Produktdetails
- Verlag: Merlin
- ISBN-13: 9783875362701
- ISBN-10: 3875362705
- Artikelnr.: 25633819
- Herstellerkennzeichnung Die Herstellerinformationen sind derzeit nicht verfügbar.
Boualem Sansals Buch über einen SS-Mann in Algerien
Der Stoff war in der arabischen Welt bisher nicht einmal tabu, sondern einfach inexistent. Holocaust und Nationalsozialismus würden in seinem Land noch heute als Nebensache oder als zionistische Legende abgetan, sagt der Algerier Boualem Sansal. Entsprechende Reaktionen löste dieser Roman aus, als er in Frankreich vor zwei Jahren erschien (F.A.Z. vom 24. Januar 2008). Das Buch gehört in die Kategorie der Väter-Söhne-Literatur. Zwei junge, in Frankreich lebende Algerier entdecken, dass ihr Vater Hassan Hans Mourad alias Hans Schiller, ein Deutscher und in seinem algerischen Dorf ein angesehener Mann, bei der SS und im KZ tätig war. Diese Wahrheit bricht auf, als der Vater von einem islamistischen Mordkommando getötet wird und Rachel, einer der beiden Brüder, in sein Heimatdorf zurückkehrt, um Nachforschungen anzustellen. Er geht daran zugrunde und hinterlässt ein Tagebuch. Sein jüngerer Bruder Malrich, ein kleiner Dealer aus der Pariser Vorstadt, erbt dieses Tagebuch und macht sich selbst ans Schreiben.
In der Verflechtung der beiden so unterschiedlichen Tagebücher werden kontrapunktisch die Ereignisse erzählt. Rachel versucht zu begreifen, wie Veteranenruhm aus dem algerischen Unabhängigkeitskrieg und SS-Mitgliedschaft zusammenpassen, und fährt dafür auch nach Uelzen, in die Geburtsstadt des Vaters. Doch er erhält keine Antwort. "Man erfüllte die Pflicht, und das war's", sagt ihm dort in einem Park einsilbig ein Rentner, der seinen Vater als Soldaten gekannt hat. Rachels Bruder Malrich hält es weniger mit dem langwierigen Suchen nach Erklärung. Zunächst offen für die Predigten eines Vorstadtfundamentalisten, greift er mit den Kumpanen seines Clans gern zum Schlagstock, als ihm nach einem Mordfall klar wird, was für ein Typ der Prediger ist. Mit der Lektüre der Aufzeichnungen seines Bruders geht dem jungen Mann, der zuvor in einer flachen Gegenwart lebte, der Sinn für historische Zusammenhänge auf.
Die Konfrontation eines jungen Arabers mit der Schoa, die tragischen Ereignisse des algerischen Bürgerkriegs in den neunziger Jahren und die Realität in den französischen Banlieues sind die drei Stoffstränge, die in diesem Roman verknüpft wurden. Dessen Kern beruht auf einer Tatsache. Als er als Ministerialbeamter einmal durch ein auffallend sauberes algerisches Dorf gekommen sei, sagt der Autor Sansal, habe man ihm erklärt, dies sei das "Dorf des Deutschen": eines Mannes, der am Unabhängigkeitskrieg teilgenommen und es dann zur Würde eines Dorfscheichs gebracht habe. Diese Erinnerung hat der Autor mit frei erfundenen Elementen verknüpft. Wo in den vier früheren Romanen Sansals Sprachgewalt überquoll und die Handlung mit sich fortriss, wirkt diese zweistimmige diarische Fugenkomposition dünner. Bisweilen schimmern die Fäden des Erzählrasters durch. Das setzt das Buch der Gefahr allzu einfacher Assoziationslinien aus - Nationalsozialismus, Nationalislamismus. Wo Rachels Nachforschungen in Rätsel und Fragen führen, überrascht der Roman manchmal mit Schablonen und Stereotypen. Dennoch ist das von Ulrich Zieger sorgfältig übersetzte Buch aufschlussreich, voller Spannung und lesenswert.
JOSEPH HANIMANN
Boualem Sansal: "Das Dorf des Deutschen - oder Das Tagebuch der Brüder Schiller". Roman. Aus dem Französischen von Ulrich Zieger. Merlin Verlag, Gifkendorf 2009. 278 S., geb., 22,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Claudia Kramatschek ist sehr begeistert von diesem "sprachlich eleganten" und "inhaltlich verstörenden" Roman, in dem der algerische Schriftsteller Boualem Sansal historische Parallelen zwischen dem Nationalsozialismus und dem heutigen Islamismus zieht. Dass Sansal aufgrund seiner moralischen und kritischen Haltung als "persona non grata" gilt und seine Bücher in Algerien auf der schwarzen Liste stehen, verwundert die Rezensentin da nicht sonderlich. In seinem neuesten Werk "Das Dorf des Deutschen" erzählt der Autor von zwei algerischen Brüdern, die nach dem Tod des Vaters auf dessen Vergangenheit im Dritten Reich stoßen. In diese fiktive Rahmenhandlung baut Sansal "beunruhigende Fakten" des algerischen Unabhängigkeitskampfes und der Shoah mit ein. Dass dabei nicht das Regime, sondern die schweigende Bevölkerung das eigentliche Problem der historischen Vergangenheit darstellt, kann Sansal nach Meinung Kramatscheks sehr deutlich herausarbeiten. Die Rezensentin schätzt die "brisanten" und "gewagten" Ausflüge in die jüngste Vergangenheit und wünscht dem leidenschaftlichen Schriftsteller mit diesem Buch den ihrer Meinung nach verdienten Erfolg.
© Perlentaucher Medien GmbH
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