zusammenhing. Dazu gehören auch die erbitterten Grabenkämpfe der verschiedenen parteiamtlichen und wissenschaftlichen Fraktionen und schließlich die nur anfangs mühselige Konsolidierung des Projekts in den fünfziger Jahren. Der einzige, der auf eine konventionelle Universitätsausbildung (samt historischer Promotion bei Hermann Oncken) verweisen konnte, war Ernst Engelbert. Im Institut aber gerierte er sich vornehmlich als linientreuer Politruk, der „Abweichler” und „Versöhnler” an die Kandare nahm, sich auch als Großmeister der Intrige erwies. Überhaupt wurden Intrigantentum und Machtpoker – wer kann seine Beziehungen zum ZK am besten ausnutzen? – von der Equipe gepflegt.
Machthunger, Intrigantentum
Unter wissenschaftlicher „Normalisierung” versteht Sabrow auch die fragwürdige Konsolidierung durch „Steuerung” und „Überwachung”. Das Ganze ist ein trübseliges Kapitel der Indienstnahme dieser Historiker durch die unerbittlichen Repräsentanten der Parteidiktatur, welche die Macht der Geschichtsbilder immerhin so ernst nahmen, dass sie ihre Regelungswut noch auf das letzte Detail ausdehnten. Unter solchen Bedingungen konnten die Ergebnisse des Instituts – trotz des vergleichsweise großen Aufwands – nur deplorabel sein.
Am Beispiel des „Lehrbuchs der deutschen Geschichte” schildert Sabrow die Verhärtung der Diskussion. Das von 1959 bis 1969 erscheinende 12-bändige „Lehrbuch” hat drei Jahrzehnte lang das letzte Wort der Dogmatik bedeutet. Tatsächlich stellt es ein Unikat an Fehlern und Fehldeutungen dar. Mit unglaublicher Naivität wurde etwa ein objektivistischer Nationsbegriff zugrunde gelegt (so in Band I: Deutschland in der Epoche der Urgesellschaft von 500.000 v. Chr. bis circa 600 n. Chr.), der ein ganz junges, modernes Phänomen durch die erfundene Kontinuität von Jahrtausenden ersetzte. Am Feudalismus, Inbegriff „faulender Stagnation”, konnten die Verfasser weder seine eminente Wirkung auf die Herausbildung der europäischen Rechtskultur durch die Verrechtlichung von Sozialökonomie und Politik erkennen, noch konnten sie sehen, wie offen sich diese verketzerte „Gesellschaftsformation” für produktive Fortentwicklung erwies.
Der eigentliche Tiefpunkt aber wurde mit der Behandlung des 19. und 20. Jahrhunderts erreicht. Engelberg traktierte eigenhändig die beiden Abschnitte von 1848 bis 1871 und von 1871 bis 1897 (die abstruse Periodisierung folgte Lenins willkürlicher Fixierung des Beginns seiner Epoche des Imperialismus) in dem Bewusstsein, die historischen Gesetzmäßigkeiten, samt Erfüllung und Abweichung, vom hohen Kothurn der marxistisch-leninistischen Geschichtsphilosophie aus erkennen zu können.
Jede glaubwürdige Annäherung an die Realität wurde schließlich durch die Holzhammerformel Dimitroffs blockiert, wonach der Nationalsozialismus nur der Büttel der rabiatesten Variante des Finanzkapitalismus sei. Die Literaturhinweise zeugten von tiefster Provinzialität und argwöhnischer Abschottung. Dran hatte auch die – mitten im Institut ansässige – Stasi ihren Anteil: Wenn einmal die Teilnahme an Tagungen im Westen zur Debatte stand, legten Parteifunktionäre den Charakter der Wortmeldung bis ins Einzelne fest.
Nicht weniger bedrückend fällt das Kapitel über den Umgang mit jenen Konflikten aus, bei denen es um eine Abweichung von der wahren Lehre ging. Sabrow betont, dass nicht nur Zwang, sondern auch Überzeugung und Engagement der Historiker eine Rolle gespielt hätten. Daran ist zweierlei richtig. Für die erste politische Generation verbanden sich Kriegserfahrung, Aufbauwille, Bereitschaft zur Mitwirkung an einem „ehrlichen Sozialismus” und rudimentäre Marxismuskenntnisse zu einer Einstellung, die bereitwillige Kooperation ermöglichte. Wer dagegen nach dem Mauerbau groß wurde und studierte, war in aller Regel schon einer so massiven politischen Sozialisation ausgesetzt, dass die Bereitschaft zur Gefügigkeit meist verinnerlicht war. Zum herrschenden Denkverbot gehörte auch die Lüge, denn bis 1989 – als die russischen Historiker, dank Gorbatschow, sich schon freischwammen – mussten die DDR- Historiker die Aufteilung Osteuropas in den Geheimabsprachen zum Hitler-Stalin- Pakt für eine Erfindung des Klassenfeindes halten, mussten sie sowjetische Massenmorde wie die von Katyn sowie die horrende Zahl der sowjetischen KPD- Opfer des Stalinismus leugnen.
