Kiplings Klassiker zum 150. Geburtstag am 30. Dezember 2015.
Wer kennt sie nicht: den kleinen Inderjungen Mowgli, seine treuen Freunde Balu, Baghira und Kaa und seinen Erzfeind, den hinterhältigen Tiger Schir Khan. Die Figuren aus Rudyard Kiplings Dschungelbuch, 1894 erschienen, verzaubern nicht erst seit Disneys Zeichentrickklassiker ein Millionenpublikum und begründeten den Weltruhm des englischen Nobelpreisträgers. Die schier grenzenlose Fantasie, der sprühende Witz und nicht zuletzt die umfangreiche Kenntnis der indischen Tier- und Pflanzenwelt machen den magischen Reiz dieser Geschichten aus.
Wer kennt sie nicht: den kleinen Inderjungen Mowgli, seine treuen Freunde Balu, Baghira und Kaa und seinen Erzfeind, den hinterhältigen Tiger Schir Khan. Die Figuren aus Rudyard Kiplings Dschungelbuch, 1894 erschienen, verzaubern nicht erst seit Disneys Zeichentrickklassiker ein Millionenpublikum und begründeten den Weltruhm des englischen Nobelpreisträgers. Die schier grenzenlose Fantasie, der sprühende Witz und nicht zuletzt die umfangreiche Kenntnis der indischen Tier- und Pflanzenwelt machen den magischen Reiz dieser Geschichten aus.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.01.2024Gute Jagd!
Wir sind hier nicht im Streichelzoo: Über Rudyard Kiplings Gesetz des Dschungels.
Von Daniel Damler
Im Dschungel sagt man "Gute Jagd". So grüßt der Panther höflich die Hirschkuh, bevor er sie zur Strecke bringt, so der Wolf das Wildschwein, so die Schlange das Kaninchen. Der formvollendete Umgang zwischen Jäger und Gejagtem, der doch nichts am tödlichen Ausgang der Begegnung ändert, ist sinnfälligster Ausdruck jener Ambivalenz, die Rudyard Kiplings "Dschungelgesetz" auszeichnet. Nicht verwunderlich, dass die einen es mit dem "Recht des Stärkeren" gleichsetzen - diese Version ist die gebräuchliche und hat Eingang in die Umgangssprache gefunden -, während andere darauf beharren, dass Kiplings "Gesetz" gerade keinen Zustand der Form- und Gesetzlosigkeit meint. Und genau darin liegt die schwer verdauliche Pointe der kiplingschen Schöpfung im 1894 erschienenen "Dschungelbuch": dass sich Ordnung und Selbstsucht, soziale Disziplin und kontrollierte Rücksichtslosigkeit nicht ausschließen.
Das Schicksal Moglis, der Hauptfigur der Geschichte, ist eng mit dem Dschungelgesetz verbunden. Der Bereitschaft der Dschungelbewohner, es unter allen Umständen zu befolgen, verdankt Mogli sein Leben. Als der Sohn eines Holzfällers in jungen Jahren seinen Eltern in der grünen Hölle Indiens abhandenkommt, nimmt sich eine Wolfsfamilie seiner an. Wirklich sicher ist er aber erst, als der monatlich tagende Rudelrat ihn in einem streng formalisierten Verfahren offiziell als Mitglied des Rudels anerkennt.
In Moglis Fall war die Aufnahme ganz und gar kein Selbstläufer und wäre fast gescheitert. Der kleine Junge benötigte zwei Fürsprecher, die nicht zugleich seine (Pflege-)Eltern sein durften, doch nur ein Einziger der Anwesenden sprach zugunsten Moglis: Balu, der Bär, der als dschungelweit bester Kenner des Gesetzes den Wolfswelpen die notwendigen rechtlichen Grundkenntnisse vermittelte und daher ein Stimmrecht im Rat der Wölfe besaß. Einen zweiten Mentor hatte Mogli zwar, Baghira, den schwarzen Panther, allein seine Stimme zählte im Rat nicht. Indes sah das Dschungelgesetz eine Alternative zu dem gängigen Verfahren vor. Wenn nämlich jemand bereit war, einen Preis für den umstrittenen Wolfswelpen zu zahlen, konnte das Jungtier auf diesem Weg "naturalisiert", in die Gemeinschaft der Wölfe aufgenommen werden. Und Baghira war dazu bereit. Er spendierte dem Rudel einen fetten Bullen.
