Einfühlsam schildert Jeremy Eichler die dramatischen Lebenswege und die revolutionären Werke vier der bedeutendsten musikalischen Genies des 20. Jahrhunderts: Richard Strauss, Arnold Schönberg, Dmitri Schostakowitsch und Benjamin Britten. Er lässt uns miterleben, wie sie die Erfahrungen der totalitären Epoche in ihren Schöpfungen verarbeiteten - und ein unvergängliches Zeugnis ablegten, das wie ein Echo in unsere unmittelbare Gegenwart hineinhallt.
Mit dem dem souveränen Wissen des Historikers und dem scharfen Auge des Romanciers, der das tief Menschliche begreift, schildert Jeremy Eichler, wie Richard Strauss, Arnold Schönberg, Dmitri Schostakowitsch und Benjamin Britten die Weltkriege und den Holocaust durchlebten. Die vier Komponisten verwandelten ihre Erfahrungen in zutiefst bewegende Musikwerke, die die verlorene Zeit widerspiegeln. Anhand vieler Zeugnisse von Schriftstellern, Philosophen, Musikern und einfachen Bürgern zeigt der Autor, wie sich das Wesen eines ganzen Zeitalters in diese Klänge und Geschichten eingeschrieben hat. Auf dem Weg dorthin besucht er für die Entstehung der Musik ganz zentrale Orte: von den Ruinen der Kathedrale von Coventry bis zur Schlucht von Babi Yar in Kiew. Während die lebendige Erinnerung an das »Zeitalter der Extreme« verblasst, erschließt Eichler neue Wege, der Geschichte zuzuhören und zu lernen. Eine Erzählung voller Einsichten und Mitgefühl, die unser Denken über das Vermächtnis des Krieges, die Gegenwart der Vergangenheit und das erneuerte Versprechen der Kunst für unser heutiges Leben belebt.
»Zutiefst bewegend. Ich bin überwältigt.« Edmund de Waal, Autor von »Der Hase mit den Bernsteinaugen«
Mit dem dem souveränen Wissen des Historikers und dem scharfen Auge des Romanciers, der das tief Menschliche begreift, schildert Jeremy Eichler, wie Richard Strauss, Arnold Schönberg, Dmitri Schostakowitsch und Benjamin Britten die Weltkriege und den Holocaust durchlebten. Die vier Komponisten verwandelten ihre Erfahrungen in zutiefst bewegende Musikwerke, die die verlorene Zeit widerspiegeln. Anhand vieler Zeugnisse von Schriftstellern, Philosophen, Musikern und einfachen Bürgern zeigt der Autor, wie sich das Wesen eines ganzen Zeitalters in diese Klänge und Geschichten eingeschrieben hat. Auf dem Weg dorthin besucht er für die Entstehung der Musik ganz zentrale Orte: von den Ruinen der Kathedrale von Coventry bis zur Schlucht von Babi Yar in Kiew. Während die lebendige Erinnerung an das »Zeitalter der Extreme« verblasst, erschließt Eichler neue Wege, der Geschichte zuzuhören und zu lernen. Eine Erzählung voller Einsichten und Mitgefühl, die unser Denken über das Vermächtnis des Krieges, die Gegenwart der Vergangenheit und das erneuerte Versprechen der Kunst für unser heutiges Leben belebt.
»Zutiefst bewegend. Ich bin überwältigt.« Edmund de Waal, Autor von »Der Hase mit den Bernsteinaugen«
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 25.06.2024Die Schuld-Falle
Jeremy Eichler versucht, aus den „Metamorphosen“ von Richard Strauss
ein musikalisches Mahnmal gegen Krieg und Holocaust zu zimmern.
