Ein Geschichtsbuch wie gemacht für unser post-faktisches Zeitalter
Nichts in der Geschichte passiert zufällig, alles ist Ergebnis geheimnisvoller Machenschaften - diese Vorstellung ist so alt wie die Geschichte selbst. Gerade jetzt, in Zeiten der Verunsicherung, von Populismus und Fake News, finden Verschwörungstheorien immer mehr Anhänger und treten nirgendwo offensichtlicher zutage als in den revisionistischen Geschichtserzählungen über das Dritte Reich. Längst diskreditierte Märchen erwachen zu neuem Leben, weil es angeblich neue Beweise gibt. Von den »Protokollen der Weisen von Zion«, über die »Dolchstoßlegende«, den Reichstagsbrand und Rudolf Heß' »Friedensangebot« an die Briten bis zu Hitlers Flucht aus dem Bunker zerlegt der renommierte Historiker Richard Evans die fünf einflussreichsten Legenden des Dritten Reichs höchst unterhaltsam und mit forensischer Genauigkeit und erkennt darin überraschende Muster.
Nichts in der Geschichte passiert zufällig, alles ist Ergebnis geheimnisvoller Machenschaften - diese Vorstellung ist so alt wie die Geschichte selbst. Gerade jetzt, in Zeiten der Verunsicherung, von Populismus und Fake News, finden Verschwörungstheorien immer mehr Anhänger und treten nirgendwo offensichtlicher zutage als in den revisionistischen Geschichtserzählungen über das Dritte Reich. Längst diskreditierte Märchen erwachen zu neuem Leben, weil es angeblich neue Beweise gibt. Von den »Protokollen der Weisen von Zion«, über die »Dolchstoßlegende«, den Reichstagsbrand und Rudolf Heß' »Friedensangebot« an die Briten bis zu Hitlers Flucht aus dem Bunker zerlegt der renommierte Historiker Richard Evans die fünf einflussreichsten Legenden des Dritten Reichs höchst unterhaltsam und mit forensischer Genauigkeit und erkennt darin überraschende Muster.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 19.10.2021Paranoide
Fantasien
Richard J. Evans spürt Verschwörungsideologien
im NS-Staat nach und erklärt, was dahintersteckte
VON RUDOLF WALTHER
Verschwörungen und Verschwörungstheorien gehören zur Geschichte wie Intrigen und Komplotte zum Alltag. Seit dem 18. Jahrhundert, als Revolutionsgegner, klerikale und konservative Autoren begannen, allerlei Verschwörungen von Freimaurern, Illuminaten und anderen Geheimgesellschaften für die Französische Revolution verantwortlich zu machen, gehört die Verdächtigung und Denunziation von Kritik zur Grundausstattung für die Konstruktion von Verschwörungstheorien. Die von Carl Schmitt inspirierte, wegen ihres griffigen Titels „Kritik und Krise“ (1959) von konservativen und rechten Autoren oft herzitierte, aber seltener gelesene Dissertation Reinhart Kosellecks gilt diesen noch als Beleg für die These, die Revolution von 1789 sei das Resultat einer Verschwörung von Geheimgesellschaften. Die mit der Aufklärung verbundene Alphabetisierung sowie die mediale Entwicklung von Massen- und Boulevardpresse, Trivial- und Kolportageliteratur, später Film, Fernsehen und zuletzt dem Internet, das jeden Alphabetisierten potenziell zum Autor und Verleger macht, hat die Zahl und Verbreitung von Verschwörungstheorien exponentiell wachsen lassen. Die jüngste Pandemie hat auch diese Theorien zur flächendeckenden Seuche gemacht.
Der in Cambridge lehrende Historiker Richard J. Evans hat soeben eine umfangreiche Studie vorgelegt, in der er „Das Dritte Reich und seine Verschwörungstheorien“ im Detail und mit wissenschaftlicher Akribie analysiert und souverän darstellt. Konkret geht es in dem Buch um die Entstehung, Wirkung und Verbreitung der antisemitischen Hetzschrift „Die Protokolle der Weisen von Zion“, die Dolchstoßlegende nach der deutschen Niederlage im Ersten Weltkrieg, den Reichstagsbrand von Ende Februar 1933, den Flug von Rudolf Heß am 10. Mai 1941 nach Schottland und das „Weiterleben“ von Adolf Hitler und Eva Braun nach der Bekanntgabe ihres Todes durch das deutsche Radio am 1. Mai 1945 um 22.26 Uhr. Mit allen fünf Schlüsselereignissen verbinden sich Verschwörungstheorien unterschiedlicher Herkunft und Wirkung.
