Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.04.2005Der Zustand einer Gesellschaft, die Hitler herrschen ließ: Eine Dokumentation
Die Banalität des Bösen wird auf manchen historischen Aufnahmen besonders deutlich. Hier sehen wir unter der Vereinstafel des Stuttgarter Sportclubs ein Schild: ",Kraft durch Freude'-Kurs findet hier nicht mehr statt, weil sich auf diesem Platz auch Juden tummeln dürfen! Der Kurs ist auf den V.f.B. Platz verlegt worden." Hermann Vinke hat das Bild und dreihundert weitere Schwarzweißfotos für seine Dokumentation ausgewählt. Diese historischen Aufnahmen im Kontext mit vierzehn thematisch geordneten Kapiteln ergeben ein Sachbuch über "Das Dritte Reich", das junge Leser zuverlässig informiert und ihnen zugleich Argumente gegen rechtsextreme Lügen oder Legenden liefert.
Vorneweg geht der Autor auf den Ersten Weltkrieg und die Krisen der Weimarer Republik ein, abschließend skizziert er die Jahrzehnte nach 1945 bis hin zum Fall der Berliner Mauer und der EU-Ost-Erweiterung. In diesen zeitgeschichtlichen Rahmen gefaßt, wird auf den Seiten dazwischen das nationalsozialistische Unrechtsregime ausführlich erklärt; werden die Entstehung, die Herrschaftsmechanismen, der antisemitische Rassenwahn samt Holocaust und das Inferno des Zweiten Weltkrieges beschrieben. "Adolf Hitler - Aufstieg eines Gefreiten" heißt das erste Kapitel, in dem unter anderem ein knapper Lebenslauf des Diktators zu lesen ist. Blättert man weiter, folgen immer wieder eingefügte Kurzbiographien von Tätern, Erfüllungsgehilfen und Mitläufern, von Opfern und Widerstandskämpfern.
Darunter befinden sich bekannte Namen wie Goebbels, Eichmann, Freisler, Heß und Himmler oder andererseits Anne Frank, Georg Elser und Sophie Scholl (die Hermann Vinke übrigens bereits 1980 in einer ausgezeichneten Textcollage porträtiert hat). Außerdem werden hier noch Personen vorgestellt, die bislang in Schulbüchern kaum erwähnt wurden - beispielsweise der polnische Arzt Marek Edelmann, der 1943 beim Warschauer Ghettoaufstand eine jüdische Kampforganisation anführte. Trotz dieser fünfundvierzig Biographien begeht der Verfasser nicht den Fehler, politische Zustände und Zusammenhänge vorwiegend zu personalisieren. Sein literarisches Konzept stimmt vielmehr überein mit einer sozialwissenschaftlichen Einsicht, die der Bielefelder Historiker Hans-Ulrich Wehler vor längerem so auf den Punkt brachte: "Nicht Hitlers individuelle Psychopathologie ist das eigentliche Problem, sondern der Zustand einer Gesellschaft, die ihn aufsteigen und bis zum April 1945 herrschen ließ."
Vinke benennt politische und soziale Defizite, die schon vor 1933 offensichtlich waren, etwa den Mangel an couragierten Demokraten. Was während der nächsten zwölf Jahre folgte, die Anpassung eines Großteils der deutschen Bevölkerung unter dem Hakenkreuz, wird umfassender dargestellt. Dabei vermittelt er Einblicke in Schulstuben, Fabriken, Sportstadien. Zudem weist er auf eine Ideologie, die bis in die Küche reichte - zumindest bei denen, die der Reichsfrauenführerin Gertrud Scholtz-Klink folgten: "Wenn auch unsere Waffe auf diesem Gebiet (der Volksernährung) nur der Kochlöffel ist, soll seine Durchschlagskraft nicht geringer sein als die anderer Waffen."