Die Stärke des Buchs ist sicherlich die profunde Quellenkunde und Detailgenauigkeit, wo sie denn im Vordergrund steht. Jeremy Eichler, Musikkritiker der Tageszeitung Boston Globe, hat sich viel vorgenommen und ist dabei auch auf poetische Bilder und Überzeichnungen angewiesen, um seinem Ziel näher zu kommen. Dieses Ziel ist, vier Kompositionen des 20. Jahrhunderts zu Mahnmalen gegen Krieg und Holocaust zu erheben. Im Falle von Arnold Schönbergs „Ein Überlebender aus Warschau“ und Dmitrij Schostakowitschs „Babi Yar“ ist die Sache klar, beide Werke handeln vom Holocaust. Was Benjamin Brittens allgemeiner gehaltenes „War Requiem“ angeht, ist dies schon schwieriger, und für die „Metamorphosen“ von Richard Strauss ist so eine Zuordnung eine ziemliche Herausforderung.
Sie berührt nicht nur die grundsätzliche Frage, inwieweit man wortloser Musik konkrete Bedeutung unterlegen kann, sondern auch das Risiko der These, Strauss habe hier eine selbst empfundene Schuld abgearbeitet. Eichler umgeht das Problem, indem er aktiv nach vorne prescht. Er wolle, sagt er, diesem namenlosen Werk bewusst jenen Sinn zuordnen, damit aus dem anonymen Orchesterwerk ein politisches Mahnmal werde. Gerade bei Richard Strauss sieht Eichler eine „moralisch unhaltbare Trennung von Politik und Kunst“.
„Tatsächlich hat Strauss dadurch, dass er nie präzisierte, an was genau die Metamorphosen erinnern sollen, ein einmalig ‚offenes‘ Mahnmal geschaffen, eines, das zukünftige Zuhörer fast schon einlädt, sich durch eine Neugestaltung der Umrisse an jeder Aufführung zu beteiligen. Vielleicht wäre es … die großzügigste Geste, die man Strauss’ Werk erweisen könnte, die Musik auf die gleiche Art und Weise affirmativ zu beschriften (…)“ Das klingt fast so, als wolle Eichler ein bisschen Entschuldung für dessen Nazi-Verstrickung anbieten. Eine Verstrickung, die nun endgültig zur unzweifelhaften Tatsache geworden ist. Wenn Eichler dann KZ-Schicksale beimischt, löst sich die Grenze von passiver Teilhabe und aktivem Verbrechen nahezu auf. Der Vorwurf Eichlers an Strauss beruht auf dessen „Nazi-freundlichen Gesten und der stillschweigenden, dem Regime bis in dessen letzte Tage erteilten Zustimmung, sich durch Verwendung seines Bildes und seiner Musik zu legitimieren“.
Diese Zustimmung wurde aber nicht aktiv erteilt, und schon gar nicht war sie darauf ausgerichtet, das Regime zu stützen. Man kann allerdings sagen, dass die passive Haltung von Strauss und das persönliche Interesse, seine Werke aufzuführen, es dem Regime erlaubte, sich mit dem international renommierten Komponisten zu schmücken. Ein Widerstandskämpfer war er sicherlich nicht. Trotzdem ist es offensichtlich, dass er mit der Nazi-Ideologie nicht im Entferntesten sympathisierte. Eichler führt selber einige Fakten an, die dagegensprechen. Da ist zum einen der berühmte Brief an Stefan Zweig, in dem er sagt, er „mime“ lediglich den Präsidenten der Reichsmusikkammer, um größeres Unglück zu verhüten. Die Gestapo fing den Brief ab, Strauss musste zurücktreten. Schwerwiegender noch ist die Tatsache, dass auch die halbjüdischen Enkelkinder von Strauss unter den 40 Juden waren, die auf dem Marktplatz von Garmisch zusammengetrieben wurden. Das alles spielt im Verlauf des Buchs keine Rolle mehr, auch der Versuch des Komponisten, durch persönliche Vorsprache die Schwiegermutter aus Theresienstadt zu holen, wird später zum „angeblichen Besuch Theresienstadts“. In solcherlei vermeintlichen Nebensätzen zeigt sich aber doch eine Strategie. Eichler beherrscht die Kunst der Überredung, die schließlich Überzeugung werden soll. Er arbeitet mit einer stringenten Dramaturgie der Vermutung. Zunächst schreibt er: „Letztendlich bleibt die Frage, wie sehr Strauss’ Verhalten im Dritten Reich verurteilt werden muss, wohl noch auf Jahre ein Gegenstand der Diskussion.“ Dann schreibt er von Strauss’ unterwürfiger Haltung gegenüber Hitler und anderen Nazi-Oberen, von Anbiederung, schließlich von einer „‚moralischen Bereichsbildung‘ …, die in ihrer Intensität einfach unverzeihlich ist“.
