Ausgezeichnet mit dem Pulitzer-Preis 2008, Kategorie "General Nonfiction"
Eine "gewaltige Herausforderung" nennt Saul Friedländer das Vorhaben, bei der Darstellung des Holocaust "die Praktiken der Täter, die Einstellung der Gesellschaft und die Welt der Opfer in einem einzigen Rahmen" zu behandeln. Mit diesem Buch, für das er mit dem Geschwister-Scholl-Preis ausgezeichnet wurde, hat er Maßstäbe gesetzt.
Saul Friedländer, der für dieses Buch mit dem Geschwister-Scholl-Preis ausgezeichnet wurde, stellt hier die sich ständig verschärfende Verfolgung der Juden nach der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten dar und macht sichtbar, wie sich die ideologischen Ziele der Nationalsozialisten und taktische politische Entscheidungen wechselseitig verschärften und doch immer eine Möglichkeit für noch radikalere Entwicklungen offen ließen.
Friedländer behandelt die Opferperspektive parallel zur Täteranalyse - mit dem Ziel, ein »Gefühl der Entfremdung zu erzeugen, welches der Neigung entgegenwirkt, mittels nahtloser Erklärungen und standardisierter Wiedergaben diese Vergangenheit zu >domestizieren< und ihre Wirkung abzuschwächen«. Zugleich reflektiert diese »Entfremdung« die Art und Weise, in der die unglücklichen Opfer des Regimes zumindest während der dreißiger Jahre »eine absurde und zugleich bedrohliche Realität wahrnahmen, eine durch und durch groteske und bedrückende Welt hinter der Fassade einer noch bedrückenderen Normalität«.
Eine "gewaltige Herausforderung" nennt Saul Friedländer das Vorhaben, bei der Darstellung des Holocaust "die Praktiken der Täter, die Einstellung der Gesellschaft und die Welt der Opfer in einem einzigen Rahmen" zu behandeln. Mit diesem Buch, für das er mit dem Geschwister-Scholl-Preis ausgezeichnet wurde, hat er Maßstäbe gesetzt.
Saul Friedländer, der für dieses Buch mit dem Geschwister-Scholl-Preis ausgezeichnet wurde, stellt hier die sich ständig verschärfende Verfolgung der Juden nach der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten dar und macht sichtbar, wie sich die ideologischen Ziele der Nationalsozialisten und taktische politische Entscheidungen wechselseitig verschärften und doch immer eine Möglichkeit für noch radikalere Entwicklungen offen ließen.
Friedländer behandelt die Opferperspektive parallel zur Täteranalyse - mit dem Ziel, ein »Gefühl der Entfremdung zu erzeugen, welches der Neigung entgegenwirkt, mittels nahtloser Erklärungen und standardisierter Wiedergaben diese Vergangenheit zu >domestizieren< und ihre Wirkung abzuschwächen«. Zugleich reflektiert diese »Entfremdung« die Art und Weise, in der die unglücklichen Opfer des Regimes zumindest während der dreißiger Jahre »eine absurde und zugleich bedrohliche Realität wahrnahmen, eine durch und durch groteske und bedrückende Welt hinter der Fassade einer noch bedrückenderen Normalität«.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.08.1998Allmähliche Einkreisung vor dem Mord
Saul Friedländer über nationalsozialistische Täter, jüdische Opfer und die deutsche Gesellschaft vor dem Krieg
Saul Friedländer: Das Dritte Reich und die Juden. Erster Band. Die Jahre der Verfolgung: 1933-1939. Aus dem Englischen übersetzt von Martin Pfeiffer. C. H. Beck Verlag, München 1998. 458 Seiten, 58,- Mark.