All den Beschönigungsversuchen, mit denen ehemalige Großkopfeten der Bonzokratie wie etwa Walter Schmidt noch immer die „Leistungen” der DDR- Historiker verteidigen, reißt Sabrow mit hervorragender Sachkunde den Schleier fort. Dennoch wirft seine ausgezeichnete Monographie einige grundsätzliche Probleme auf: Gab es in der DDR tatsächlich eine „zweite deutsche”, zudem eine „sozialistische Geschichtswissenschaft”, die diesen Namen verdient? Wurde dort nicht vielmehr nur eine Pseudo- oder Afterwissenschaft betrieben? Das Adjektiv „sozialistisch” werden jene Sozialdemokraten, die dem gemeineuropäischen Normaltypus einer linken Reformpartei verpflichtet sind, überdies für propagandistische Usurpation halten.
Nein, bei der vermeintlichen „zweiten deutschen Geschichtswissenschaft” trifft man in der Regel auf eine kommunistische Geschichtsscholastik, die auf vulgärmarxistischen, leninfetischistischen, letztlich geschichtstheologischen Grundlagen beruhte, die relative Autonomie der Wissenschaft negierte und zerstörte und die Direktiven der Parteidiktatur befolgte. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts empfahl Friedrich Engels, den Marxismus nur als eine „kritische Methode” unter anderen zu nutzen, dieser Appell kann aller Erfahrung nach nur in liberalen Gesellschaften befolgt werden. Das zweite Problem liegt darin, dass Institutionen und Heilswächter eben nicht über das intellektuelle Niveau der Geschichtswissenschaft entscheiden. Vielmehr tut das allein die Qualität ihrer Leistungen. Und der allergrößte Teil der historischen DDR-Publikationen ist nun einmal im Mülleimer der Geschichte gelandet.
Heilswächter, Apparatschiks
Das wäre sofort deutlich geworden, wenn Sabrow sich auch noch auf einen inhaltlichen Vergleich der ostdeutschen mit westlichen Veröffentlichungen eingelassen hätte. Einerlei worum es geht – den „Feudalismus”, die Erfindung einer „frühbürgerlichen Revolution”, die Leninsche Imperialismus- und Stamokap-Theorie, die Dimitroff-Formel, die Geschichte der Linksparteien und die Zeitgeschichte nach 1945 – nichts hält der Kritik stand, nichts hat Bestand gehabt. Wenn man den DDR-Output mit der gleichzeitigen Leistung der englischen Neomarxisten – Hobsbawm, Thompson, Hill, Hilton – vergleicht, tritt das Debakel einer durch Diktatur und Parteidoktrin verstümmelten Geschichtsschreibung um so greller zutage.
Dass einige wenige Leistungen dauerhaft bestehen bleiben, verdient umso größere Anerkennung. Von den zahllosen Untersuchungen zur deutschen Arbeiterbewegung überlebt allein Hartmut Zwahrs glänzende Analyse der Entstehung der Leipziger Arbeiterschaft; anfangs war sie heftig umstritten, da sie angeblich zu unpolitisch nur der Sozialgeschichte, nicht aber der privilegierten Bewegungsgeschichte des Proletariats nachspürte. Zwahrs brillantes Buch über „Herr und Knecht” jedoch, das dieses klassische asymmetrische Verhältnis über viele Jahrhunderte hinweg verfolgte, konnte vor der „Wende” selbstredend nicht veröffentlicht werden, da der Vergleich mit Herrschaft und Knechtschaft in der DDR sich allzu aufschlussreich aufgedrängt hätte.
Vorzügliches verdankt die Geschichtsschreibung auch den Experten der ostelbischen Agrargeschichte: Hartmut Harnisch, Fritz Müller, Rudolf Berthold, dazu das Team, das zusammen mit Volkskundlern die Magdeburger Börde erforscht hat. Im Vorwort des Buches wurde eine knappe Verbeugung vor Lenins „preußischem Weg” absolviert. Hernach folgten Ergebnisse, die auf diesem Gebiet in der Bundesrepublik damals nicht zu finden waren. Woran lag es, dass die Agrargeschichte ungleich weniger eingeschnürt war als die Industrialisierungsgeschichte? Lag es am Behauptungswillen der Historiker, an der geringeren politischen Aufladung von Problemen der ländlichen Gesellschaft, an der empirischen Arbeitsintensität? Wie auch immer, dieses kleine „Fähnlein der Aufrechten” verdiente mehr Aufmerksamkeit. Vor allem aber bedarf es einer Klärung, was mit klarem Kopf, starkem Willen und allerhand Risikobereitschaft selbst in der DDR möglich war.
HANS–ULRICH WEHLER
MARTIN SABROW: Das Diktat des Konsenses. Geschichtswissenschaft in der DDR 1949-1969. R. Oldenbourg-Verlag, München 2001. 488 Seiten, 87,62 Mark.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
"Zu der rasch anwachsenden Literatur über die innere Verfassung der DDR tritt jetzt Martin Sabrows glänzend recherchierte, von 1949 bis 1969 führende Untersuchung des `Instituts für Geschichte´ an der Akademie der Wissenschaften." Hans-Ulrich Wehler, in: Süddeutsche Zeitung vom 5.12.2001 "Wer das Wesen der DDR-Historiografie begreifen möchte, für den ist der Griff zu Sabrows Studie ein Muss." Dieter Winkler, in: Forum Politikunterricht, 3/2002