Ein Mann in der Mitte des Lebens, Schriftsteller. Auf einer Lesereise, unterwegs durch fremde Länder, zieht er sich in einer dramatischen, ebenso ausweglos wie aussichtslos scheinenden Begegnung mit einer jungen Frau das zu, was er später eine »Liebesvergiftung« nennen wird. Nach dieser Begegnung findet er sich nicht mehr zurecht, er verkommt. Auch das Verhältnis zu seiner jahrelangen Lebensgefährtin, die er erst kürzlich geheiratet hat, wird dadurch zerstört. Er übersiedelt, nein flieht von Zürich nach Paris, wo ihm eine verstorbene Tante eine winzige Wohnung hinterlassen hat. In dieser Zelle wartet er, wider alle Vernunft, daß die junge Geliebte sich für ihn entscheidet und daß das Schreiben wieder von ihm Besitz ergreift. Um die Wartezeit bis dahin zu überbrücken, klammert er sich an seine täglichen Notate, in denen er die Geschichte dieser verrückten Liebe, seine Geschichte bewahrt: Das Drehbuch der Liebe.
Paul Nizon erzählt in seinem Journal - diesem Fortsetzungsromaneines einzigartigen Künstlerlebens - von der grausamen Verzauberung durch die Liebe, von den Exerzitien der Einsamkeit in Paris, seiner Sehnsucht nach Neugeburt durch die Zaubermacht der Metropole und nicht zuletzt von den Lektionen, die das Schreiben und die Frauen ihm erteilten.
Paul Nizon erzählt in seinem Journal - diesem Fortsetzungsromaneines einzigartigen Künstlerlebens - von der grausamen Verzauberung durch die Liebe, von den Exerzitien der Einsamkeit in Paris, seiner Sehnsucht nach Neugeburt durch die Zaubermacht der Metropole und nicht zuletzt von den Lektionen, die das Schreiben und die Frauen ihm erteilten.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.11.2004Am Lebenspflasterstrand
Liebesvergiftung: Paul Nizons Journal der Jahre 1973 bis 1979
Seit fast dreißig Jahren lebt der aus Bern stammende Schriftsteller Paul Nizon in Paris und flaniert durch die Straßen der Metropole, die er, ein Nachfahre Walter Benjamins in der Nostalgie für die Hauptstadt des 19. Jahrhunderts, als unersetzbares "Lebenspflaster" erlebt. Die Begeisterung für das französische savoir-vivre mag ein Grund dafür sein, daß Nizons Bücher in Frankreich seit langem eine wesentlich größere Resonanz als im deutschsprachigen Raum finden. Von der Liebe zu Paris, den Frauen, der Kunst im allgemeinen und dem Schreiben im besonderen erzählt Nizon seit den sechziger Jahren in seinen Romanen, Erzählungen und Essays, aber auch in seinen privaten Notizen.
Denn seit Jahrzehnten praktiziert er die Technik des "Warmschreibens": Neben seinen bekannten Büchern steht eine Fülle von Aufzeichnungen, die sein persönliches Leben wie sein Schreiben reflektieren. Obwohl diese Texte offenkundig der Selbstvergewisserung dienen sollen, hat Nizon bereits zweimal Auszüge aus diesen Tagebüchern veröffentlicht. Nun ist das Journal der Jahre 1973 bis 1979 erschienen; Wend Kässens hat es mit einem informativen Nachwort versehen. Dieses Journal schließt die Lücke zwischen den bereits veröffentlichten Sammlungen "Die Erstausgaben der Gefühle" und "Die Innenseite des Mantels". Damit ist Nizons Schaffenszeit von 1961 bis 1989 nunmehr vollständig dokumentiert.
Die siebziger Jahre waren für Paul Nizon eine produktive und turbulente Zeit: Nachdem sein 1963 erschienener Roman "Canto" auf Skepsis bei der Kritik gestoßen war, fanden seine jüngeren Werke endlich größere Anerkennung. Für den Roman "Stolz" erhielt er 1975 den Bremer Literaturpreis, was ihn, wie im Journal nachzulesen, selbstbewußt auf den Büchner-Preis hoffen ließ, den er freilich bis heute nicht bekommen hat. 1977 siedelte Nizon von Zürich nach Paris über, in das "Schachtelzimmer" einer engen, geerbten Wohnung, das er seitdem oft beschrieben hat.