Was läßt sich über die Verfolgung und Ermordung der Juden noch Neues sagen? Saul Friedländer bietet keine dramatische neue These; es geht ihm um eine "umfassende Perspektive". Er beschäftigt sich mit Hitler und den führenden Nationalsozialisten wie auch mit den jüdischenOpfern. Und er untersucht die deutsche Zivilgesellschaft und ihre Institutionen, insbesondere die Kirchen, denen hier bis tief in die Bekennende Kirche kein Ruhmesblatt gewidmet werden kann; auch das Verhalten der Weltöffentlichkeit wird einbezogen. Innerhalb der Gesellschaft wurde die Verfolgung und Vernichtung ausgeführt - eine moderne Gesellschaft, so Friedländer, die der "unseren nicht unähnlich" ist, deren Gewöhnlichkeit freilich mit der einzigartigen Ideologie und der politischen Kultur des Nazi-Regimes zum vielleicht "höchsten Maßstab des Bösen" verschmolz. Die Einzigartigkeit beruht auf einer Synthese aus "mörderischer Wut", ideologischem Fanatismus, verbunden mit kalter Berechnung und Pragmatismus, mit der Hitlers Ziel, die Vernichtung der Juden, verfolgt wurde. Daß das Böse in eine nicht sonderlich abnorme Gesellschaftsstruktur eingebettet war, überführt das politisch korrekte Gerede vom "Zivilisationsbruch" als bequemes, aber fragwürdiges Klischee.
Den Kern des Bösen bezeichnet Friedländer als Hitlers "Erlösungsantisemitismus", als eine politische Religion. Sie fußt auf dem ewig Guten, der arischen Rasse, und dem jüdischen Bösen, einer untermenschlichen Pest und gleichzeitig übermenschlichen Macht. Hitler verschmolz die neue Rassenanthropologie mit einem "Deutschen Christentum", verwurzelt, so Friedländer, im christlichen Antisemitismus und dem Glauben an Blut und Volksgemeinschaft. Hinzu kamen die antimodernistische Reaktion auf den "überaus sichtbaren Aufstieg der Juden" aus dem Ghetto, die von der bayerischen Räterepublik mitgeprägte Vorstellung der Juden als Führer der revolutionären Weltbewegung, und die in den Protokollen der Weisen von Zion artikulierten Phantasien über die Menschheitsparasiten. Der Autor beschreibt die ästhetische Komponente dieser Religion: die Obsessionen über zersetzendes Judentum in der modernen Kultur im Gegensatz zur harmonischen Blut- und Boden-Idylle der Hitler-Aquarelle. Hitler hatte spätestens 1923 die Vorstellung von der jüdischen Weltherrschaft zur Vernichtung der Welt. Friedländer zeigt, daß für Hitler der Antibolschewismus sekundär war, lediglich eine Kreatur der vorgestellten jüdischen Weltverschwörung.
Diese nationalsozialistische "Religion"konnte in der Bevölkerung nie Fuß fassen, sich nicht gegen unmittelbare wirtschaftliche Interessen behaupten: die Bauern beklagten sich über das Verschwinden der jüdischen Viehhändler, die die besseren Preise hatten, die Kirchen wollten ihre Mitglieder jüdischer Herkunft nicht verlieren, die Angestellten des jüdischen Ullstein Verlags protestierten gegen den ihnen schadenden Boykott des Unternehmens, die Gemeinde Laupheim gegen den Verlust von Steuereinnahmen durch die Schließung jüdischer Betriebe. Der Autor hat keine Erklärungsschablonen wie "Intentionalismus" oder "Funktionalismus". Er gibt seinen Lesern die Möglichkeit in die Hand, selbst zu urteilen und zu erklären.
Friedländer zeigt, wie die Nationalsozialisten eine Ausgrenzungs- und dann Auswanderungspolitik betrieben, und wie sich nach den ersten Jahren des Regimes und der allmählichen "Einkreisung" der Juden die Vernichtungspolitik in den Vordergrund schiebt. Er stellt die Vielschichtigkeit und Widersprüchlichkeit der Entwicklung dar. Beispielsweise, als es verboten wurde, in örtlichen jüdischen Läden zu kaufen, fuhren Nichtjuden aus dem sächsischen Falkenstein ins benachbarte Auerbach und die Auerbacher nach Falkenstein, um unerkannt in die jeweiligen jüdischen Geschäfte gehen zu können. Nicht zuletzt die kaum auflösbaren wirtschaftlichen Verflechtungen zwischen Juden und Deutschen täuschten die Juden über die dramatisch veränderte Lage. Manche wollten lange die katastrophalen Konsequenzen des Nationalsozialismus nicht wahrhaben oder versuchten gar, die nationalsozialistische Ideologie in eigener Weise zu übernehmen: Orthodoxe Juden etwa begrüßten die in den Nürnberger Gesetzen ergangenen Verbote von Mischehen, gegen die sie sich ja selbst gewandt hatten. Statt sich zu entsetzen, beruhigten sich auch so manche Juden damit, daß mit den Nürnberger Gesetzen endlich Rechtssicherheit geschaffen würde, nach den terroristischen Exzessen der Zeit davor.