Das ist alles nicht falsch, aber es bedarf offenbar der Schilderung umgebender Schicksale wie des Suizids von Stefan Zweig, um die Schuldfrage eindeutiger zu klären. Aus der frustrierten Bilanz des Komponisten, er habe als Reichsmusikkammerpräsident keine entscheidenden Maßnahmen für die deutsche Theater- und Musikkultur treffen können, das Amt sei nur „leere Etikette“ gewesen, folgert Eichler nicht nur eine „zunehmende innere Verdrossenheit“, sondern auch ein „leider viel zu langsam entstehendes Bewusstsein, wie falsch und letztendlich vergebens seine Wahl der Anbindung gewesen war“. In diesem Zustand der Niederlage, sogar der Todessehnsucht, habe sich Strauss mit Texten von Goethe getröstet. Dabei schrieb Strauss das Gedicht „Niemand wird sich selber kennen“ ab. Dieses Gedicht beschreibe die Schwierigkeit, Selbsterkenntnis zu erlangen, aber auch die Möglichkeit dazu durch ein Bewusstsein darüber, wie das eigene Ich und die eigenen Handlungen nach außen gewirkt haben.
Strauss schrieb über dieses Gedicht einen Choralsatz, woraus Eichler allerdings den Schluss zieht, der Komponist habe dann auch in den Metamorphosen dieses inhaltliche Programm, diesmal wortlos, verfolgt. Und auf einmal ist die Schuldfrage mit einem Satz entschieden: „Konnte dieses Werk – konnte irgendein musikalisches Werk – seine Schuld sühnen? Vielleicht in Strauss’ Augen.“ Und in der Steigerung folgt die Aussage, Strauss habe den Sinn des Werkes einfach unterschlagen: „Aber bereits die unterdrückte Vorlage zu dem Werk hatte erklärt: ‚Niemand wird sich selber kennen./Sich von seinem Selbst-Ich trennen.‘“ Der Versuch, argumentativ nicht zu unterfütternde Anklagen poetisch zu verbrämen, verschleiert mehr, als er vermittelt: „Denn es ist auch eine Musik des Abschieds, ein Kieselstein auf dem Grab des utopischen Traums der deutschen Kultur.“ Eichler zieht zwischen den Metamorphosen, dieser „unangenehm schönen Musik“, und Richard Wagners Beschreibung des Walchensees eine Deutungsparallele, die mit den Goethe-Zeilen endet: „Was er ist, was er war, und was er hätte sein können.“ Damit ist, unausgesprochen, der Komponist Richard Strauss gemeint, und wieder ist es dieses dunkle Raunen, das eine klare Aussage ersetzen muss.
HELMUT MAURÓ
Ein Widerstandskämpfer
war Richard Strauss
sicherlich nicht
„Konnte irgendein
musikalisches Werk seine
Schuld sühnen?“
Jeremy Eichler:
Das Echo der Zeit.
Verlag Klett-Cotta,
Stuttgart 2024.
464 Seiten, 32 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Jeremy Eichler versucht, aus den „Metamorphosen“ von Richard Strauss
ein musikalisches Mahnmal gegen Krieg und Holocaust zu zimmern.