Nachdem die Statusänderung vollzogen war, hatte Mogli nichts mehr zu befürchten und stand unter dem Schutz des Rudels. Selbst Schir Khan, der böse Tiger und Erzfeind des Menschenjungen, hielt sich ungeachtet seiner immensen Kraft an die Regel. Für das hohe Ansehen des Dschungelgesetzes und dessen Grad an Verbindlichkeit ist es bezeichnend, dass der vom mächtigen Tiger ersonnene Racheplan wiederum im Kern verfahrensrechtlicher Natur war, denn statt den Knaben einfach zu fressen, betrieb die Raubkatze dessen Ausschluss aus dem Rudel. Der Ausschluss war nichts anderes als das rechtliche Gegenstück zu der einst von Balu und Baghira forcierten "Einbürgerung".
Man hat versucht, das strenge Normenregime in Kiplings Dschungel rechtshistorisch einzuordnen und ihn mit der damals, in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts, vorherrschenden Strömung in der Rechtstheorie, dem Rechtspositivismus, in Verbindung zu bringen. Dessen Vordenker John Austin befürwortete eine strikte Trennung von Recht und Moral und verstand Recht als eine von Menschen, von einer politischen Instanz, dem Souverän, geschaffene Ordnung - in bewusster Abgrenzung zum idealistisch aufgeladenen, der menschlichen Setzung entzogenen "Naturrecht". Der Positivismus kam dem Bedürfnis der Juristen nach Professionalisierung in einer durch technischen Fortschritt entzauberten Welt entgegen.
Nun war Kipling aber kein Jurist. Sein Rechtsbegriff entstammt einer ganz anderen Vorstellungswelt. Für die Positivismusthese spricht überhaupt nur eine einzige Episode im ganzen Buch, jene Ansprache des Elefanten Hathi, die von den Anfängen des Dschungels handelt. Dieser sei, belehrt er das versammelte Waldvolk, eine Schöpfung seines Vorgängers Tha, des Ersten der Elefanten. Er habe den Urwald aus dem tiefen Wasser gezogen und mit seinen riesigen Stoßzähnen die Flüsse geschaffen. Um die Belange der Dschungeltiere konnte sich der viel beschäftigte Tha nicht kümmern, daher bestimmte er den Ersten der Tiger zum Statthalter und Richter. Als sich jener als unfähig erwies, erklärte Tha, es sei "Zeit, dass es ein Gesetz gibt, ein Gesetz, das ihr nicht brechen dürft".
Doch ist Tha deshalb schon ein Souverän im rechtspositivistischen Sinn? Keineswegs. Der Erste der Elefanten ist offenkundig eine deistische Erscheinung, die sich mit einigen wenigen Schöpfungsakten begnügt, im Übrigen aber die Welt ihrem Schicksal überlässt. Folgerichtig spielt Tha in allen anderen Kapiteln des Dschungelbuchs keine Rolle. Das Gesetz des Dschungels tritt nicht als der Wille irgendeines Gesetzgebers in Erscheinung, sondern als ein autonomer, sich selbst reproduzierender Mechanismus, als Gesetz "an sich". Der wichtigste, endlos wiederholte Satz im Dschungel lautet "Das ist Gesetz" und nicht etwa "Das ist der Wille Thas, unseres Gesetzgebers". Das Dschungelgesetz - "so alt und wahr wie die Welt" - zeichnet sich "durch ungeheure Vielfalt" aus. Es ähnelt gerade nicht dem mosaischen Gesetz, nicht den durch den Gesetzgebergott des Alten Testaments offenbarten, sehr handlichen Zehn Geboten.
Dass die Vielfalt nicht von Anfang an bestand, geht aus der Bemerkung hervor, dass das Gesetz für alle Widrigkeiten Vorsorge getroffen habe, "weshalb seine Gebote nunmehr so vollkommen sind, wie sie durch Zeit und Gewohnheit nur werden können". Dem Satz sind zwei dem Positivismus gänzlich fremde Annahmen zu entnehmen: Erstens, das Dschungelgesetz "entwickelt sich" und ist ein Produkt der Gewohnheit, nicht eines institutionell gebundenen Willens. Zweitens, das Gesetz mag nicht den gängigen menschlichen Moralvorstellungen entsprechen, ist aber deshalb nicht wertfrei oder unvernünftig. Gerade seine allseits anerkannte Vollkommenheit, der Umstand, dass es "nie etwas ohne Grund festlegt", macht aus Sicht der Dschungelbewohner das Gesetz erst zum Gesetz.