Die „Protokolle“ tragen den Originaltitel „Aus den Verhandlungsberichten der ‚Weisen von Zion‘ während des 1. Zionistenkongresses, der 1897 in Basel abgehalten wurde“, der aber in der Literatur meistens auf „Protokolle“ oder „Protokolle der Weisen von Zion“ verkürzt wird. Dem Machwerk zufolge handelt es sich dabei um Dokumente aus 24 Geheimsitzungen am Rande des Kongresses. Zwar waren diejenigen in der jüdischen Weltgemeinde, die damals wirklich nach Palästina auswandern wollten, noch in den 1920er-Jahren eine verschwindende Minderheit, aber das Pamphlet dramatisierte die Zustände in der Welt zur Alternative zwischen Gut und Böse, Geld und Gewalt, „wir und die“. Tenor: Juden besitzen das Geld und damit die Welt; ihre Methoden sind „Terror und Täuschung“.
Adolf Hitler selbst war im Unterschied zu Josef Stalin nicht von der Angst besessen, von Verschwörern umgeben zu sein, sondern konnte sich, zumindest bis zum 20. Juli 1944, der mehr oder weniger bedingungslosen Loyalität seiner Mitarbeiter sicher sein. Trotzdem glaubte Hitler an den zur Paranoia ausgewachsenen Wahn einer Verschwörung des Weltjudentums gegen das nationalsozialistische Deutschland und das christliche Abendland. Unter anderem auch deshalb wurden die „Protokolle“ zum „Eckpfeiler der NS-Propaganda“ und zur „bedeutendsten und bis heute wirkungsvollsten Verschwörungsideologie“ (Wolfgang Wippermann), auch wenn sich Hitler selbst in seinen Reden eher selten und in „Mein Kampf“ nur ein einziges Mal und obendrein negativ auf sie bezieht („die Juden halten die ,Protokolle‘ für eine Fälschung“), was er allerdings für „den besten Beweis“ für ihre Echtheit hielt. Ähnlich verquer argumentierte Joseph Goebbels 1924: „Ich glaube an die innere, aber nicht an die faktische Wahrheit der ,Protokolle‘.“ Nachdem Deutschland den Zweiten Weltkrieg begonnen hatte, berief sich er sich auf den „jüdischen Rasseinstinkt“ und befand zum Beleg für die Echtheit: „So genial können nur Juden sein, die Wahrheit zu sagen über die Juden“ (13. Mai 1943).
Tatsächlich entstanden die „Protokolle“ in Russland, wo 1918 zwei antisemitische, ehemalige zaristische Offiziere (Pjotr Schabelski-Bork und Fjodor Winberg) das Pamphlet in großer Hast aus disparaten Versatzstücken des alltäglichen Antisemitismus im Zarenreich kompilierten. In den Jahren 1919/20 erschien unter dem Pseudonym Gottfried zur Beek eine deutsche Version, die bis zum Beginn der NS-Zeit 33 Auflagen erzielte und vom Weltkriegsgeneral Erich Ludendorff ebenso rezipiert wurde wie von den Terroristen im Umkreis der Mörder Walther Rathenaus, der in der radikal-völkischen „Organisation Consul“ als einer der „Weisen von Zion“ galt. Hitler erwähnte die „Protokolle“ erstmals am 11. August 1921, aber in seiner Bibliothek fand sich kein Exemplar der Schrift. Ebenfalls 1921 enttarnte Philip Graves von der Londoner Times das Machwerk als Fälschung, was jedoch der Wahnidee einer „jüdischen Weltverschwörung“ keinerlei Abbruch tat, entgegen dem Befund von Erich von dem Bach-Zelewski (1899 – 1972), dem für die Bandenbekämpfung zuständigen Chef der Einsatzgruppe B, wonach „Juden nirgends in Europa eine wie auch immer geartete Organisation besaßen“, schon gar nicht eine, „um sich zu verschwören und um die Welt zu beherrschen. In Wahrheit besaßen sie überhaupt keine eigene Organisation, nicht einmal einen Informationsdienst“.