Wie "willig" halfen die gewöhnlichen Deutschen, die Verfolgungspolitik auf lokaler Ebene durchzuführen? Als Beispiel an den Anfang stellt Friedländer die Geschichte des Pastors Hermann Umfried aus Niederstetten bei Heilbronn. In seiner Predigt im März 1933 hatte Umfried klare Worte gefunden gegen brutale Mißhandlungen an Juden am Tage zuvor. Umfried erhielt, als er daraufhin drangsaliert wurde, keinerlei Unterstützung, "keine örtliche, regionale der nationale Institution der Kirche wagte es, ihm zur Hilfe zu kommen oder auch nur die schüchternsten Einwände gegen Gewalttaten an Juden zu äußern." Als einige Monate später die Lage für ihn und seine Familie bedrohlich wurde, beging Umfried Selbstmord. Die deutschen Eliten und ihre Institutionen, Kirchen und Universitäten, mochten sich zum Teil bedroht fühlen; zumeist freilich waren sie mit dem Regime einverstanden. Wenn einzelne Zivilcourage zeigten, war das ein fast selbstmörderisches Unterfangen.
Keine Episode vor dem Krieg illustriert die Beziehungen zwischen Führung, Partei und Bevölkerung treffender als die Ereignisse um die sogenannte Reichskristallnacht. Der Bevölkerung war freie Hand gegeben worden, gegen die Juden vorzugehen; der Volkszorn sollte sich ja entladen. Stattdessen überwogen Reaktionen betretenen Schweigens, und selbst diejenigen, die meinten, den Juden gehöre "eins auf den Deckel", waren von der Gewalt angewidert. Sowohl die Novemberpogrome wie auch schon die Brutalitäten anläßlich des Anschlusses von Österreich wenige Monate vorher waren ein "Abtasten extremer Möglichkeiten" und zeigten, daß die nationalsozialistische Judenpolitik in ein neues Stadium getreten war. Wenig später, im April 1939, inszenierte der Jüdische Kulturbund in Berlin J. B. Priestleys Geschichte eines havarierten, zu sinken drohenden Schiffes in der Karibik, mit zwölf Menschen und ihren Ängsten und Hoffnungen. "Die Personen", beschließt Friedländer diesen ersten Band, "die auf der Bühne auftreten, werden am Schluß gerettet. Die meisten Juden, die an jenem Abend im Theater in der Kommandantenstraße saßen, wurden vernichtet."
"Das Dritte Reich und die Juden" ist ein sehr persönliches Buch, das ohne Friedländers Biographie nicht zu verstehen ist: die Ermordung der Eltern, nachdem sie von der Schweizer Grenzpolizei zurückgewiesen worden waren, seine Erfahrungen im katholischen Internat im ländlichen Frankreich unter falschem Namen, die beinahe gelungene Auslöschung seiner Identität als Jude und die Vorbereitungen aufs Priesterseminar. An diese Biographie erinnern wohl auch seine Vorliebe zu einfühlenden Darstellungen der Verfolgungen im ländlichen und kleinbürgerlichen Bereich und seine Anklagen gegen das Verhalten der Kirchen. So ist dies auch der Versuch, Spuren des eigenen Lebens neu aufzudecken, Erinnerung und Wissen neu miteinander zu verbinden.
Y. Michal Bodemann
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Saul Friedländer über nationalsozialistische Täter, jüdische Opfer und die deutsche Gesellschaft vor dem Krieg
Saul Friedländer: Das Dritte Reich und die Juden. Erster Band. Die Jahre der Verfolgung: 1933-1939. Aus dem Englischen übersetzt von Martin Pfeiffer. C. H. Beck Verlag, München 1998. 458 Seiten, 58,- Mark.
