Charlotte Beradt, die als Journalistin in Berlin arbeitete, wurde ab 1933 nicht mehr beschäftigt, floh 1939 nach England und 1940 weiter nach New York. Charlotte Beradt sammelte Träume, die zwischen 1933 und 1939 geträumt wurden, und befragte dazu Menschen ihrer Umgebung: Schneiderin, Nachbar, Tante, Milchmann, den befreundeten Unternehmer, den Arzt ... Fünfzig "von der Diktatur diktierte Träume" hat sie in ihren 1966 erstmals erschienenen Klassiker der Traumdokumentation aufgenommen. Eine erste Auswahl, 1943 in einer amerikanischen Zeitschrift erschienen, begann mit den Sätzen:
"Ich erwachte schweißgebadet, mit zusammengebissenen Zähnen. Wieder, wie in zahllosen Nächten davor, war ich in einem Traum von einem Ort zum nächsten und immer weiter gejagt worden - angeschossen, gefoltert, skalpiert. Aber in dieser Nacht kam mir in den Sinn, daß ich wohl nicht die einzige unter Abertausenden war, die durch die Diktatur zu solchen Träumen verurteilt wurde. Was meine Träume beherrschte, mußte auch ihre beherrschen - atemlose Flucht über Felder, Versteck auf schwindelerregend hohen Türmen, Sichverkriechen in Gräbern, die SS-Männer stets auf den Fersen. Ich begann, andere Leute nach ihren Träumen zu befragen."
"Ich erwachte schweißgebadet, mit zusammengebissenen Zähnen. Wieder, wie in zahllosen Nächten davor, war ich in einem Traum von einem Ort zum nächsten und immer weiter gejagt worden - angeschossen, gefoltert, skalpiert. Aber in dieser Nacht kam mir in den Sinn, daß ich wohl nicht die einzige unter Abertausenden war, die durch die Diktatur zu solchen Träumen verurteilt wurde. Was meine Träume beherrschte, mußte auch ihre beherrschen - atemlose Flucht über Felder, Versteck auf schwindelerregend hohen Türmen, Sichverkriechen in Gräbern, die SS-Männer stets auf den Fersen. Ich begann, andere Leute nach ihren Träumen zu befragen."
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 11.12.2016Kein Alb ist völlig Traum
Wie sich aus den Träumen der Zeitgenossen eine Parallelgeschichte des 20. Jahrhunderts und seiner Schrecken ergibt, davon erzählen zwei neue Bücher
In den Jahren von 1933 bis 1939 sammelte die Journalistin Charlotte Beradt, die in Berlin lebte, mit Hilfe ihrer Freunde, darunter einem Arzt, der seine Patienten auszufragen verstand, Träume von Menschen aus ihrer nächsten Umgebung. Dann floh sie nach England, 1940 weiter nach New York. Das Buch "Das Dritte Reich des Traums" erschien 1966 bei der Nymphenburger Verlagsanstalt in München auf Deutsch, 1981 wurde es vom Suhrkamp-Verlag in Frankfurt auf Anraten des Historikers Reinhart Koselleck erneut herausgebracht. Jetzt liegt es wieder vor, dieses Mal herausgegeben von der Germanistin Barbara Hahn, die gleichzeitig einen Essay mit dem großen Titel "Endlose Nacht. Träume im Jahrhundert der Gewalt" veröffentlichte.
Die Idee des assoziativen und quellenreichen Buches von Barbara Hahn, sicher bin ich mir nicht, ob damit schon alles gesagt ist, mag darauf hinauslaufen zu zeigen, dass sich mit Träumen eine Art parallele Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts erzählen ließe, in der ebenfalls Kriege, Konzentrationslager und Gefängnisse, Verrohung, Vernichtung und Auslöschung ihre Spuren hinterlassen haben. Charlotte Beradt hat ihr Buch nicht "Der Traum im Dritten Reich" genannt, sie sammelte nicht einfach nur Nachtgewächse aus den ersten Jahren der deutschen Diktatur. Träume von Mitgliedern der SA oder anderen hilfreichen Freunden des Regimes sucht der Leser vergeblich. "Das Dritte Reich des Traums" soll ihn davon überzeugen, dass die normalen Erfahrungen der Diktatur, die sich auf den langen Weg ins Herz der bewussten Psyche gemacht hatten, sich zuerst in Träumen niederschlagen konnten. Deren Bilder und Szenen hielten, wie die Bilder und Szenen der Literatur, die seelischen Verkrümmungen fest, die Menschen im nationalsozialistischen Deutschland erlitten.
