Zwischen Landflucht und Landlust
Auch im 21. Jahrhundert, in einer Zeit der Großstädte und Metropolen, lebt die Hälfte der Deutschen auf dem Land. In ihren Dörfern stecken viel Dynamik, Leben und Zukunft. Die ländliche Gemeinschaft ist vielfältiger geworden. Bauern arbeiten mit Sensortechnik und GPS statt mit Pflug und Ochsen. Neue Gewerbe siedeln sich an.
Wie hat sich die dörfliche Wirtschaft seit den Zeiten von Müller, Schmied und Dorflehrer
entwickelt? Wie lebten die Dorfbewohner vom Mittelalter bis zur Neuzeit? Wo stecken heute die Chancen, wo die Perspektiven? Oder sind die Zeiten des Dorfs doch vorbei? Gerhard Henkel beschreibt eindrücklich alle Aspekte dieser nach wie vor beliebten Siedlungsform. Er lebt selbst von Kindesbeinen an im Dorf.
Auch im 21. Jahrhundert, in einer Zeit der Großstädte und Metropolen, lebt die Hälfte der Deutschen auf dem Land. In ihren Dörfern stecken viel Dynamik, Leben und Zukunft. Die ländliche Gemeinschaft ist vielfältiger geworden. Bauern arbeiten mit Sensortechnik und GPS statt mit Pflug und Ochsen. Neue Gewerbe siedeln sich an.
Wie hat sich die dörfliche Wirtschaft seit den Zeiten von Müller, Schmied und Dorflehrer
entwickelt? Wie lebten die Dorfbewohner vom Mittelalter bis zur Neuzeit? Wo stecken heute die Chancen, wo die Perspektiven? Oder sind die Zeiten des Dorfs doch vorbei? Gerhard Henkel beschreibt eindrücklich alle Aspekte dieser nach wie vor beliebten Siedlungsform. Er lebt selbst von Kindesbeinen an im Dorf.
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Es sieht nicht gut aus für das Dorf. Die historischen Ups and Downs dieser autonomen Lebensform am Rand der großen Städte weiß der Autor anhand eines riesigen Erfahrungsschatzes, gespeist aus jahrzehntelanger Forschung zum Thema, nachzuzeichnen, versichert der Rezensent. Neue Landlust, alte Probleme wie die Verödung, die Eingemeindung, die Aushöhlung kommunaler Politik - über all das erfährt Klaus Brill hier Aufschlussreiches. Wie Gerhard Henkel in seinem umfassenden Überblick über die deutsche Dorfgeschichte (als europäische Erfolgsgeschichte von der neolithischen Revolution bis zur Moderne) über 300 Dörfer beispielhaft erkundet, macht Brill Spaß und Eindruck. Karten, Bilder und ein detaillierter Blick auf die Veränderungen dörflicher Strukturen bis heute runden das Panorama ab, das für Brill nichts von einem Heimatmuseum hat, sondern alle Vorzüge einer auf Kenntnis basierenden nüchternen, doch nicht leblosen Analyse.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 25.06.2012Landflucht oder Landlust?
Das Dorf als Erfolgsmodell europäischer Vielfalt
Magazine wie "Landlust", "Landidee" oder "Mein schönes Land" erreichen Auflagenrekorde. Die erfolgreiche neue Zeitschriftengattung scheint der Beweis für Gerhard Henkels These vom Dorf als "Erfolgsmodell europäischer Vielfalt". Lebendigkeit, soziale Kompetenz und eine Kultur des Anpackens zeichneten intakte Dörfer bis heute aus, sagt der Geograph, der aus dem 2669-Seelen-Ort Fürstenberg in Ostwestfalen stammt. Die aktuelle Begeisterung für das Landleben feiert der vormalige Professor an der Gesamthochschule Essen mit einem gut zwei Kilo schweren, üppig bebilderten Buch. Er nennt das Dorf "ein zunehmend unbekanntes Wesen, das im öffentlichen Bewusstsein generell eine geringere Rolle spielt, als ihm eigentlich zusteht". Dessen Wert für die Gesellschaft deutlich zu machen und dem ländlichen Raum mehr Anerkennung zu verschaffen ist das Anliegen seines bunten Kaleidoskops.
Das schmucke Großformat versteht sich als soziokulturelle Zeitreise in die dörfliche Wirtschaft, Gesellschaft, Kultur und Politik vom Mittelalter bis in die Gegenwart. Der Aufbruch deutscher Dörfer in die Moderne geschah danach um das Jahr 1800, als sich die Agrar- zur Industriegesellschaft zu wandeln begann. Die Phase vehementer sozioökonomischer Veränderungen datiert zwischen 1950 und heute. Gerhard Henkel, Jahrgang 1943, hat die nachlassende Landwirtschaft und Infrastruktur, den hohen Verlust an dörflichen Arbeitsplätzen und die wirtschaftliche Verarmung in seinem kleinen Heimatort Fürstenberg in der Nähe von Paderborn von Kindesbeinen an gesehen. In seinem Buch als Summe seines Lebens und seiner Forschung ist davon zu lesen. Ein Kapitel beschäftigt sich sogar mit dem Kampf um manchen letzten Dorfladen in der Provinz, dessen Schließung die private Grundversorgung zum Problem macht.