Die Stärke des Buchs ist sicherlich die profunde Quellenkunde und Detailgenauigkeit, wo sie denn im Vordergrund steht. Jeremy Eichler, Musikkritiker der Tageszeitung Boston Globe, hat sich viel vorgenommen und ist dabei auch auf poetische Bilder und Überzeichnungen angewiesen, um seinem Ziel näher zu kommen. Dieses Ziel ist, vier Kompositionen des 20. Jahrhunderts zu Mahnmalen gegen Krieg und Holocaust zu erheben. Im Falle von Arnold Schönbergs „Ein Überlebender aus Warschau“ und Dmitrij Schostakowitschs „Babi Yar“ ist die Sache klar, beide Werke handeln vom Holocaust. Was Benjamin Brittens allgemeiner gehaltenes „War Requiem“ angeht, ist dies schon schwieriger, und für die „Metamorphosen“ von Richard Strauss ist so eine Zuordnung eine ziemliche Herausforderung.
Sie berührt nicht nur die grundsätzliche Frage, inwieweit man wortloser Musik konkrete Bedeutung unterlegen kann, sondern auch das Risiko der These, Strauss habe hier eine selbst empfundene Schuld abgearbeitet. Eichler umgeht das Problem, indem er aktiv nach vorne prescht. Er wolle, sagt er, diesem namenlosen Werk bewusst jenen Sinn zuordnen, damit aus dem anonymen Orchesterwerk ein politisches Mahnmal werde. Gerade bei Richard Strauss sieht Eichler eine „moralisch unhaltbare Trennung von Politik und Kunst“.
„Tatsächlich hat Strauss dadurch, dass er nie präzisierte, an was genau die Metamorphosen erinnern sollen, ein einmalig ‚offenes‘ Mahnmal geschaffen, eines, das zukünftige Zuhörer fast schon einlädt, sich durch eine Neugestaltung der Umrisse an jeder Aufführung zu beteiligen. Vielleicht wäre es … die großzügigste Geste, die man Strauss’ Werk erweisen könnte, die Musik auf die gleiche Art und Weise affirmativ zu beschriften (…)“ Das klingt fast so, als wolle Eichler ein bisschen Entschuldung für dessen Nazi-Verstrickung anbieten. Eine Verstrickung, die nun endgültig zur unzweifelhaften Tatsache geworden ist. Wenn Eichler dann KZ-Schicksale beimischt, löst sich die Grenze von passiver Teilhabe und aktivem Verbrechen nahezu auf. Der Vorwurf Eichlers an Strauss beruht auf dessen „Nazi-freundlichen Gesten und der stillschweigenden, dem Regime bis in dessen letzte Tage erteilten Zustimmung, sich durch Verwendung seines Bildes und seiner Musik zu legitimieren“.
Diese Zustimmung wurde aber nicht aktiv erteilt, und schon gar nicht war sie darauf ausgerichtet, das Regime zu stützen. Man kann allerdings sagen, dass die passive Haltung von Strauss und das persönliche Interesse, seine Werke aufzuführen, es dem Regime erlaubte, sich mit dem international renommierten Komponisten zu schmücken. Ein Widerstandskämpfer war er sicherlich nicht. Trotzdem ist es offensichtlich, dass er mit der Nazi-Ideologie nicht im Entferntesten sympathisierte. Eichler führt selber einige Fakten an, die dagegensprechen. Da ist zum einen der berühmte Brief an Stefan Zweig, in dem er sagt, er „mime“ lediglich den Präsidenten der Reichsmusikkammer, um größeres Unglück zu verhüten. Die Gestapo fing den Brief ab, Strauss musste zurücktreten. Schwerwiegender noch ist die Tatsache, dass auch die halbjüdischen Enkelkinder von Strauss unter den 40 Juden waren, die auf dem Marktplatz von Garmisch zusammengetrieben wurden. Das alles spielt im Verlauf des Buchs keine Rolle mehr, auch der Versuch des Komponisten, durch persönliche Vorsprache die Schwiegermutter aus Theresienstadt zu holen, wird später zum „angeblichen Besuch Theresienstadts“. In solcherlei vermeintlichen Nebensätzen zeigt sich aber doch eine Strategie. Eichler beherrscht die Kunst der Überredung, die schließlich Überzeugung werden soll. Er arbeitet mit einer stringenten Dramaturgie der Vermutung. Zunächst schreibt er: „Letztendlich bleibt die Frage, wie sehr Strauss’ Verhalten im Dritten Reich verurteilt werden muss, wohl noch auf Jahre ein Gegenstand der Diskussion.“ Dann schreibt er von Strauss’ unterwürfiger Haltung gegenüber Hitler und anderen Nazi-Oberen, von Anbiederung, schließlich von einer „‚moralischen Bereichsbildung‘ …, die in ihrer Intensität einfach unverzeihlich ist“.