Kiplings ganz eigene, in rechtstheoretischer Hinsicht aus der Zeit gefallene Vorstellung von der Genese des Rechts speist sich aus dem Ideenreservoir des Neo-Lamarckismus, einer dann doch höchst zeitgemäßen, aber eben nicht juristischen, sondern philosophisch-lebenswissenschaftlichen Denkschule. Sie knüpft an die Lehren des französischen Biologen Jean-Baptiste de Lamarck an, der noch vor Darwin eine erste Evolutionstheorie ausgearbeitet hatte. Eine zentrale Rolle spielt das Dogma von der Vererbung erworbener Eigenschaften. Für die Anhänger Lamarcks steht fest, dass Lebewesen durch eigene Anstrengung Veränderungen ihres Körpers herbeizuführen vermögen, die dann, wenn sie sich von Generation zu Generation addieren, neue überlegene Arten hervorbringen können. Schulbeispiel ist die Giraffe, die ihren langen Hals dem generationsübergreifenden Streben verdankt, an die höher gelegenen Blätter der Bäume zu gelangen.
Der Streit zwischen Lamarckisten und Darwinisten gilt heute als zugunsten der Lehren Darwins entschieden. Doch im späten neunzehnten Jahrhundert war der Ausgang dieser wissenschaftlichen Kontroverse noch offen und der Lamarckismus eine so angesehene wie populäre Theorie. Die Lehre von der Vererbung erworbener Eigenschaften ist auch in Kiplings Dschungelbuch präsent. Als beispielsweise Mogli dem Leithund der brutalen Dhouls mit seinem Messer den buschigen Schwanz abschnitt, rief er ihm höhnisch zu: "Jetzt wird es viele Würfe kleiner, schwanzloser Hunde geben!"
Die Popularität des Lamarckismus um 1900 hatte darin ihre Ursache, dass er besser als der Darwinismus mit den gängigen kulturgeschichtlichen Modellen des Historismus harmonierte, sodass eine alles erklärende Einheitstheorie zum Greifen nahe schien, die in Natur- und Menschheitsgeschichte ein einziges Prinzip am Werk sah. Überdies passte er vorzüglich zum Fortschrittsoptimismus und Paternalismus des viktorianischen Zeitalters.
Wichtigster Repräsentant einer solchen Weltsicht war Herbert Spencer. Seine Bücher erfreuten sich einer so großen Beliebtheit und Verbreitung, dass Kipling in seinem Buch "Kim" (1901) einen leidenschaftlichen Spencerianer karikierte, was ihn aber nicht davon abhielt, eifrig selbst mit den Leitgedanken Spencers zu jonglieren. Dazu gehörte die Idee eines universellen evolutionären Prinzips, die Vorstellung, dass sich die Physiologie der Lebewesen ebenso wie das kulturelle Leben der Menschen vom Einfachen zum Komplexen, vom Homogenen zum Heterogenen entwickelt. Die Abläufe vollziehen sich aus sich heraus. Gott ist keine intervenierende und gesetzgebende Instanz mehr. Allenfalls als deistischer Schöpfergott bleibt er noch im Spiel.
Kipling übertrug diese Gedanken auf die Genese des Rechts und schuf mit dem "ungeheuer vielfältigen" Dschungelgesetz die Vision einer symbiotischen Verbindung zwischen dem biologischen Naturgesetz und dem moralischen Naturrecht. Für Kipling (wie für Spencer) war das Herzstück, die entscheidende, gleichsam technische Voraussetzung des kosmischen Fort- und Auseinanderstrebens das Vermögen, Erfahrungen - und dazu zählt eben auch erworbenes normatives Wissen - zu speichern und wie in einem riesigen Archiv für die Zukunft zu konservieren.
Die ingeniöse Verkörperung des Gegenprinzips, des aus dem Vergessen geborenen Chaos, sind die Bandar-log, das führer-, disziplin- und vor allem gesetzlose Affenvolk. Ihr schamloses fortschrittsfeindliches Verhalten hat einen einfachen Grund: "Ständig waren sie gerade dabei, einen Anführer zu wählen und eigene Gesetze und Bräuche zu erfinden, aber das trat nicht ein, weil ihr Gedächtnis nicht von einem Tag bis zum nächsten reichte." Nicht irgendein angeborener böser Wille, allein ihre Gedächtnisschwäche macht die Affen also zu den Gesetzlosen des Dschungels. Gedächtnis- und Gesetzlosigkeit sind für Kipling zwei Seiten der gleichen Medaille.