Was läßt sich über die Verfolgung und Ermordung der Juden noch Neues sagen? Saul Friedländer bietet keine dramatische neue These; es geht ihm um eine "umfassende Perspektive". Er beschäftigt sich mit Hitler und den führenden Nationalsozialisten wie auch mit den jüdischenOpfern. Und er untersucht die deutsche Zivilgesellschaft und ihre Institutionen, insbesondere die Kirchen, denen hier bis tief in die Bekennende Kirche kein Ruhmesblatt gewidmet werden kann; auch das Verhalten der Weltöffentlichkeit wird einbezogen. Innerhalb der Gesellschaft wurde die Verfolgung und Vernichtung ausgeführt - eine moderne Gesellschaft, so Friedländer, die der "unseren nicht unähnlich" ist, deren Gewöhnlichkeit freilich mit der einzigartigen Ideologie und der politischen Kultur des Nazi-Regimes zum vielleicht "höchsten Maßstab des Bösen" verschmolz. Die Einzigartigkeit beruht auf einer Synthese aus "mörderischer Wut", ideologischem Fanatismus, verbunden mit kalter Berechnung und Pragmatismus, mit der Hitlers Ziel, die Vernichtung der Juden, verfolgt wurde. Daß das Böse in eine nicht sonderlich abnorme Gesellschaftsstruktur eingebettet war, überführt das politisch korrekte Gerede vom "Zivilisationsbruch" als bequemes, aber fragwürdiges Klischee.
Den Kern des Bösen bezeichnet Friedländer als Hitlers "Erlösungsantisemitismus", als eine politische Religion. Sie fußt auf dem ewig Guten, der arischen Rasse, und dem jüdischen Bösen, einer untermenschlichen Pest und gleichzeitig übermenschlichen Macht. Hitler verschmolz die neue Rassenanthropologie mit einem "Deutschen Christentum", verwurzelt, so Friedländer, im christlichen Antisemitismus und dem Glauben an Blut und Volksgemeinschaft. Hinzu kamen die antimodernistische Reaktion auf den "überaus sichtbaren Aufstieg der Juden" aus dem Ghetto, die von der bayerischen Räterepublik mitgeprägte Vorstellung der Juden als Führer der revolutionären Weltbewegung, und die in den Protokollen der Weisen von Zion artikulierten Phantasien über die Menschheitsparasiten. Der Autor beschreibt die ästhetische Komponente dieser Religion: die Obsessionen über zersetzendes Judentum in der modernen Kultur im Gegensatz zur harmonischen Blut- und Boden-Idylle der Hitler-Aquarelle. Hitler hatte spätestens 1923 die Vorstellung von der jüdischen Weltherrschaft zur Vernichtung der Welt. Friedländer zeigt, daß für Hitler der Antibolschewismus sekundär war, lediglich eine Kreatur der vorgestellten jüdischen Weltverschwörung.
Diese nationalsozialistische "Religion"konnte in der Bevölkerung nie Fuß fassen, sich nicht gegen unmittelbare wirtschaftliche Interessen behaupten: die Bauern beklagten sich über das Verschwinden der jüdischen Viehhändler, die die besseren Preise hatten, die Kirchen wollten ihre Mitglieder jüdischer Herkunft nicht verlieren, die Angestellten des jüdischen Ullstein Verlags protestierten gegen den ihnen schadenden Boykott des Unternehmens, die Gemeinde Laupheim gegen den Verlust von Steuereinnahmen durch die Schließung jüdischer Betriebe. Der Autor hat keine Erklärungsschablonen wie "Intentionalismus" oder "Funktionalismus". Er gibt seinen Lesern die Möglichkeit in die Hand, selbst zu urteilen und zu erklären.