Das ist alles nicht falsch, aber es bedarf offenbar der Schilderung umgebender Schicksale wie des Suizids von Stefan Zweig, um die Schuldfrage eindeutiger zu klären. Aus der frustrierten Bilanz des Komponisten, er habe als Reichsmusikkammerpräsident keine entscheidenden Maßnahmen für die deutsche Theater- und Musikkultur treffen können, das Amt sei nur „leere Etikette“ gewesen, folgert Eichler nicht nur eine „zunehmende innere Verdrossenheit“, sondern auch ein „leider viel zu langsam entstehendes Bewusstsein, wie falsch und letztendlich vergebens seine Wahl der Anbindung gewesen war“. In diesem Zustand der Niederlage, sogar der Todessehnsucht, habe sich Strauss mit Texten von Goethe getröstet. Dabei schrieb Strauss das Gedicht „Niemand wird sich selber kennen“ ab. Dieses Gedicht beschreibe die Schwierigkeit, Selbsterkenntnis zu erlangen, aber auch die Möglichkeit dazu durch ein Bewusstsein darüber, wie das eigene Ich und die eigenen Handlungen nach außen gewirkt haben.
Strauss schrieb über dieses Gedicht einen Choralsatz, woraus Eichler allerdings den Schluss zieht, der Komponist habe dann auch in den Metamorphosen dieses inhaltliche Programm, diesmal wortlos, verfolgt. Und auf einmal ist die Schuldfrage mit einem Satz entschieden: „Konnte dieses Werk – konnte irgendein musikalisches Werk – seine Schuld sühnen? Vielleicht in Strauss’ Augen.“ Und in der Steigerung folgt die Aussage, Strauss habe den Sinn des Werkes einfach unterschlagen: „Aber bereits die unterdrückte Vorlage zu dem Werk hatte erklärt: ‚Niemand wird sich selber kennen./Sich von seinem Selbst-Ich trennen.‘“ Der Versuch, argumentativ nicht zu unterfütternde Anklagen poetisch zu verbrämen, verschleiert mehr, als er vermittelt: „Denn es ist auch eine Musik des Abschieds, ein Kieselstein auf dem Grab des utopischen Traums der deutschen Kultur.“ Eichler zieht zwischen den Metamorphosen, dieser „unangenehm schönen Musik“, und Richard Wagners Beschreibung des Walchensees eine Deutungsparallele, die mit den Goethe-Zeilen endet: „Was er ist, was er war, und was er hätte sein können.“ Damit ist, unausgesprochen, der Komponist Richard Strauss gemeint, und wieder ist es dieses dunkle Raunen, das eine klare Aussage ersetzen muss.
HELMUT MAURÓ
Ein Widerstandskämpfer
war Richard Strauss
sicherlich nicht
„Konnte irgendein
musikalisches Werk seine
Schuld sühnen?“
Jeremy Eichler:
Das Echo der Zeit.
Verlag Klett-Cotta,
Stuttgart 2024.