Ausgerechnet die Affen, die von allen Tieren dem Menschen am nächsten stehen, mag man sich wundern. Aber das Unterlaufen von Vorurteilen hat bei Kipling Methode. Denn wer gehört zu Moglis besten Freunden? Wer befolgt stets wortgetreu die Vorschriften des Dschungelgesetzes? Raubtiere wie die Riesenpython Kaa und der Panther Baghira. Damit sind inhaltliche Aussagen verbunden, die das Missverständnis begünstigt haben, in Kiplings Urwald regiere allein das Recht des Stärkeren.
Tatsächlich ist der Dschungel kein Streichelzoo für Vegetarier. Hier wird fortwährend gekämpft, getötet, gefressen. Auch Kaa, Moglis kluge Beschützerin, füllt ihren Magen mit putzigen Äffchen, ohne dass ihr daraus jemand einen Vorwurf macht: ein Widerspruch, den der Leser aushalten muss und kann, weil nach Kiplings Verständnis gar kein Widerspruch vorliegt. Man tötet Tiere hier niemals - wie der Mensch - aus Vergnügen, reiner Mordlust, Unersättlichkeit. Das verbietet das Gesetz. Nur soviel sie essen können, dürfen sie erlegen, und den Schwächsten nimmt man nicht alles zum Leben. Dschungelbewohner, die gegen solche und andere Grundnormen verstoßen, sind in einem Ausmaß verfemt, dass es einer institutionalisierten Normendurchsetzung gar nicht bedarf.
Kiplings Biographie hat nicht wenig dazu beigetragen, dass das "Dschungelbuch" im Allgemeinen und das Dschungelgesetz im Besonderen mit den Jahren in Verruf geriet. Mehrfach trat er als Verfechter des Imperialismus und Kolonialismus in Erscheinung. In einem etwas weinerlichen Gedicht aus dem Jahr 1899 mit dem sprichwörtlich gewordenen Titel "Des Weißen Mannes Bürde" beklagt er allen Ernstes die Lasten und Opfer, die Amerikaner und Europäer auf sich nehmen, um andere Erdteile zivilisatorisch zu beglücken. Der Dschungel als Metapher für das Zusammenleben der Völker muss in diesem kolonialen Kontext als unerträgliche Entgleisung erscheinen.
Aber ist damit das letzte Wort gesprochen? Taugt das Dschungelgesetz wirklich nicht als Modell oder zumindest Gedankenexperiment für die Regulierung der internationalen Beziehungen? Kiplings imperialistische Verirrungen sind kein schlagendes Argument, denn andere Anhänger einer evolutionären Weltverbesserung wie Spencer zählten zu den schärfsten Kritikern des Imperialismus.
Vor allem bestehen gewisse Zweifel, ob unsere gegenwärtigen Ansätze, die sich in der Tat stark unterscheiden vom dschungelrechtlichen Pragmatismus, die ersehnten Erfolge zeitigen, um es vorsichtig auszudrücken. Von einem Siegeszug des internationalen Rechts und der Menschenrechte kann mit Blick auf die vergangenen Jahre jedenfalls keine Rede sein, was nicht zuletzt daran liegt, dass ein Teil der Menschheit den moralischen Maximalismus des Westens nur als eine weitere Spielart des Imperialismus empfindet, als eine Normensetzung "von oben", nicht "von unten".
Einen Weltgesetzgeber und erst recht eine Weltexekutive wird es auf lange Sicht nicht geben. Ambitionierte Deklarationen, ersonnen in philosophischen Seminaren westlicher Universitäten und von ihren Autoren als neues Völkerrecht verklärt, können wegen ihrer Wirklichkeitsferne und Einseitigkeit die Lücke nicht füllen. Gegenwärtig gibt es keine Alternative zu einem evolutionären Prozess, der nach und nach Mindeststandards des Zusammenlebens generiert, die (zunächst) nicht allen Ansprüchen genügen, dafür aber allseits akzeptiert sind. Sollen Normen "gelebt" werden, "in Fleisch und Blut" übergehen, muss dem ein kollektives Erinnern an die erwiesene Vernünftigkeit der Vorschriften vorausgehen. Normative Errungenschaften, seien sie für sich genommen noch so unbedeutend, sind fortwährend zu wiederholen und so beständig im Gedenken als richtig und vernünftig zu archivieren, dass es kein Zurück mehr geben kann. So und nicht anders hat das Dschungelgesetz unangefochtene Geltung erlangt.