Paris ist auch der Schauplatz jener "Liebesvergiftung", von der Nizon später in seinem bekanntesten Roman "Das Jahr der Liebe" (1981) erzählt hat. Was dort sprachgewaltig zu einer Erfahrung größter Erfüllung kondensiert wird, erscheint in den Aufzeichnungen des Journals als quälendes Krisenerlebnis, das sich über Monate voll von Hingabe, Zweifel, Eifersucht, dem Wunsch zur Verschmelzung und dem Willen zur Selbstbehauptung hinzieht. Mit einer Offenheit, die weder sich noch seine Partnerinnen schont, breitet Nizon das Drama seiner Leidenschaften aus, das sich zwischen Zürich, Paris und London abspielt und das zum Ende seiner zweiten, 1973 geschlossenen Ehe führt.
Die Leser des Journals werden dabei Zeugen einer Selbstentblößung, die oft genug die Grenzen des Peinlichen streift. So zum Beispiel, wenn Nizon sich mit der Figur des "Hurenhirten" aus dem "Canto"-Roman identifiziert, seiner Ehefrau ausgiebig von seinen "Hürchengeschichten" erzählt und ihr Verständnis für seine zahllosen Affären abnötigt. Sein sentimental-kitischiger Lobpreis der käuflichen Liebe - "ein Wunder, wenn man bedenkt, welche Wälle von Fremde und Furcht, Berührungsfurcht, Mißtrauen dabei überwunden werden in diesem, ich kann es nicht anders nennen, Vertrauensbeweis" - ist, vorsichtig ausgedrückt, Zeichen einer eingeschränkten Weltsicht, die das eigene Erleben zum Maßstab für alle Begegnungen erhebt.
Die Fokussierung auf die eigene Wahrnehmung gehört freilich seit den ersten Veröffentlichungen zu den Grundlagen von Nizons Poetik. Auch davon ist in diesen Aufzeichnungen die Rede, und tatsächlich bilden die kunstkritischen Passagen die lesenswertesten Abschnitte des Buches. Es sind vor allem zwei bewunderte Vorbilder, mit denen sich Nizon in den siebziger Jahren beschäftigt hat. Über Vincent van Gogh hatte er bereits Mitte der fünfziger Jahre seine Doktorarbeit verfaßt, zwanzig Jahre später gab er seine Briefe heraus und entdeckte in Paris aufs neue die Ähnlichkeiten zwischen der Arbeitsweise des Malers und seinem eigenen Schreiben: "Das Künstlerische als der einzig mögliche Lebenszugang". Das Bekenntnis zur Kunst als Lebensform findet Nizon auch in den Texten Robert Walsers, seines anderen Leitbildes dieser Jahre. Die einfühlsamen Interpretationen der Briefe seines Schweizer Landsmannes verraten viel Sympathie für dessen Zurückgezogenheit, die bis zur Verschrobenheit reichte: "Man hat den Eindruck, er schreibe wie ein inhaftierter Sonntagsmaler."
Unter den lebenden Schriftstellern verehrte Nizon in den siebziger Jahren vor allem Elias Canetti, mit dem er mehrfach zusammentraf und dessen Beschreibungskunst er bewundert: "Überhaupt hat Canetti die Fähigkeit, alles und auch das Nichtigste bedeutungsvoll zu sehen." Hier spiegelt sich Nizons eigene Freude an der Beobachtung, die ihn seitenlang über das Pariser Straßenpflaster oder seine Eindrücke aus der New Yorker U-Bahn schreiben läßt. Von Peter Handke, den Nizon 1977 in seiner Wohnung in der Nähe von Paris besuchte, zeichnet er ein facettenreiches Bild. Auf der einen Seite stört er sich an Handkes großspurigem Auftreten, das ihn vom Kellner im Luxusrestaurant "VIP-Aufmerksamkeit" erwarten läßt - möglicherweise zeigt sich hier auch ein wenig Neid auf den beim Publikum erfolgreicheren jüngeren Kollegen. Andererseits lobt Nizon an Handke "das Scheue, sehr Straffe, Profilierte, Schweigsame, intensiv Nachdenkliche, Jünglingshafte".
Nizon selbst hatte zu diesem Zeitpunkt das Jünglingsalter hinter sich gebracht. Mehrfach ist in diesem Journal von "der Mitte des Lebens" die Rede und dem dringenden Wunsch, etwas Dauerhaftes zu schaffen. Das ist ihm mit Büchern wie "Untertauchen", "Stolz", "Das Jahr der Liebe" und "Im Bauch des Wals" zweifellos gelungen. Seine Journale indes sollten als Werkstattberichte gelesen werden, die das Hauptwerk begleiten und kommentieren. Sie geben Zeugnis von der intensiven Arbeit, die für den selbsternannten "Autobiographiefiktionär" Nizon notwendig ist, um dem eigenen Erleben jene poetische Dichte zu verleihen, für die er seit langem geschätzt wird.