464 Seiten, 32 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
Ziemlich begeistert bespricht Rezensentin Katharina Granzin dieses sowohl inhaltlich als auch sprachlich herausragende Buch. Jeremy Eichler beschäftigt sich darin mit der Frage, wie große Komponisten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit der Geschichte interagierten, insbesondere das Verhältnis ihrer Musik zur Shoah spielt dabei eine Rolle. Ein zentrales Werk ist für Eichler offensichtlich, so Granzin, Arnold Schönbergs "Ein Überlebender aus Warschau", das in New Mexiko uraufgeführt wurde, weil der ursprüngliche Auftraggeber kalte Füße bekam. Granzin rekonstruiert andere Beispiele Eichlers, der zwecks Recherche oft auch die Orte aufsucht, an denen die Musik, um die es geht, entstand. Schostakowitsch und Benjamin Britten spielen eine Rolle, heißt es unter anderem, aber auch Richard Strauss, der sich zeitweise den Nazis andiente, wobei Eichler, wenn es um persönliche Verantwortung geht, stets differenziert argumentiert. Ein großartiges, von Dieter Fuchs kongenial übersetztes Buch ist das, schließt Granzin, eines, das nicht zuletzt zeigt, wie wichtig jüdische Künstler für die Geschichte der deutschen Kultur waren.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.08.2024Der Moment, als sie zu singen begannen
Das wohl erste musikalische Werk, das die Vernichtung der europäischen Juden zum Thema macht, Arnold Schönbergs "A Survivor From Warsaw", wurde 1948 nicht in London, Paris oder Berlin uraufgeführt, sondern in einer schlecht gelüfteten Sporthalle in Albuquerque, New Mexico. Es spielte das ortsansässige Civic Symphony Orchestra, ein Laienensemble aus Ärzten, Anwälten, Blumenhändlern und Highschool-Schülern. Den Sprecherpart übernahm der Leiter des Fachbereichs Chemie an der Universität, der Chor wurde durch Cowboys und Farmer aus der Umgebung verstärkt. Am Ende der viertelstündigen Aufführung erhob sich donnernder Applaus. Den 74-jährigen Komponisten, der krankheitsbedingt selber nicht anreisen konnte, erreichten in Los Angeles Berichte über die musikalische Qualität der Aufführung und die so erschütternde wie aufrüttelnde Wirkung auf Interpreten und Hörer.
Dass Musik immer auch ein Spiegel ihrer Zeit ist - ein "Echo", wie der Historiker und langjährige Musikkritiker des "Boston Globe", Jeremy Eichler, im Titel seines Buches formuliert -, gilt heute schon fast als Gemeinplatz. Wie aber lässt sich ein Ereignis wie der Zweite Weltkrieg, der Epochenbruch 1945, gar die Schoa musikalisch "abbilden"? Schönbergs "Survivor" ist nicht nur schonungslos in seiner Darstellung der Barbarei, in seinen Mitteln der musikalischen "Illustration" (bis hin zu Schlägen mit dem Gewehrkolben). Er benennt auch präzise die Opfergruppe der Juden; im Text ist von Gaskammern die Rede.
Davon wollten 1948 nicht viele etwas wissen. Die Deutschen waren mit anderem beschäftigt; noch bei der deutschen Erstaufführung des "Survivor" 1950 bei den Darmstädter Ferienkursen gab es Widerstand gegen den Text und gegen das gesungene jüdische Gebet darin, das Schma Jisrael. Die Verbrechen waren in einer Weise monströs, dass ein angemessenes Gedenken zunächst gar nicht im Horizont des "Wiederaufbaus" oder - aufseiten der Siegermächte - der verschiedenen nationalen Erinnerungskulturen lag. In Ländern wie Frankreich oder der Sowjetunion waren Teile der eigenen Bevölkerung darin verwickelt gewesen. Überlebende wie Elie Wiesel oder Primo Levi fanden jahrelang keinen Verleger für ihre Augenzeugenberichte. Noch in Theodor W. Adornos Misstrauen gegenüber den illustrierenden Anteilen bei Schönberg spiegelt sich etwas von dem Tabu, das über Auschwitz verhängt war.