Es enthält zudem - und kann auch darin Vorbild sein - eine bedrückend aktuelle Notstandsregelung für ökologische Katastrophen. Wenn die periodisch wiederkehrende Große Dürre den Urwald heimsucht und ihn regelrecht verzehrt, ist Schluss mit dem Laissez-faire des Fressens und Gefressenwerdens. Dann zählen allein die Schonung der natürlichen Ressourcen und gegenseitige Rücksichtnahme. Hathi der Elefant ruft den Wasserfrieden aus, und fortan ist die Jagd an den letzten verbliebenen Wasserstellen strengstens untersagt. Wenn das Sterben an der Tagesordnung ist, verbietet sich das Töten. "Gute Jagd", wünscht höflich Baghira der Panther, als er sich zu den Hirschen und Wildschweinen am versiegenden Fluss gesellt. Aber er jagt diesmal nicht. Nicht in Zeiten wie diesen, nicht in Zeiten der Not. Das ist Gesetz.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wir sind hier nicht im Streichelzoo: Über Rudyard Kiplings Gesetz des Dschungels.
Von Daniel Damler
Im Dschungel sagt man "Gute Jagd". So grüßt der Panther höflich die Hirschkuh, bevor er sie zur Strecke bringt, so der Wolf das Wildschwein, so die Schlange das Kaninchen. Der formvollendete Umgang zwischen Jäger und Gejagtem, der doch nichts am tödlichen Ausgang der Begegnung ändert, ist sinnfälligster Ausdruck jener Ambivalenz, die Rudyard Kiplings "Dschungelgesetz" auszeichnet. Nicht verwunderlich, dass die einen es mit dem "Recht des Stärkeren" gleichsetzen - diese Version ist die gebräuchliche und hat Eingang in die Umgangssprache gefunden -, während andere darauf beharren, dass Kiplings "Gesetz" gerade keinen Zustand der Form- und Gesetzlosigkeit meint. Und genau darin liegt die schwer verdauliche Pointe der kiplingschen Schöpfung im 1894 erschienenen "Dschungelbuch": dass sich Ordnung und Selbstsucht, soziale Disziplin und kontrollierte Rücksichtslosigkeit nicht ausschließen.
Das Schicksal Moglis, der Hauptfigur der Geschichte, ist eng mit dem Dschungelgesetz verbunden. Der Bereitschaft der Dschungelbewohner, es unter allen Umständen zu befolgen, verdankt Mogli sein Leben. Als der Sohn eines Holzfällers in jungen Jahren seinen Eltern in der grünen Hölle Indiens abhandenkommt, nimmt sich eine Wolfsfamilie seiner an. Wirklich sicher ist er aber erst, als der monatlich tagende Rudelrat ihn in einem streng formalisierten Verfahren offiziell als Mitglied des Rudels anerkennt.
In Moglis Fall war die Aufnahme ganz und gar kein Selbstläufer und wäre fast gescheitert. Der kleine Junge benötigte zwei Fürsprecher, die nicht zugleich seine (Pflege-)Eltern sein durften, doch nur ein Einziger der Anwesenden sprach zugunsten Moglis: Balu, der Bär, der als dschungelweit bester Kenner des Gesetzes den Wolfswelpen die notwendigen rechtlichen Grundkenntnisse vermittelte und daher ein Stimmrecht im Rat der Wölfe besaß. Einen zweiten Mentor hatte Mogli zwar, Baghira, den schwarzen Panther, allein seine Stimme zählte im Rat nicht. Indes sah das Dschungelgesetz eine Alternative zu dem gängigen Verfahren vor. Wenn nämlich jemand bereit war, einen Preis für den umstrittenen Wolfswelpen zu zahlen, konnte das Jungtier auf diesem Weg "naturalisiert", in die Gemeinschaft der Wölfe aufgenommen werden. Und Baghira war dazu bereit. Er spendierte dem Rudel einen fetten Bullen.
Nachdem die Statusänderung vollzogen war, hatte Mogli nichts mehr zu befürchten und stand unter dem Schutz des Rudels. Selbst Schir Khan, der böse Tiger und Erzfeind des Menschenjungen, hielt sich ungeachtet seiner immensen Kraft an die Regel. Für das hohe Ansehen des Dschungelgesetzes und dessen Grad an Verbindlichkeit ist es bezeichnend, dass der vom mächtigen Tiger ersonnene Racheplan wiederum im Kern verfahrensrechtlicher Natur war, denn statt den Knaben einfach zu fressen, betrieb die Raubkatze dessen Ausschluss aus dem Rudel. Der Ausschluss war nichts anderes als das rechtliche Gegenstück zu der einst von Balu und Baghira forcierten "Einbürgerung".