SABINE DOERING.
Paul Nizon: "Das Drehbuch der Liebe". Journal 1973-1979. Herausgegeben von Wend Kässens. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2004. 282 S., geb., 22,80 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Liebesvergiftung: Paul Nizons Journal der Jahre 1973 bis 1979
Seit fast dreißig Jahren lebt der aus Bern stammende Schriftsteller Paul Nizon in Paris und flaniert durch die Straßen der Metropole, die er, ein Nachfahre Walter Benjamins in der Nostalgie für die Hauptstadt des 19. Jahrhunderts, als unersetzbares "Lebenspflaster" erlebt. Die Begeisterung für das französische savoir-vivre mag ein Grund dafür sein, daß Nizons Bücher in Frankreich seit langem eine wesentlich größere Resonanz als im deutschsprachigen Raum finden. Von der Liebe zu Paris, den Frauen, der Kunst im allgemeinen und dem Schreiben im besonderen erzählt Nizon seit den sechziger Jahren in seinen Romanen, Erzählungen und Essays, aber auch in seinen privaten Notizen.
Denn seit Jahrzehnten praktiziert er die Technik des "Warmschreibens": Neben seinen bekannten Büchern steht eine Fülle von Aufzeichnungen, die sein persönliches Leben wie sein Schreiben reflektieren. Obwohl diese Texte offenkundig der Selbstvergewisserung dienen sollen, hat Nizon bereits zweimal Auszüge aus diesen Tagebüchern veröffentlicht. Nun ist das Journal der Jahre 1973 bis 1979 erschienen; Wend Kässens hat es mit einem informativen Nachwort versehen. Dieses Journal schließt die Lücke zwischen den bereits veröffentlichten Sammlungen "Die Erstausgaben der Gefühle" und "Die Innenseite des Mantels". Damit ist Nizons Schaffenszeit von 1961 bis 1989 nunmehr vollständig dokumentiert.
Die siebziger Jahre waren für Paul Nizon eine produktive und turbulente Zeit: Nachdem sein 1963 erschienener Roman "Canto" auf Skepsis bei der Kritik gestoßen war, fanden seine jüngeren Werke endlich größere Anerkennung. Für den Roman "Stolz" erhielt er 1975 den Bremer Literaturpreis, was ihn, wie im Journal nachzulesen, selbstbewußt auf den Büchner-Preis hoffen ließ, den er freilich bis heute nicht bekommen hat. 1977 siedelte Nizon von Zürich nach Paris über, in das "Schachtelzimmer" einer engen, geerbten Wohnung, das er seitdem oft beschrieben hat.
Paris ist auch der Schauplatz jener "Liebesvergiftung", von der Nizon später in seinem bekanntesten Roman "Das Jahr der Liebe" (1981) erzählt hat. Was dort sprachgewaltig zu einer Erfahrung größter Erfüllung kondensiert wird, erscheint in den Aufzeichnungen des Journals als quälendes Krisenerlebnis, das sich über Monate voll von Hingabe, Zweifel, Eifersucht, dem Wunsch zur Verschmelzung und dem Willen zur Selbstbehauptung hinzieht. Mit einer Offenheit, die weder sich noch seine Partnerinnen schont, breitet Nizon das Drama seiner Leidenschaften aus, das sich zwischen Zürich, Paris und London abspielt und das zum Ende seiner zweiten, 1973 geschlossenen Ehe führt.
Die Leser des Journals werden dabei Zeugen einer Selbstentblößung, die oft genug die Grenzen des Peinlichen streift. So zum Beispiel, wenn Nizon sich mit der Figur des "Hurenhirten" aus dem "Canto"-Roman identifiziert, seiner Ehefrau ausgiebig von seinen "Hürchengeschichten" erzählt und ihr Verständnis für seine zahllosen Affären abnötigt. Sein sentimental-kitischiger Lobpreis der käuflichen Liebe - "ein Wunder, wenn man bedenkt, welche Wälle von Fremde und Furcht, Berührungsfurcht, Mißtrauen dabei überwunden werden in diesem, ich kann es nicht anders nennen, Vertrauensbeweis" - ist, vorsichtig ausgedrückt, Zeichen einer eingeschränkten Weltsicht, die das eigene Erleben zum Maßstab für alle Begegnungen erhebt.