Fachlich beraten wurde der Autor von einem der besten Kenner des Nationalsozialismus, von dem Berliner Geschichtswissenschaftler Wolfgang Benz. Ähnlich kompetente Unterstützung hätte das Ravensburger Lektorat leisten sollen. Kinder ab zwölf (so die Verlagsempfehlung) sind bei der Lektüre nämlich stellenweise sprachlich überfordert. Begriffe wie "Denunziation", "Freimaurer" oder "Protektorat" werden im vierseitigen Glossar leider nicht erläutert und bereiten sicher Verständnisschwierigkeiten. Weiterhin wäre es sinnvoll gewesen, nach dem Personenverzeichnis noch ein Sach- und Ortsregister abzudrucken, dann könnte in diesem Kompendium mehr nachgeschlagen werden.
Schließlich fehlen in dem sonst so guten Buch einige kartographische Orientierungshilfen. Die einzige vorhandene, dazu kaum lesbare Karte zeigt die vier Besatzungszonen nach 1945. Ist jedoch wie hier von Auschwitz, Babij Jar, Chelmno, Lidice, Majdanek oder Treblinka die Rede, so haben viele Jugendliche keine Ahnung, wo diese Orte liegen. Dies sollten sie aber wissen; denn der Tod war ja nicht bloß ein Meister aus Deutschland, wie Paul Celan schrieb - sondern ein Mörder, der keine Grenzen kannte.
WERNER HORNUNG.
Hermann Vinke: "Das Dritte Reich". Eine Dokumentation mit zahlreichen Biographien und Abbildungen. Buchverlag Otto Maier, Ravensburg 2005. 224 S., geb., 19,95 [Euro]. Ab 15 J.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die Banalität des Bösen wird auf manchen historischen Aufnahmen besonders deutlich. Hier sehen wir unter der Vereinstafel des Stuttgarter Sportclubs ein Schild: ",Kraft durch Freude'-Kurs findet hier nicht mehr statt, weil sich auf diesem Platz auch Juden tummeln dürfen! Der Kurs ist auf den V.f.B. Platz verlegt worden." Hermann Vinke hat das Bild und dreihundert weitere Schwarzweißfotos für seine Dokumentation ausgewählt. Diese historischen Aufnahmen im Kontext mit vierzehn thematisch geordneten Kapiteln ergeben ein Sachbuch über "Das Dritte Reich", das junge Leser zuverlässig informiert und ihnen zugleich Argumente gegen rechtsextreme Lügen oder Legenden liefert.
Vorneweg geht der Autor auf den Ersten Weltkrieg und die Krisen der Weimarer Republik ein, abschließend skizziert er die Jahrzehnte nach 1945 bis hin zum Fall der Berliner Mauer und der EU-Ost-Erweiterung. In diesen zeitgeschichtlichen Rahmen gefaßt, wird auf den Seiten dazwischen das nationalsozialistische Unrechtsregime ausführlich erklärt; werden die Entstehung, die Herrschaftsmechanismen, der antisemitische Rassenwahn samt Holocaust und das Inferno des Zweiten Weltkrieges beschrieben. "Adolf Hitler - Aufstieg eines Gefreiten" heißt das erste Kapitel, in dem unter anderem ein knapper Lebenslauf des Diktators zu lesen ist. Blättert man weiter, folgen immer wieder eingefügte Kurzbiographien von Tätern, Erfüllungsgehilfen und Mitläufern, von Opfern und Widerstandskämpfern.
Darunter befinden sich bekannte Namen wie Goebbels, Eichmann, Freisler, Heß und Himmler oder andererseits Anne Frank, Georg Elser und Sophie Scholl (die Hermann Vinke übrigens bereits 1980 in einer ausgezeichneten Textcollage porträtiert hat). Außerdem werden hier noch Personen vorgestellt, die bislang in Schulbüchern kaum erwähnt wurden - beispielsweise der polnische Arzt Marek Edelmann, der 1943 beim Warschauer Ghettoaufstand eine jüdische Kampforganisation anführte. Trotz dieser fünfundvierzig Biographien begeht der Verfasser nicht den Fehler, politische Zustände und Zusammenhänge vorwiegend zu personalisieren. Sein literarisches Konzept stimmt vielmehr überein mit einer sozialwissenschaftlichen Einsicht, die der Bielefelder Historiker Hans-Ulrich Wehler vor längerem so auf den Punkt brachte: "Nicht Hitlers individuelle Psychopathologie ist das eigentliche Problem, sondern der Zustand einer Gesellschaft, die ihn aufsteigen und bis zum April 1945 herrschen ließ."