Man hat versucht, das strenge Normenregime in Kiplings Dschungel rechtshistorisch einzuordnen und ihn mit der damals, in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts, vorherrschenden Strömung in der Rechtstheorie, dem Rechtspositivismus, in Verbindung zu bringen. Dessen Vordenker John Austin befürwortete eine strikte Trennung von Recht und Moral und verstand Recht als eine von Menschen, von einer politischen Instanz, dem Souverän, geschaffene Ordnung - in bewusster Abgrenzung zum idealistisch aufgeladenen, der menschlichen Setzung entzogenen "Naturrecht". Der Positivismus kam dem Bedürfnis der Juristen nach Professionalisierung in einer durch technischen Fortschritt entzauberten Welt entgegen.
Nun war Kipling aber kein Jurist. Sein Rechtsbegriff entstammt einer ganz anderen Vorstellungswelt. Für die Positivismusthese spricht überhaupt nur eine einzige Episode im ganzen Buch, jene Ansprache des Elefanten Hathi, die von den Anfängen des Dschungels handelt. Dieser sei, belehrt er das versammelte Waldvolk, eine Schöpfung seines Vorgängers Tha, des Ersten der Elefanten. Er habe den Urwald aus dem tiefen Wasser gezogen und mit seinen riesigen Stoßzähnen die Flüsse geschaffen. Um die Belange der Dschungeltiere konnte sich der viel beschäftigte Tha nicht kümmern, daher bestimmte er den Ersten der Tiger zum Statthalter und Richter. Als sich jener als unfähig erwies, erklärte Tha, es sei "Zeit, dass es ein Gesetz gibt, ein Gesetz, das ihr nicht brechen dürft".
Doch ist Tha deshalb schon ein Souverän im rechtspositivistischen Sinn? Keineswegs. Der Erste der Elefanten ist offenkundig eine deistische Erscheinung, die sich mit einigen wenigen Schöpfungsakten begnügt, im Übrigen aber die Welt ihrem Schicksal überlässt. Folgerichtig spielt Tha in allen anderen Kapiteln des Dschungelbuchs keine Rolle. Das Gesetz des Dschungels tritt nicht als der Wille irgendeines Gesetzgebers in Erscheinung, sondern als ein autonomer, sich selbst reproduzierender Mechanismus, als Gesetz "an sich". Der wichtigste, endlos wiederholte Satz im Dschungel lautet "Das ist Gesetz" und nicht etwa "Das ist der Wille Thas, unseres Gesetzgebers". Das Dschungelgesetz - "so alt und wahr wie die Welt" - zeichnet sich "durch ungeheure Vielfalt" aus. Es ähnelt gerade nicht dem mosaischen Gesetz, nicht den durch den Gesetzgebergott des Alten Testaments offenbarten, sehr handlichen Zehn Geboten.
Dass die Vielfalt nicht von Anfang an bestand, geht aus der Bemerkung hervor, dass das Gesetz für alle Widrigkeiten Vorsorge getroffen habe, "weshalb seine Gebote nunmehr so vollkommen sind, wie sie durch Zeit und Gewohnheit nur werden können". Dem Satz sind zwei dem Positivismus gänzlich fremde Annahmen zu entnehmen: Erstens, das Dschungelgesetz "entwickelt sich" und ist ein Produkt der Gewohnheit, nicht eines institutionell gebundenen Willens. Zweitens, das Gesetz mag nicht den gängigen menschlichen Moralvorstellungen entsprechen, ist aber deshalb nicht wertfrei oder unvernünftig. Gerade seine allseits anerkannte Vollkommenheit, der Umstand, dass es "nie etwas ohne Grund festlegt", macht aus Sicht der Dschungelbewohner das Gesetz erst zum Gesetz.
Kiplings ganz eigene, in rechtstheoretischer Hinsicht aus der Zeit gefallene Vorstellung von der Genese des Rechts speist sich aus dem Ideenreservoir des Neo-Lamarckismus, einer dann doch höchst zeitgemäßen, aber eben nicht juristischen, sondern philosophisch-lebenswissenschaftlichen Denkschule. Sie knüpft an die Lehren des französischen Biologen Jean-Baptiste de Lamarck an, der noch vor Darwin eine erste Evolutionstheorie ausgearbeitet hatte. Eine zentrale Rolle spielt das Dogma von der Vererbung erworbener Eigenschaften. Für die Anhänger Lamarcks steht fest, dass Lebewesen durch eigene Anstrengung Veränderungen ihres Körpers herbeizuführen vermögen, die dann, wenn sie sich von Generation zu Generation addieren, neue überlegene Arten hervorbringen können. Schulbeispiel ist die Giraffe, die ihren langen Hals dem generationsübergreifenden Streben verdankt, an die höher gelegenen Blätter der Bäume zu gelangen.