Belegt schon der Umgang der Nazis mit den „Protokollen“ ein „außerordentliches Maß an paranoider Phantasie“ (Richard J. Evans), so steigert sich diese in den anderen vier Fällen, die der Autor untersucht. Mit der Dolchstoßlegende verschaffen sich Rechte und Rechtsradikale die agitatorische Munition, um die Demokratie sturmreif zu schießen. Die Weimarer Linke benutzte den Reichstagsbrand mit der Reduktion von Fakten auf die simple Frage von cui bono als Instrument, um die Rechte ins Unrecht zu setzen. Der Flug von Rudolf Heß nach Schottland überraschte selbst Hitler, und die Interpretation als Friedensoffensive diente nur dazu, die britische „Kriegspartei“ und die Verantwortung für die Fortsetzung des Krieges und für die Vernichtung des europäischen Judentums propagandistisch auf den britischen Premierminister abzuwälzen. Das vermeintliche Überleben Hitlers und Eva Brauns in Argentinien, Paraguay, Brasilien oder Indonesien in Büchern, Boulevardpresse, Film, Fernsehen und Internet war eine Erfindung von medialen Geschäftemachern, die nur gelegentlich auch politische Ziele verfolgten. Bei dieser „Industrie“, wie Roger Clark das kritisch nennt – sie wirtschaftet bis zum heutigen Tag –, muss man in der Tat mit Erfindungen und Spekulationen in tiefster Preislage rechnen sowie mit Anleihen bei Astrologie, Okkultismus und reiner Fantasterei, die von keinerlei Realitätsbezug mehr angekränkelt sind – etwa damit, dass Kanzlerin Angela Merkel forsch zur spätgeborenen Tochter des Ehepaars Hitler-Braun erklärt wird.
Evans’ facettenreiches Buch informiert vorzüglich über das komplexe Thema „Verschwörungstheorien“ unter dem Nationalsozialismus. Außerdem zeigt es einleuchtend, wie diese Theorien in der Regel in einem simplen Erklärungshorizont operieren, indem nur danach gefragt wird, wer von Ereignissen und Prozessen in welcher Hinsicht profitiert hat oder profitieren könnte. Evans belegt, dass diese Reduktion Wichtiges ausklammert, etwa welche Rolle das Moment der Überraschung spielt, das meistens unberücksichtigt bleibt bei der Konstruktion von solchen Theorien. Vom Reichstagsbrand, aber auch von Rudolf Heß’ „Friedensmission“ etwa wurden die vermuteten Profiteure oder angeblichen Initianten nachweislich vollkommen unvorbereitet überrascht.
Richard J. Evans: Das Dritte Reich und seine Verschwörungstheorien. Aus dem Englischen von Klaus-Dieter Schmidt. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2021. 367 Seiten, 26 Euro.
Die „Protokolle der Weisen
von Zion“ waren ein Eckpfeiler
der NS-Propaganda
Der Flug von Rudolf Heß
nach Schottland 1941
überraschte selbst Hitler
Auf dieser Palette befinden sich fertige Bücher, wie sie später in den Schaufenstern liegen, gelesen, prämiert und verrissen werden.
Dieser spezifische LKW, der auf dem Bild zu sehen ist, fährt von der Buchbinderei in Pfarrkirchen nach Erfurt zu...
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Fantasien
Richard J. Evans spürt Verschwörungsideologien
im NS-Staat nach und erklärt, was dahintersteckte
VON RUDOLF WALTHER
Verschwörungen und Verschwörungstheorien gehören zur Geschichte wie Intrigen und Komplotte zum Alltag. Seit dem 18. Jahrhundert, als Revolutionsgegner, klerikale und konservative Autoren begannen, allerlei Verschwörungen von Freimaurern, Illuminaten und anderen Geheimgesellschaften für die Französische Revolution verantwortlich zu machen, gehört die Verdächtigung und Denunziation von Kritik zur Grundausstattung für die Konstruktion von Verschwörungstheorien. Die von Carl Schmitt inspirierte, wegen ihres griffigen Titels „Kritik und Krise“ (1959) von konservativen und rechten Autoren oft herzitierte, aber seltener gelesene Dissertation Reinhart Kosellecks gilt diesen noch als Beleg für die These, die Revolution von 1789 sei das Resultat einer Verschwörung von Geheimgesellschaften. Die mit der Aufklärung verbundene Alphabetisierung sowie die mediale Entwicklung von Massen- und Boulevardpresse, Trivial- und Kolportageliteratur, später Film, Fernsehen und zuletzt dem Internet, das jeden Alphabetisierten potenziell zum Autor und Verleger macht, hat die Zahl und Verbreitung von Verschwörungstheorien exponentiell wachsen lassen. Die jüngste Pandemie hat auch diese Theorien zur flächendeckenden Seuche gemacht.