Vinke benennt politische und soziale Defizite, die schon vor 1933 offensichtlich waren, etwa den Mangel an couragierten Demokraten. Was während der nächsten zwölf Jahre folgte, die Anpassung eines Großteils der deutschen Bevölkerung unter dem Hakenkreuz, wird umfassender dargestellt. Dabei vermittelt er Einblicke in Schulstuben, Fabriken, Sportstadien. Zudem weist er auf eine Ideologie, die bis in die Küche reichte - zumindest bei denen, die der Reichsfrauenführerin Gertrud Scholtz-Klink folgten: "Wenn auch unsere Waffe auf diesem Gebiet (der Volksernährung) nur der Kochlöffel ist, soll seine Durchschlagskraft nicht geringer sein als die anderer Waffen."
Fachlich beraten wurde der Autor von einem der besten Kenner des Nationalsozialismus, von dem Berliner Geschichtswissenschaftler Wolfgang Benz. Ähnlich kompetente Unterstützung hätte das Ravensburger Lektorat leisten sollen. Kinder ab zwölf (so die Verlagsempfehlung) sind bei der Lektüre nämlich stellenweise sprachlich überfordert. Begriffe wie "Denunziation", "Freimaurer" oder "Protektorat" werden im vierseitigen Glossar leider nicht erläutert und bereiten sicher Verständnisschwierigkeiten. Weiterhin wäre es sinnvoll gewesen, nach dem Personenverzeichnis noch ein Sach- und Ortsregister abzudrucken, dann könnte in diesem Kompendium mehr nachgeschlagen werden.
Schließlich fehlen in dem sonst so guten Buch einige kartographische Orientierungshilfen. Die einzige vorhandene, dazu kaum lesbare Karte zeigt die vier Besatzungszonen nach 1945. Ist jedoch wie hier von Auschwitz, Babij Jar, Chelmno, Lidice, Majdanek oder Treblinka die Rede, so haben viele Jugendliche keine Ahnung, wo diese Orte liegen. Dies sollten sie aber wissen; denn der Tod war ja nicht bloß ein Meister aus Deutschland, wie Paul Celan schrieb - sondern ein Mörder, der keine Grenzen kannte.
WERNER HORNUNG.
Hermann Vinke: "Das Dritte Reich". Eine Dokumentation mit zahlreichen Biographien und Abbildungen. Buchverlag Otto Maier, Ravensburg 2005. 224 S., geb., 19,95 [Euro]. Ab 15 J.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Robert Probst spendet diesem Buch für Jugendliche über das "Dritte Reich" viel Lob, auch wenn er ein paar Kritikpunkte anzumerken hat. Insgesamt betont er, dass es dem Autor "gelungen" sei, das Thema für Jugendliche verständlich und dabei auch interessant "neu aufzuarbeiten". Der Rezensent zeigt sich beeindruckt von der schieren "Fakten- und Bilderfülle" die Vinke anbringt, um Jugendliche von heute gegen den Rechtsextremismus zu imprägnieren. "Anschaulich und leicht verständlich" berichte Vinke von der Zeit zwischen 1933-1945, wobei er dankenswerterweise auch die Vor- und Nachgeschichte der Naziherrschaft nicht ausspart, lobt Probst. Der Autor befinde sich auf dem neuesten Stand der Forschung, komplexe Zusammenhänge würden in verständlicher Form vermittelt. Schade findet der Rezensent dagegen, dass Vinke auf jegliches Kartenmaterial verzichtet. Die Wiederholungen verwirren ihn etwas, insgesamt aber preist er die "Stringenz" und Anschaulichkeit des Buches.
© Perlentaucher Medien GmbH
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