Der Streit zwischen Lamarckisten und Darwinisten gilt heute als zugunsten der Lehren Darwins entschieden. Doch im späten neunzehnten Jahrhundert war der Ausgang dieser wissenschaftlichen Kontroverse noch offen und der Lamarckismus eine so angesehene wie populäre Theorie. Die Lehre von der Vererbung erworbener Eigenschaften ist auch in Kiplings Dschungelbuch präsent. Als beispielsweise Mogli dem Leithund der brutalen Dhouls mit seinem Messer den buschigen Schwanz abschnitt, rief er ihm höhnisch zu: "Jetzt wird es viele Würfe kleiner, schwanzloser Hunde geben!"
Die Popularität des Lamarckismus um 1900 hatte darin ihre Ursache, dass er besser als der Darwinismus mit den gängigen kulturgeschichtlichen Modellen des Historismus harmonierte, sodass eine alles erklärende Einheitstheorie zum Greifen nahe schien, die in Natur- und Menschheitsgeschichte ein einziges Prinzip am Werk sah. Überdies passte er vorzüglich zum Fortschrittsoptimismus und Paternalismus des viktorianischen Zeitalters.
Wichtigster Repräsentant einer solchen Weltsicht war Herbert Spencer. Seine Bücher erfreuten sich einer so großen Beliebtheit und Verbreitung, dass Kipling in seinem Buch "Kim" (1901) einen leidenschaftlichen Spencerianer karikierte, was ihn aber nicht davon abhielt, eifrig selbst mit den Leitgedanken Spencers zu jonglieren. Dazu gehörte die Idee eines universellen evolutionären Prinzips, die Vorstellung, dass sich die Physiologie der Lebewesen ebenso wie das kulturelle Leben der Menschen vom Einfachen zum Komplexen, vom Homogenen zum Heterogenen entwickelt. Die Abläufe vollziehen sich aus sich heraus. Gott ist keine intervenierende und gesetzgebende Instanz mehr. Allenfalls als deistischer Schöpfergott bleibt er noch im Spiel.
Kipling übertrug diese Gedanken auf die Genese des Rechts und schuf mit dem "ungeheuer vielfältigen" Dschungelgesetz die Vision einer symbiotischen Verbindung zwischen dem biologischen Naturgesetz und dem moralischen Naturrecht. Für Kipling (wie für Spencer) war das Herzstück, die entscheidende, gleichsam technische Voraussetzung des kosmischen Fort- und Auseinanderstrebens das Vermögen, Erfahrungen - und dazu zählt eben auch erworbenes normatives Wissen - zu speichern und wie in einem riesigen Archiv für die Zukunft zu konservieren.
Die ingeniöse Verkörperung des Gegenprinzips, des aus dem Vergessen geborenen Chaos, sind die Bandar-log, das führer-, disziplin- und vor allem gesetzlose Affenvolk. Ihr schamloses fortschrittsfeindliches Verhalten hat einen einfachen Grund: "Ständig waren sie gerade dabei, einen Anführer zu wählen und eigene Gesetze und Bräuche zu erfinden, aber das trat nicht ein, weil ihr Gedächtnis nicht von einem Tag bis zum nächsten reichte." Nicht irgendein angeborener böser Wille, allein ihre Gedächtnisschwäche macht die Affen also zu den Gesetzlosen des Dschungels. Gedächtnis- und Gesetzlosigkeit sind für Kipling zwei Seiten der gleichen Medaille.
Ausgerechnet die Affen, die von allen Tieren dem Menschen am nächsten stehen, mag man sich wundern. Aber das Unterlaufen von Vorurteilen hat bei Kipling Methode. Denn wer gehört zu Moglis besten Freunden? Wer befolgt stets wortgetreu die Vorschriften des Dschungelgesetzes? Raubtiere wie die Riesenpython Kaa und der Panther Baghira. Damit sind inhaltliche Aussagen verbunden, die das Missverständnis begünstigt haben, in Kiplings Urwald regiere allein das Recht des Stärkeren.