Der in Cambridge lehrende Historiker Richard J. Evans hat soeben eine umfangreiche Studie vorgelegt, in der er „Das Dritte Reich und seine Verschwörungstheorien“ im Detail und mit wissenschaftlicher Akribie analysiert und souverän darstellt. Konkret geht es in dem Buch um die Entstehung, Wirkung und Verbreitung der antisemitischen Hetzschrift „Die Protokolle der Weisen von Zion“, die Dolchstoßlegende nach der deutschen Niederlage im Ersten Weltkrieg, den Reichstagsbrand von Ende Februar 1933, den Flug von Rudolf Heß am 10. Mai 1941 nach Schottland und das „Weiterleben“ von Adolf Hitler und Eva Braun nach der Bekanntgabe ihres Todes durch das deutsche Radio am 1. Mai 1945 um 22.26 Uhr. Mit allen fünf Schlüsselereignissen verbinden sich Verschwörungstheorien unterschiedlicher Herkunft und Wirkung.
Die „Protokolle“ tragen den Originaltitel „Aus den Verhandlungsberichten der ‚Weisen von Zion‘ während des 1. Zionistenkongresses, der 1897 in Basel abgehalten wurde“, der aber in der Literatur meistens auf „Protokolle“ oder „Protokolle der Weisen von Zion“ verkürzt wird. Dem Machwerk zufolge handelt es sich dabei um Dokumente aus 24 Geheimsitzungen am Rande des Kongresses. Zwar waren diejenigen in der jüdischen Weltgemeinde, die damals wirklich nach Palästina auswandern wollten, noch in den 1920er-Jahren eine verschwindende Minderheit, aber das Pamphlet dramatisierte die Zustände in der Welt zur Alternative zwischen Gut und Böse, Geld und Gewalt, „wir und die“. Tenor: Juden besitzen das Geld und damit die Welt; ihre Methoden sind „Terror und Täuschung“.
Adolf Hitler selbst war im Unterschied zu Josef Stalin nicht von der Angst besessen, von Verschwörern umgeben zu sein, sondern konnte sich, zumindest bis zum 20. Juli 1944, der mehr oder weniger bedingungslosen Loyalität seiner Mitarbeiter sicher sein. Trotzdem glaubte Hitler an den zur Paranoia ausgewachsenen Wahn einer Verschwörung des Weltjudentums gegen das nationalsozialistische Deutschland und das christliche Abendland. Unter anderem auch deshalb wurden die „Protokolle“ zum „Eckpfeiler der NS-Propaganda“ und zur „bedeutendsten und bis heute wirkungsvollsten Verschwörungsideologie“ (Wolfgang Wippermann), auch wenn sich Hitler selbst in seinen Reden eher selten und in „Mein Kampf“ nur ein einziges Mal und obendrein negativ auf sie bezieht („die Juden halten die ,Protokolle‘ für eine Fälschung“), was er allerdings für „den besten Beweis“ für ihre Echtheit hielt. Ähnlich verquer argumentierte Joseph Goebbels 1924: „Ich glaube an die innere, aber nicht an die faktische Wahrheit der ,Protokolle‘.“ Nachdem Deutschland den Zweiten Weltkrieg begonnen hatte, berief sich er sich auf den „jüdischen Rasseinstinkt“ und befand zum Beleg für die Echtheit: „So genial können nur Juden sein, die Wahrheit zu sagen über die Juden“ (13. Mai 1943).
Tatsächlich entstanden die „Protokolle“ in Russland, wo 1918 zwei antisemitische, ehemalige zaristische Offiziere (Pjotr Schabelski-Bork und Fjodor Winberg) das Pamphlet in großer Hast aus disparaten Versatzstücken des alltäglichen Antisemitismus im Zarenreich kompilierten. In den Jahren 1919/20 erschien unter dem Pseudonym Gottfried zur Beek eine deutsche Version, die bis zum Beginn der NS-Zeit 33 Auflagen erzielte und vom Weltkriegsgeneral Erich Ludendorff ebenso rezipiert wurde wie von den Terroristen im Umkreis der Mörder Walther Rathenaus, der in der radikal-völkischen „Organisation Consul“ als einer der „Weisen von Zion“ galt. Hitler erwähnte die „Protokolle“ erstmals am 11. August 1921, aber in seiner Bibliothek fand sich kein Exemplar der Schrift. Ebenfalls 1921 enttarnte Philip Graves von der Londoner Times das Machwerk als Fälschung, was jedoch der Wahnidee einer „jüdischen Weltverschwörung“ keinerlei Abbruch tat, entgegen dem Befund von Erich von dem Bach-Zelewski (1899 – 1972), dem für die Bandenbekämpfung zuständigen Chef der Einsatzgruppe B, wonach „Juden nirgends in Europa eine wie auch immer geartete Organisation besaßen“, schon gar nicht eine, „um sich zu verschwören und um die Welt zu beherrschen. In Wahrheit besaßen sie überhaupt keine eigene Organisation, nicht einmal einen Informationsdienst“.