Barbara Hahn weist zu Recht in ihrem Nachwort darauf hin, dass Beradt ihr Buch mit großem Geschick aus den gesammelten Träumen, Zitaten von Kafka, Hannah Arendt und anderen sowie aus eigenen Kommentaren komponierte. Als ein solch kunstvolles Gebilde beansprucht das Buch, Literatur zu sein, ein Gefäß für die lebendige Seele, kein Archiv von toten Dokumenten, die komprimierte Manifestation einer neuen Realität, deren totalitäre Eigenarten die Zeitgenossen überraschte und überwältigte. Das "Dritte Reich" okkupierte die Innenwelten der Träumer schneller, als den von der Diktatur eingekesselten Bewohnern bei Tage bewusst geworden zu sein schien.
Über Träume gibt es Theorien, die dabei helfen sollen, sie zu verstehen, herauszufinden, was sie bedeuten. Sie werden auf diese Weise in das bewusst geführte, wache Leben integriert, in dem die Vorstellung regiert, das sich erklären lassen soll, was wirklich ist, weil die Wirklichkeit das Terrain umfasst, das möglichst viele teilen sollen, um das Leben zum eigenen und zum Wohle aller besser bewältigen und organisieren zu können. Jeder Mensch in seiner Nacht - das wäre das Ende von jeder organisierten Gemeinschaft und Gesellschaft, weshalb Erwachsene ihren Kindern gerne raten, mit dem Träumen aufzuhören, wenn es darum geht, sich mit dem Lauf der Dinge zu arrangieren.
Manche Traumtheorien benutzen Träume dafür, mehr über die Wirklichkeit herauszufinden. Sie machen deswegen die Wirklichkeit, in der Interessen, Wünsche und Zwecke das Tun des Einzelnen bestimmen, porös für dunkle schwammige Gestalten, für Archetypen, kollektive Ahnungen und Zwischenwelten, die sich im Leben einer Gemeinschaft von Handelnden, ohne dass diese wissen, wie ihnen geschieht, breitmachen. Der ingeniöse Traumdeuter, meistens geisteswissenschaftlicher Herkunft, ein philologisch versierter Kartenleger, gleicht dem Philosophen in Platons Staat, der über der Masse der Höhlenbewohner steht, weil er mehr und weiter sieht als sie. Einer wie C. G. Jung musste wach sein, wenn alle schliefen.
Wenn die Theorie aber schweigt und die Träume in Ruhe sprechen können, dann erzählen sie Geschichten von Gefühlen, davon, wie einer sich selbst, als Kind, als Erwachsener, im Leben, als Kreatur, als Sterblicher, unter Menschen, als Kollegin, als Geliebte, im Spiel von Pflicht und Lust fühlt. Charlotte Beradt hat sich glücklicherweise nicht in traumtheoretische Deutungen verstiegen, in Mutmaßungen, Ahnungen und Visionen, unternommen im Versuch, Rauchzeichen der Psyche in Gesellschaftsanalyse zu übersetzen. Mit wachem Sinn für die psychosozialen Raffinessen eines Tages, der seine Opfer fordert, bewegt sie sich zwischen den Träumern hindurch, deren Seelen in die Fänge des Regimes geraten sind und die dennoch auf Anerkennung hoffen, ergeben und zu jeder Form von Anpassung bereit, in seltenen Fällen vom Mut zum Widerstand getragen, meist betrogen und erniedrigt von ehemaligen Mitmenschen, voller Scham über das eigene Versagen, die fehlende Selbstbehauptung, zerknirscht und zerfasert von vorgeblicher Rechtfertigung und trüber Selbsttäuschung.
Solange der Traum kein Albtraum war, kein Schrei, kein Entsetzen und kein Grauen, sondern nur eine innere Verwandlung festhielt, hatte das kommende Reich den Boden, auf dem sich mit Kompromissen, Lügen, Selbstverachtung und Schuldbewusstsein irgendwie weiterleben ließ, nicht ganz zerstört. Das Leben war noch nicht aus den inneren bürgerlichen Bahnen gesprungen. Sollten wir nicht träumen, schöne, komische und furchtbare Geschichten? Manchmal sind wir froh, dass wir aufwachen, der Traum ist schlimmer als die Realität, wir werden verfolgt, bedroht, verletzt. Manchmal gefällt uns der Traum so gut, dass wir weiterträumen möchten, der Traum ist besser als die Realität, wir werden gemocht, wir lieben und wir wachsen über uns hinaus.