Doch alles in allem wird ein durchaus positives Bild der ländlichen Wirtschaft präsentiert. Beim genauen Hinschauen zeige sich die Ökonomie in der Provinz robust, vielseitig und ausgewogen: "Trotz mancherlei Wandlungen und Krisen sind Land- und Forstwirtschaft sowie Handwerk und mittelständisches Gewerbe bis heute die ökonomische Basis des ländlichen Raumes." Die Gewichtsverschiebungen hätten nicht dazu geführt, dass man ländliche Gegenden als Verlierer bezeichnen könne.
Detailliert beschreibt Henkel dörfliches Wirtschaften heute. Wir erfahren, dass Bauern inzwischen mit Sensortechnik und GPS statt mit Pflug und Ochsen arbeiten, dass neue Gewerbe im ländlichen Raum traditionelles Handwerk abgelöst haben und dass vielerorts auf Tourismus gesetzt wird. Weitgehend ausgespart bleibt, dass wuchernde Gewerbeparks und Eigenheimsiedlungen das Areal um alte Dorfkerne zersiedeln und dass die noch vorhandene herkömmliche Landwirtschaft in hohem Maße von Subventionen lebt und von der Politik vor Konkurrenz geschützt werden muss.
Auch die Heerscharen von Berufspendlern aus den 30 000 deutschen Dörfern in nahe Städte konstatiert Henkel lakonisch wie das Wetter: "Der moderne Dorfbewohner ist ein Pendler geworden", schreibt er. "Angesichts der Schrumpfungsprozesse in der Agrarwirtschaft und im Dorfhandwerk haben sich die Dorfbewohner mehr und mehr ehemals städtischen Berufen zugewandt und sind als Arbeiter, Angestellte oder Beamte in Industriebetrieben oder diversen Dienstleistungsberufen meist in benachbarten Klein-, Mittel- oder Großstädten tätig." Welche sozialen Konsequenzen der Exodus für die Dorfgemeinschaft hat, wird nicht diskutiert.
Stattdessen richtet Henkel seinen liebevollen Blick auf den relativ hohen Wohlstand im ländlichen Raum, auch wenn dieser "nicht unbedingt aus allen Statistiken (wie zum Beispiel über Kaufkraft und Einkommen) ablesbar ist". So gebe es eine beträchtliche Eigenheimquote, "mit über 80 Prozent mehr als doppelt so hoch wie in den Großstädten". Außerdem trügen informelles Wirtschaften und soziales Kapital zum Wohlstand auf dem Land bei: "Die Menschen helfen sich gegenseitig - generell mehr als in der Stadt - mit Gütern und Dienstleistungen."
Ein großes Plus sieht Henkel auch in der Ortsbezogenheit auf dem Land. Die Zufriedenheit mit dem von Kirchen, Festen, Vereinen und Nachbarschaft geprägten Wohnumfeld der Dorfbevölkerung sei mit 80 bis 90 Prozent doppelt so hoch wie vergleichbare Empfindungen in den Großstädten. Das sei eminent wichtig für die erfolgreiche Ansiedlung von Wirtschaftsbetrieben: "Die zufriedenen Einwohner sind ein weicher Wirtschaftsfaktor des ländlichen Raumes."
Henkels durchaus nostalgisches Dorfkompendium endet zuversichtlich: "Mehr Licht als Schatten" heißt das Fazit des Autors für das Dorf von heute. Allerdings wird die Sehnsucht nach einer vormodernen intakten Welt mit Familie, Nachbarschaft und Natur, Fachwerkhäusern, Vereinen und Kirchengemeinde das Dorf in der globalisierten Welt allenfalls als blumengeschmückte Kulisse retten können.
ULLA FÖLSING.
Gerhard Henkel: Das Dorf.
Theiss Verlag, Stuttgart 2011, 344 Seiten, 49,95 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Das Dorf als Erfolgsmodell europäischer Vielfalt
Magazine wie "Landlust", "Landidee" oder "Mein schönes Land" erreichen Auflagenrekorde. Die erfolgreiche neue Zeitschriftengattung scheint der Beweis für Gerhard Henkels These vom Dorf als "Erfolgsmodell europäischer Vielfalt". Lebendigkeit, soziale Kompetenz und eine Kultur des Anpackens zeichneten intakte Dörfer bis heute aus, sagt der Geograph, der aus dem 2669-Seelen-Ort Fürstenberg in Ostwestfalen stammt. Die aktuelle Begeisterung für das Landleben feiert der vormalige Professor an der Gesamthochschule Essen mit einem gut zwei Kilo schweren, üppig bebilderten Buch. Er nennt das Dorf "ein zunehmend unbekanntes Wesen, das im öffentlichen Bewusstsein generell eine geringere Rolle spielt, als ihm eigentlich zusteht". Dessen Wert für die Gesellschaft deutlich zu machen und dem ländlichen Raum mehr Anerkennung zu verschaffen ist das Anliegen seines bunten Kaleidoskops.