Belegt schon der Umgang der Nazis mit den „Protokollen“ ein „außerordentliches Maß an paranoider Phantasie“ (Richard J. Evans), so steigert sich diese in den anderen vier Fällen, die der Autor untersucht. Mit der Dolchstoßlegende verschaffen sich Rechte und Rechtsradikale die agitatorische Munition, um die Demokratie sturmreif zu schießen. Die Weimarer Linke benutzte den Reichstagsbrand mit der Reduktion von Fakten auf die simple Frage von cui bono als Instrument, um die Rechte ins Unrecht zu setzen. Der Flug von Rudolf Heß nach Schottland überraschte selbst Hitler, und die Interpretation als Friedensoffensive diente nur dazu, die britische „Kriegspartei“ und die Verantwortung für die Fortsetzung des Krieges und für die Vernichtung des europäischen Judentums propagandistisch auf den britischen Premierminister abzuwälzen. Das vermeintliche Überleben Hitlers und Eva Brauns in Argentinien, Paraguay, Brasilien oder Indonesien in Büchern, Boulevardpresse, Film, Fernsehen und Internet war eine Erfindung von medialen Geschäftemachern, die nur gelegentlich auch politische Ziele verfolgten. Bei dieser „Industrie“, wie Roger Clark das kritisch nennt – sie wirtschaftet bis zum heutigen Tag –, muss man in der Tat mit Erfindungen und Spekulationen in tiefster Preislage rechnen sowie mit Anleihen bei Astrologie, Okkultismus und reiner Fantasterei, die von keinerlei Realitätsbezug mehr angekränkelt sind – etwa damit, dass Kanzlerin Angela Merkel forsch zur spätgeborenen Tochter des Ehepaars Hitler-Braun erklärt wird.
Evans’ facettenreiches Buch informiert vorzüglich über das komplexe Thema „Verschwörungstheorien“ unter dem Nationalsozialismus. Außerdem zeigt es einleuchtend, wie diese Theorien in der Regel in einem simplen Erklärungshorizont operieren, indem nur danach gefragt wird, wer von Ereignissen und Prozessen in welcher Hinsicht profitiert hat oder profitieren könnte. Evans belegt, dass diese Reduktion Wichtiges ausklammert, etwa welche Rolle das Moment der Überraschung spielt, das meistens unberücksichtigt bleibt bei der Konstruktion von solchen Theorien. Vom Reichstagsbrand, aber auch von Rudolf Heß’ „Friedensmission“ etwa wurden die vermuteten Profiteure oder angeblichen Initianten nachweislich vollkommen unvorbereitet überrascht.
Richard J. Evans: Das Dritte Reich und seine Verschwörungstheorien. Aus dem Englischen von Klaus-Dieter Schmidt. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2021. 367 Seiten, 26 Euro.
Die „Protokolle der Weisen
von Zion“ waren ein Eckpfeiler
der NS-Propaganda
Der Flug von Rudolf Heß
nach Schottland 1941
überraschte selbst Hitler
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Dieser spezifische LKW, der auf dem Bild zu sehen ist, fährt von der Buchbinderei in Pfarrkirchen nach Erfurt zu...
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Perlentaucher-Notiz zur Dlf Kultur-Rezension
Rezensent Dietmar Süß verdankt Richard J. Evans nicht unbedingt gänzlich neue Erkenntnisse zu Verschwörungstheorien im, über und nach dem Dritten Reich. Der renommierte britische und ehemals in Cambridge lehrende Deutschland-Historiker definiert darin die verschiedenen Arten von Verschwörungstheorie und fokussiert sich dabei vor allem auf fünf spezielle Theorien, darunter auch die bis heute wirkenden "Protokolle der Weisen von Zion", erklärt Süß. Da die im Buch aufgezeigten Beispiele schon älter sind, erscheinen sie dem Rezensenten ein wenig durchgenudelt. Zudem hätte sich Süß eine tiefergehende Einbettung in die Zeit nach 1945 gewünscht. Trotzdem kann der Rezensent von dem Werk und vor allem von der Eindringlichkeit des ersten Kapitels überzeugt werden. Ein Buch, das lehrreich ist und zugleich nachdenklich macht, schließt er.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»In Evans' neuen Buch geht es im Grunde gar nicht um Geschichte. Es geht um unsere Gegenwart. Denn auch wir müssen uns heute mit Lügen herumschlagen, die leicht durchschaubar sind, aber von Millionen geglaubt werden.« WELTplus