Unsere Träume sind unsere Geheimnisse. Wenn wir sie erzählen, dann nur Menschen, die uns nahestehen. Mit anderen reden wir nicht darüber, aus Scham und Scheu und um uns selbst zu schützen. Träume sind verräterisch, sie geben Auskunft über unsere unerfüllten Wünsche, unsere ungestillten Begierden und zahllose Ängste.
Einer der von Charlotte Beradt aufgezeichneten Träume ist ganz kurz, er bestand nur aus einem einzigen surrealen Bild, das uns bekannt vorkommt: Ein Mann sitzt wie ein Vogel auf einem Papierkorb, neben ihm stehen zwei freie Bänke. Er hat sich ein Schild umgehängt, auf dem steht: Wenn nötig, mache ich dem Papier Platz.
EBERHARD RATHGEB
Charlotte Beradt: "Das Dritte Reich des Traums". Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Barbara Hahn. Suhrkamp, 174 Seiten, 22 Euro
Barbara Hahn: "Endlose Nacht. Träume im Jahrhundert der Gewalt". Suhrkamp, 201 Seiten, 22 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wie sich aus den Träumen der Zeitgenossen eine Parallelgeschichte des 20. Jahrhunderts und seiner Schrecken ergibt, davon erzählen zwei neue Bücher
In den Jahren von 1933 bis 1939 sammelte die Journalistin Charlotte Beradt, die in Berlin lebte, mit Hilfe ihrer Freunde, darunter einem Arzt, der seine Patienten auszufragen verstand, Träume von Menschen aus ihrer nächsten Umgebung. Dann floh sie nach England, 1940 weiter nach New York. Das Buch "Das Dritte Reich des Traums" erschien 1966 bei der Nymphenburger Verlagsanstalt in München auf Deutsch, 1981 wurde es vom Suhrkamp-Verlag in Frankfurt auf Anraten des Historikers Reinhart Koselleck erneut herausgebracht. Jetzt liegt es wieder vor, dieses Mal herausgegeben von der Germanistin Barbara Hahn, die gleichzeitig einen Essay mit dem großen Titel "Endlose Nacht. Träume im Jahrhundert der Gewalt" veröffentlichte.
Die Idee des assoziativen und quellenreichen Buches von Barbara Hahn, sicher bin ich mir nicht, ob damit schon alles gesagt ist, mag darauf hinauslaufen zu zeigen, dass sich mit Träumen eine Art parallele Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts erzählen ließe, in der ebenfalls Kriege, Konzentrationslager und Gefängnisse, Verrohung, Vernichtung und Auslöschung ihre Spuren hinterlassen haben. Charlotte Beradt hat ihr Buch nicht "Der Traum im Dritten Reich" genannt, sie sammelte nicht einfach nur Nachtgewächse aus den ersten Jahren der deutschen Diktatur. Träume von Mitgliedern der SA oder anderen hilfreichen Freunden des Regimes sucht der Leser vergeblich. "Das Dritte Reich des Traums" soll ihn davon überzeugen, dass die normalen Erfahrungen der Diktatur, die sich auf den langen Weg ins Herz der bewussten Psyche gemacht hatten, sich zuerst in Träumen niederschlagen konnten. Deren Bilder und Szenen hielten, wie die Bilder und Szenen der Literatur, die seelischen Verkrümmungen fest, die Menschen im nationalsozialistischen Deutschland erlitten.
Barbara Hahn weist zu Recht in ihrem Nachwort darauf hin, dass Beradt ihr Buch mit großem Geschick aus den gesammelten Träumen, Zitaten von Kafka, Hannah Arendt und anderen sowie aus eigenen Kommentaren komponierte. Als ein solch kunstvolles Gebilde beansprucht das Buch, Literatur zu sein, ein Gefäß für die lebendige Seele, kein Archiv von toten Dokumenten, die komprimierte Manifestation einer neuen Realität, deren totalitäre Eigenarten die Zeitgenossen überraschte und überwältigte. Das "Dritte Reich" okkupierte die Innenwelten der Träumer schneller, als den von der Diktatur eingekesselten Bewohnern bei Tage bewusst geworden zu sein schien.
Über Träume gibt es Theorien, die dabei helfen sollen, sie zu verstehen, herauszufinden, was sie bedeuten. Sie werden auf diese Weise in das bewusst geführte, wache Leben integriert, in dem die Vorstellung regiert, das sich erklären lassen soll, was wirklich ist, weil die Wirklichkeit das Terrain umfasst, das möglichst viele teilen sollen, um das Leben zum eigenen und zum Wohle aller besser bewältigen und organisieren zu können. Jeder Mensch in seiner Nacht - das wäre das Ende von jeder organisierten Gemeinschaft und Gesellschaft, weshalb Erwachsene ihren Kindern gerne raten, mit dem Träumen aufzuhören, wenn es darum geht, sich mit dem Lauf der Dinge zu arrangieren.