Scheinbar unberührt vom Weltgeschehen entstanden annähernd zeitgleich die letzten Werke des hochbetagten Richard Strauss, der 1949 in seiner Villa in Garmisch-Partenkirchen starb. Strauss und Schönberg, deren Lebenswege sich vielfach kreuzten, sind gewissermaßen die entzweiten Enden jener deutsch-jüdischen Symbiose, ohne die die klassische oder "klassisch-romantische" Musik nicht denkbar gewesen wäre. Strauss, wiewohl dem Habitus nach eher bürgerlich-konservativ, hatte sich 1933 mit den neuen Machthabern mehr als nur oberflächlich eingelassen, war für den geächteten Bruno Walter in Berlin eingesprungen und für Arturo Toscanini in Bayreuth. Er gehörte zu den Unterzeichnern des infamen "Protests der Richard-Wagner-Stadt München" gegen Thomas Mann und "mimte" zeitweise gar den Präsidenten der Reichsmusikkammer, wie er seinem jüdischen Librettisten Stefan Zweig gegenüber diese Tätigkeit herunterspielte. In den letzten Kriegsjahren schrieb Strauss sein wohl persönlichstes Werk, die düster-enigmatischen "Metamorphosen" für 23 Streichinstrumente. Eichler hält es für möglich, dass der Komponist hier auch seinen eigenen Opportunismus und seine Blindheit dem Regime gegenüber reflektiert. Fest steht, dass den "Metamorphosen", die auf verschiedenen Ebenen Bezüge zu Goethe und zu Beethovens "Eroica" herstellen, die Trauer um das Ende der klassischen Tradition und ein Bewusstsein der bevorstehenden Zäsur eingeschrieben ist.
Jeremy Eichler hat ein beeindruckendes, fesselndes, streckenweise bewegendes Buch geschrieben. Obwohl hier gewiss nicht alles neu ist, entsteht doch durch Auswahl und Perspektivierung eine veränderte Sicht auf anderthalb Jahrhunderte Musikgeschichte. Neben einer sicheren Kenntnis der Forschung (Teile der deutschsprachigen Literatur inbegriffen) sind auch eigene Archivstudien und Interviews mit Zeitzeugen in die Arbeit eingegangen. Manche der musikalischen Beschreibungen erscheint vielleicht etwas blumig, mit musikalischer Analyse hält sich der Autor nicht lange auf. Aber auch der kritische Leser wird durch den Reichtum an Perspektiven und abgewogenen Interpretationen mehr als entschädigt.
Viele Gestalten kreuzen den Weg dieses Buches, die man hier gar nicht erwartet - Moses Mendelssohn etwa, der Großvater des Komponisten, der Berlin noch durch ein spezielles Tor "für Rinder und Juden" betreten musste. Ganz im Gegensatz zu Felix Mendelssohn selber: Als dieser 1847 starb, wurde sein Leichnam im Sonderzug nach Berlin gebracht. In jeder Kleinstadt auf dem Weg - in Köthen, in Dessau - sang zu seinen Ehren ein Chor. Im letzten Drittel des Buches tritt ein weiteres Komponistendoppel auf den Plan, Dmitri Schostakowitsch und Benjamin Britten. In gewisser Weise übernehmen sie im Buch die Rolle jenes kosmopolitischen Humanismus, der nach dem Abtritt Deutschlands von dieser Bühne frei geworden war.
Schostakowitsch schrieb 1962, in den letzten Ausläufern der chruschtschowschen Tauwetterperiode, seine 13. Symphonie "Babi Jar". Ausgangspunkt bildet das gleichnamige Gedicht des jungen Jewgeni Jewtuschenko zum Gedenken an das Massaker in der Schlucht bei Kiew, dem nach dem Einmarsch der Wehrmacht innerhalb von nur zwei Tagen 1941 mehr als 33.000 Juden zum Opfer fielen. Das Gedenken daran war in der Sowjetunion weithin tabuisiert, auch infolge der Beteiligung Kiewer Bürger und Polizeikräfte. Noch am Tag der Uraufführung versuchten Offizielle das Konzert zu verhindern; dass die Aufführung dennoch stattfand und gar in Ovationen endete, rief einmal mehr eine Kampagne gegen die "düsteren", "sarkastisch-parodistischen" und "pessimistischen" Seiten Schostakowitschs auf den Plan. Der Cellist Mstislav Rostropowitsch konnte das Werk nur in den Westen schmuggeln, indem er vor der Ausreise das Titelblatt abriss.