Die Fokussierung auf die eigene Wahrnehmung gehört freilich seit den ersten Veröffentlichungen zu den Grundlagen von Nizons Poetik. Auch davon ist in diesen Aufzeichnungen die Rede, und tatsächlich bilden die kunstkritischen Passagen die lesenswertesten Abschnitte des Buches. Es sind vor allem zwei bewunderte Vorbilder, mit denen sich Nizon in den siebziger Jahren beschäftigt hat. Über Vincent van Gogh hatte er bereits Mitte der fünfziger Jahre seine Doktorarbeit verfaßt, zwanzig Jahre später gab er seine Briefe heraus und entdeckte in Paris aufs neue die Ähnlichkeiten zwischen der Arbeitsweise des Malers und seinem eigenen Schreiben: "Das Künstlerische als der einzig mögliche Lebenszugang". Das Bekenntnis zur Kunst als Lebensform findet Nizon auch in den Texten Robert Walsers, seines anderen Leitbildes dieser Jahre. Die einfühlsamen Interpretationen der Briefe seines Schweizer Landsmannes verraten viel Sympathie für dessen Zurückgezogenheit, die bis zur Verschrobenheit reichte: "Man hat den Eindruck, er schreibe wie ein inhaftierter Sonntagsmaler."
Unter den lebenden Schriftstellern verehrte Nizon in den siebziger Jahren vor allem Elias Canetti, mit dem er mehrfach zusammentraf und dessen Beschreibungskunst er bewundert: "Überhaupt hat Canetti die Fähigkeit, alles und auch das Nichtigste bedeutungsvoll zu sehen." Hier spiegelt sich Nizons eigene Freude an der Beobachtung, die ihn seitenlang über das Pariser Straßenpflaster oder seine Eindrücke aus der New Yorker U-Bahn schreiben läßt. Von Peter Handke, den Nizon 1977 in seiner Wohnung in der Nähe von Paris besuchte, zeichnet er ein facettenreiches Bild. Auf der einen Seite stört er sich an Handkes großspurigem Auftreten, das ihn vom Kellner im Luxusrestaurant "VIP-Aufmerksamkeit" erwarten läßt - möglicherweise zeigt sich hier auch ein wenig Neid auf den beim Publikum erfolgreicheren jüngeren Kollegen. Andererseits lobt Nizon an Handke "das Scheue, sehr Straffe, Profilierte, Schweigsame, intensiv Nachdenkliche, Jünglingshafte".
Nizon selbst hatte zu diesem Zeitpunkt das Jünglingsalter hinter sich gebracht. Mehrfach ist in diesem Journal von "der Mitte des Lebens" die Rede und dem dringenden Wunsch, etwas Dauerhaftes zu schaffen. Das ist ihm mit Büchern wie "Untertauchen", "Stolz", "Das Jahr der Liebe" und "Im Bauch des Wals" zweifellos gelungen. Seine Journale indes sollten als Werkstattberichte gelesen werden, die das Hauptwerk begleiten und kommentieren. Sie geben Zeugnis von der intensiven Arbeit, die für den selbsternannten "Autobiographiefiktionär" Nizon notwendig ist, um dem eigenen Erleben jene poetische Dichte zu verleihen, für die er seit langem geschätzt wird.
SABINE DOERING.
Paul Nizon: "Das Drehbuch der Liebe". Journal 1973-1979. Herausgegeben von Wend Kässens. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2004. 282 S., geb., 22,80 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
"Das Drehbuch der Liebe" ist bereits der zweite Journal-Band des seit langem in Paris lebenden Schweizer Schriftstellers Paul Nizon, und obwohl Herausgeber Wend Kässens das Textkonvolut aus Notizen, Skizzen, Briefen und so weiter bereits geordnet haben soll, müsse sich der Leser nach wie vor durch die Textmassen "navigieren", warnt Samuel Moser. Er rät keineswegs von der Lektüre ab, seines Erachtens winken im Journal lohnenswerte Entdeckungen, handelt es doch die für Nizon durchaus wichtigen Jahre 1973 - 1979 ab. Im Klartext: Fündig wird vor allem derjenige, der auch Nizons Romane aus jener Zeit kennt, beispielsweise jenen "Roman der Liebe", dem nun das Drehbuch hinterher geliefert wird. Moser verspürt eine eigenartige "Kombination von Melancholie und Geilheit" in Nizons Texten, die davon zeugen, dass der Schriftsteller seinen Beruf regelrecht "als Amt" versieht: mit kriegerischem Ernst, meint der Rezensent. Dazu gehört für ihn auch die paradoxe Entdeckung, dass der Autor nur unter Aussschluss von der Welt schreiben könne, die genau jene betrifft, über die Nizon schreibt: Frau, Kinder, Geliebte, Freunde. Als Triebfeder von Nizons Schaffen vermutet Moser: Leere.
© Perlentaucher Medien GmbH
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