Manche Traumtheorien benutzen Träume dafür, mehr über die Wirklichkeit herauszufinden. Sie machen deswegen die Wirklichkeit, in der Interessen, Wünsche und Zwecke das Tun des Einzelnen bestimmen, porös für dunkle schwammige Gestalten, für Archetypen, kollektive Ahnungen und Zwischenwelten, die sich im Leben einer Gemeinschaft von Handelnden, ohne dass diese wissen, wie ihnen geschieht, breitmachen. Der ingeniöse Traumdeuter, meistens geisteswissenschaftlicher Herkunft, ein philologisch versierter Kartenleger, gleicht dem Philosophen in Platons Staat, der über der Masse der Höhlenbewohner steht, weil er mehr und weiter sieht als sie. Einer wie C. G. Jung musste wach sein, wenn alle schliefen.
Wenn die Theorie aber schweigt und die Träume in Ruhe sprechen können, dann erzählen sie Geschichten von Gefühlen, davon, wie einer sich selbst, als Kind, als Erwachsener, im Leben, als Kreatur, als Sterblicher, unter Menschen, als Kollegin, als Geliebte, im Spiel von Pflicht und Lust fühlt. Charlotte Beradt hat sich glücklicherweise nicht in traumtheoretische Deutungen verstiegen, in Mutmaßungen, Ahnungen und Visionen, unternommen im Versuch, Rauchzeichen der Psyche in Gesellschaftsanalyse zu übersetzen. Mit wachem Sinn für die psychosozialen Raffinessen eines Tages, der seine Opfer fordert, bewegt sie sich zwischen den Träumern hindurch, deren Seelen in die Fänge des Regimes geraten sind und die dennoch auf Anerkennung hoffen, ergeben und zu jeder Form von Anpassung bereit, in seltenen Fällen vom Mut zum Widerstand getragen, meist betrogen und erniedrigt von ehemaligen Mitmenschen, voller Scham über das eigene Versagen, die fehlende Selbstbehauptung, zerknirscht und zerfasert von vorgeblicher Rechtfertigung und trüber Selbsttäuschung.
Solange der Traum kein Albtraum war, kein Schrei, kein Entsetzen und kein Grauen, sondern nur eine innere Verwandlung festhielt, hatte das kommende Reich den Boden, auf dem sich mit Kompromissen, Lügen, Selbstverachtung und Schuldbewusstsein irgendwie weiterleben ließ, nicht ganz zerstört. Das Leben war noch nicht aus den inneren bürgerlichen Bahnen gesprungen. Sollten wir nicht träumen, schöne, komische und furchtbare Geschichten? Manchmal sind wir froh, dass wir aufwachen, der Traum ist schlimmer als die Realität, wir werden verfolgt, bedroht, verletzt. Manchmal gefällt uns der Traum so gut, dass wir weiterträumen möchten, der Traum ist besser als die Realität, wir werden gemocht, wir lieben und wir wachsen über uns hinaus.
Unsere Träume sind unsere Geheimnisse. Wenn wir sie erzählen, dann nur Menschen, die uns nahestehen. Mit anderen reden wir nicht darüber, aus Scham und Scheu und um uns selbst zu schützen. Träume sind verräterisch, sie geben Auskunft über unsere unerfüllten Wünsche, unsere ungestillten Begierden und zahllose Ängste.
Einer der von Charlotte Beradt aufgezeichneten Träume ist ganz kurz, er bestand nur aus einem einzigen surrealen Bild, das uns bekannt vorkommt: Ein Mann sitzt wie ein Vogel auf einem Papierkorb, neben ihm stehen zwei freie Bänke. Er hat sich ein Schild umgehängt, auf dem steht: Wenn nötig, mache ich dem Papier Platz.
EBERHARD RATHGEB
Charlotte Beradt: "Das Dritte Reich des Traums". Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Barbara Hahn. Suhrkamp, 174 Seiten, 22 Euro
Barbara Hahn: "Endlose Nacht. Träume im Jahrhundert der Gewalt". Suhrkamp, 201 Seiten, 22 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Mit wachem Sinn für die psychosozialen Raffinessen eines Tages, der seine Opfer fordert, bewegt Beradt sich zwischen den Träumern hindurch.« Eberhard Rathgeb Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung 20161211