Friedländer zeigt, wie die Nationalsozialisten eine Ausgrenzungs- und dann Auswanderungspolitik betrieben, und wie sich nach den ersten Jahren des Regimes und der allmählichen "Einkreisung" der Juden die Vernichtungspolitik in den Vordergrund schiebt. Er stellt die Vielschichtigkeit und Widersprüchlichkeit der Entwicklung dar. Beispielsweise, als es verboten wurde, in örtlichen jüdischen Läden zu kaufen, fuhren Nichtjuden aus dem sächsischen Falkenstein ins benachbarte Auerbach und die Auerbacher nach Falkenstein, um unerkannt in die jeweiligen jüdischen Geschäfte gehen zu können. Nicht zuletzt die kaum auflösbaren wirtschaftlichen Verflechtungen zwischen Juden und Deutschen täuschten die Juden über die dramatisch veränderte Lage. Manche wollten lange die katastrophalen Konsequenzen des Nationalsozialismus nicht wahrhaben oder versuchten gar, die nationalsozialistische Ideologie in eigener Weise zu übernehmen: Orthodoxe Juden etwa begrüßten die in den Nürnberger Gesetzen ergangenen Verbote von Mischehen, gegen die sie sich ja selbst gewandt hatten. Statt sich zu entsetzen, beruhigten sich auch so manche Juden damit, daß mit den Nürnberger Gesetzen endlich Rechtssicherheit geschaffen würde, nach den terroristischen Exzessen der Zeit davor.
Wie "willig" halfen die gewöhnlichen Deutschen, die Verfolgungspolitik auf lokaler Ebene durchzuführen? Als Beispiel an den Anfang stellt Friedländer die Geschichte des Pastors Hermann Umfried aus Niederstetten bei Heilbronn. In seiner Predigt im März 1933 hatte Umfried klare Worte gefunden gegen brutale Mißhandlungen an Juden am Tage zuvor. Umfried erhielt, als er daraufhin drangsaliert wurde, keinerlei Unterstützung, "keine örtliche, regionale der nationale Institution der Kirche wagte es, ihm zur Hilfe zu kommen oder auch nur die schüchternsten Einwände gegen Gewalttaten an Juden zu äußern." Als einige Monate später die Lage für ihn und seine Familie bedrohlich wurde, beging Umfried Selbstmord. Die deutschen Eliten und ihre Institutionen, Kirchen und Universitäten, mochten sich zum Teil bedroht fühlen; zumeist freilich waren sie mit dem Regime einverstanden. Wenn einzelne Zivilcourage zeigten, war das ein fast selbstmörderisches Unterfangen.
Keine Episode vor dem Krieg illustriert die Beziehungen zwischen Führung, Partei und Bevölkerung treffender als die Ereignisse um die sogenannte Reichskristallnacht. Der Bevölkerung war freie Hand gegeben worden, gegen die Juden vorzugehen; der Volkszorn sollte sich ja entladen. Stattdessen überwogen Reaktionen betretenen Schweigens, und selbst diejenigen, die meinten, den Juden gehöre "eins auf den Deckel", waren von der Gewalt angewidert. Sowohl die Novemberpogrome wie auch schon die Brutalitäten anläßlich des Anschlusses von Österreich wenige Monate vorher waren ein "Abtasten extremer Möglichkeiten" und zeigten, daß die nationalsozialistische Judenpolitik in ein neues Stadium getreten war. Wenig später, im April 1939, inszenierte der Jüdische Kulturbund in Berlin J. B. Priestleys Geschichte eines havarierten, zu sinken drohenden Schiffes in der Karibik, mit zwölf Menschen und ihren Ängsten und Hoffnungen. "Die Personen", beschließt Friedländer diesen ersten Band, "die auf der Bühne auftreten, werden am Schluß gerettet. Die meisten Juden, die an jenem Abend im Theater in der Kommandantenstraße saßen, wurden vernichtet."
"Das Dritte Reich und die Juden" ist ein sehr persönliches Buch, das ohne Friedländers Biographie nicht zu verstehen ist: die Ermordung der Eltern, nachdem sie von der Schweizer Grenzpolizei zurückgewiesen worden waren, seine Erfahrungen im katholischen Internat im ländlichen Frankreich unter falschem Namen, die beinahe gelungene Auslöschung seiner Identität als Jude und die Vorbereitungen aufs Priesterseminar. An diese Biographie erinnern wohl auch seine Vorliebe zu einfühlenden Darstellungen der Verfolgungen im ländlichen und kleinbürgerlichen Bereich und seine Anklagen gegen das Verhalten der Kirchen. So ist dies auch der Versuch, Spuren des eigenen Lebens neu aufzudecken, Erinnerung und Wissen neu miteinander zu verbinden.
Y. Michal Bodemann
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main