Tatsächlich ist der Dschungel kein Streichelzoo für Vegetarier. Hier wird fortwährend gekämpft, getötet, gefressen. Auch Kaa, Moglis kluge Beschützerin, füllt ihren Magen mit putzigen Äffchen, ohne dass ihr daraus jemand einen Vorwurf macht: ein Widerspruch, den der Leser aushalten muss und kann, weil nach Kiplings Verständnis gar kein Widerspruch vorliegt. Man tötet Tiere hier niemals - wie der Mensch - aus Vergnügen, reiner Mordlust, Unersättlichkeit. Das verbietet das Gesetz. Nur soviel sie essen können, dürfen sie erlegen, und den Schwächsten nimmt man nicht alles zum Leben. Dschungelbewohner, die gegen solche und andere Grundnormen verstoßen, sind in einem Ausmaß verfemt, dass es einer institutionalisierten Normendurchsetzung gar nicht bedarf.
Kiplings Biographie hat nicht wenig dazu beigetragen, dass das "Dschungelbuch" im Allgemeinen und das Dschungelgesetz im Besonderen mit den Jahren in Verruf geriet. Mehrfach trat er als Verfechter des Imperialismus und Kolonialismus in Erscheinung. In einem etwas weinerlichen Gedicht aus dem Jahr 1899 mit dem sprichwörtlich gewordenen Titel "Des Weißen Mannes Bürde" beklagt er allen Ernstes die Lasten und Opfer, die Amerikaner und Europäer auf sich nehmen, um andere Erdteile zivilisatorisch zu beglücken. Der Dschungel als Metapher für das Zusammenleben der Völker muss in diesem kolonialen Kontext als unerträgliche Entgleisung erscheinen.
Aber ist damit das letzte Wort gesprochen? Taugt das Dschungelgesetz wirklich nicht als Modell oder zumindest Gedankenexperiment für die Regulierung der internationalen Beziehungen? Kiplings imperialistische Verirrungen sind kein schlagendes Argument, denn andere Anhänger einer evolutionären Weltverbesserung wie Spencer zählten zu den schärfsten Kritikern des Imperialismus.
Vor allem bestehen gewisse Zweifel, ob unsere gegenwärtigen Ansätze, die sich in der Tat stark unterscheiden vom dschungelrechtlichen Pragmatismus, die ersehnten Erfolge zeitigen, um es vorsichtig auszudrücken. Von einem Siegeszug des internationalen Rechts und der Menschenrechte kann mit Blick auf die vergangenen Jahre jedenfalls keine Rede sein, was nicht zuletzt daran liegt, dass ein Teil der Menschheit den moralischen Maximalismus des Westens nur als eine weitere Spielart des Imperialismus empfindet, als eine Normensetzung "von oben", nicht "von unten".
Einen Weltgesetzgeber und erst recht eine Weltexekutive wird es auf lange Sicht nicht geben. Ambitionierte Deklarationen, ersonnen in philosophischen Seminaren westlicher Universitäten und von ihren Autoren als neues Völkerrecht verklärt, können wegen ihrer Wirklichkeitsferne und Einseitigkeit die Lücke nicht füllen. Gegenwärtig gibt es keine Alternative zu einem evolutionären Prozess, der nach und nach Mindeststandards des Zusammenlebens generiert, die (zunächst) nicht allen Ansprüchen genügen, dafür aber allseits akzeptiert sind. Sollen Normen "gelebt" werden, "in Fleisch und Blut" übergehen, muss dem ein kollektives Erinnern an die erwiesene Vernünftigkeit der Vorschriften vorausgehen. Normative Errungenschaften, seien sie für sich genommen noch so unbedeutend, sind fortwährend zu wiederholen und so beständig im Gedenken als richtig und vernünftig zu archivieren, dass es kein Zurück mehr geben kann. So und nicht anders hat das Dschungelgesetz unangefochtene Geltung erlangt.
Es enthält zudem - und kann auch darin Vorbild sein - eine bedrückend aktuelle Notstandsregelung für ökologische Katastrophen. Wenn die periodisch wiederkehrende Große Dürre den Urwald heimsucht und ihn regelrecht verzehrt, ist Schluss mit dem Laissez-faire des Fressens und Gefressenwerdens. Dann zählen allein die Schonung der natürlichen Ressourcen und gegenseitige Rücksichtnahme. Hathi der Elefant ruft den Wasserfrieden aus, und fortan ist die Jagd an den letzten verbliebenen Wasserstellen strengstens untersagt. Wenn das Sterben an der Tagesordnung ist, verbietet sich das Töten. "Gute Jagd", wünscht höflich Baghira der Panther, als er sich zu den Hirschen und Wildschweinen am versiegenden Fluss gesellt. Aber er jagt diesmal nicht. Nicht in Zeiten wie diesen, nicht in Zeiten der Not. Das ist Gesetz.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main