Das schmucke Großformat versteht sich als soziokulturelle Zeitreise in die dörfliche Wirtschaft, Gesellschaft, Kultur und Politik vom Mittelalter bis in die Gegenwart. Der Aufbruch deutscher Dörfer in die Moderne geschah danach um das Jahr 1800, als sich die Agrar- zur Industriegesellschaft zu wandeln begann. Die Phase vehementer sozioökonomischer Veränderungen datiert zwischen 1950 und heute. Gerhard Henkel, Jahrgang 1943, hat die nachlassende Landwirtschaft und Infrastruktur, den hohen Verlust an dörflichen Arbeitsplätzen und die wirtschaftliche Verarmung in seinem kleinen Heimatort Fürstenberg in der Nähe von Paderborn von Kindesbeinen an gesehen. In seinem Buch als Summe seines Lebens und seiner Forschung ist davon zu lesen. Ein Kapitel beschäftigt sich sogar mit dem Kampf um manchen letzten Dorfladen in der Provinz, dessen Schließung die private Grundversorgung zum Problem macht.
Doch alles in allem wird ein durchaus positives Bild der ländlichen Wirtschaft präsentiert. Beim genauen Hinschauen zeige sich die Ökonomie in der Provinz robust, vielseitig und ausgewogen: "Trotz mancherlei Wandlungen und Krisen sind Land- und Forstwirtschaft sowie Handwerk und mittelständisches Gewerbe bis heute die ökonomische Basis des ländlichen Raumes." Die Gewichtsverschiebungen hätten nicht dazu geführt, dass man ländliche Gegenden als Verlierer bezeichnen könne.
Detailliert beschreibt Henkel dörfliches Wirtschaften heute. Wir erfahren, dass Bauern inzwischen mit Sensortechnik und GPS statt mit Pflug und Ochsen arbeiten, dass neue Gewerbe im ländlichen Raum traditionelles Handwerk abgelöst haben und dass vielerorts auf Tourismus gesetzt wird. Weitgehend ausgespart bleibt, dass wuchernde Gewerbeparks und Eigenheimsiedlungen das Areal um alte Dorfkerne zersiedeln und dass die noch vorhandene herkömmliche Landwirtschaft in hohem Maße von Subventionen lebt und von der Politik vor Konkurrenz geschützt werden muss.
Auch die Heerscharen von Berufspendlern aus den 30 000 deutschen Dörfern in nahe Städte konstatiert Henkel lakonisch wie das Wetter: "Der moderne Dorfbewohner ist ein Pendler geworden", schreibt er. "Angesichts der Schrumpfungsprozesse in der Agrarwirtschaft und im Dorfhandwerk haben sich die Dorfbewohner mehr und mehr ehemals städtischen Berufen zugewandt und sind als Arbeiter, Angestellte oder Beamte in Industriebetrieben oder diversen Dienstleistungsberufen meist in benachbarten Klein-, Mittel- oder Großstädten tätig." Welche sozialen Konsequenzen der Exodus für die Dorfgemeinschaft hat, wird nicht diskutiert.
Stattdessen richtet Henkel seinen liebevollen Blick auf den relativ hohen Wohlstand im ländlichen Raum, auch wenn dieser "nicht unbedingt aus allen Statistiken (wie zum Beispiel über Kaufkraft und Einkommen) ablesbar ist". So gebe es eine beträchtliche Eigenheimquote, "mit über 80 Prozent mehr als doppelt so hoch wie in den Großstädten". Außerdem trügen informelles Wirtschaften und soziales Kapital zum Wohlstand auf dem Land bei: "Die Menschen helfen sich gegenseitig - generell mehr als in der Stadt - mit Gütern und Dienstleistungen."
Ein großes Plus sieht Henkel auch in der Ortsbezogenheit auf dem Land. Die Zufriedenheit mit dem von Kirchen, Festen, Vereinen und Nachbarschaft geprägten Wohnumfeld der Dorfbevölkerung sei mit 80 bis 90 Prozent doppelt so hoch wie vergleichbare Empfindungen in den Großstädten. Das sei eminent wichtig für die erfolgreiche Ansiedlung von Wirtschaftsbetrieben: "Die zufriedenen Einwohner sind ein weicher Wirtschaftsfaktor des ländlichen Raumes."
Henkels durchaus nostalgisches Dorfkompendium endet zuversichtlich: "Mehr Licht als Schatten" heißt das Fazit des Autors für das Dorf von heute. Allerdings wird die Sehnsucht nach einer vormodernen intakten Welt mit Familie, Nachbarschaft und Natur, Fachwerkhäusern, Vereinen und Kirchengemeinde das Dorf in der globalisierten Welt allenfalls als blumengeschmückte Kulisse retten können.
ULLA FÖLSING.
Gerhard Henkel: Das Dorf.
Theiss Verlag, Stuttgart 2011, 344 Seiten, 49,95 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main