Britten wiederum, dessen Freundschaft mit Schostakowitsch in einem beeindruckenden Briefwechsel dokumentiert ist, schrieb beinahe zeitgleich 1962 sein "War Requiem". Es handelte sich um eine Auftragskomposition anlässlich der Wiedereinweihung der Kathedrale von Coventry - im Gedenken an den deutschen Bombenangriff von 1940 (eine Operation, die zynischerweise unter dem Decknamen "Mondscheinsonate" ablief). Britten wollte ursprünglich im Sinne einer Botschaft der Versöhnung und des Friedens Solisten aus drei kriegsteilnehmenden Nationen nebeneinander auf die Bühne bringen: den Tenor Peter Pears, den Bariton Dietrich Fischer-Dieskau und die russische Sopranistin Galina Wischnewskaja; Letzterer wurde jedoch von ihrer Regierung die Teilnahme verboten. Das "War Requiem" ist das Werk eines bekennenden Pazifisten und Kriegsdienstverweigerers. Es thematisiert das Leiden und Sterben der Soldaten auf allen Seiten, während die Schoa (und die Frage eines gerechten Krieges) zumindest auf der Textebene ausgeklammert bleibt.
Dass gerade dieser zweite Teil des Buches auch in der Gegenwart manche Saite zum Schwingen bringt, liegt auf der Hand. Eichler geht es jedoch nicht um vordergründige Aktualisierungen. Vielmehr ist diesem Buch ein sehr persönlicher, melancholischer Zug eingewoben - eine Trauer über die Irrwege und vergessenen Schicksale des zwanzigsten Jahrhunderts, das nunmehr endgültig in die Geschichte einrückt. Gegen Ende der Kapitel besucht der Autor die Schauplätze seiner Erzählung in der Gegenwart: Wien, Coventry, Garmisch und Buchenwald. Er sucht nach Erinnerungsorten - und findet sie letztlich doch eher in den klingenden Werken als in steinernen Denkmälern oder Gebäuderesten. Von seinem literarischen Gewährsmann W. G. Sebald übernimmt Eichler die Eigenart, Fotografien ohne Bildunterschrift in den Text einzufügen. So sehen wir den abgesägten Stumpf der "Goethe-Eiche" in Buchenwald; den Walchensee unweit der Bahntrasse nach München, über dessen Abgründe schon Richard Wagner spekuliert hat; den berühmten Wiener Geiger Arnold Rosé, Gustav Mahlers Schwager, mit seinen Kindern im holzgetäfelten Ess- und Musikzimmer der Familie. Seine Tochter Alma Rosé starb als Leiterin des Lagerorchesters in Auschwitz. ANDREAS MEYER
Jeremy Eichler: "Das Echo der Zeit". Die Musik und das Leben im Zeitalter der Weltkriege.
Aus dem Englischen von Dieter Fuchs. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2024. 464 S., Abb., geb., 32,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt am Main.
Das wohl erste musikalische Werk, das die Vernichtung der europäischen Juden zum Thema macht, Arnold Schönbergs "A Survivor From Warsaw", wurde 1948 nicht in London, Paris oder Berlin uraufgeführt, sondern in einer schlecht gelüfteten Sporthalle in Albuquerque, New Mexico. Es spielte das ortsansässige Civic Symphony Orchestra, ein Laienensemble aus Ärzten, Anwälten, Blumenhändlern und Highschool-Schülern. Den Sprecherpart übernahm der Leiter des Fachbereichs Chemie an der Universität, der Chor wurde durch Cowboys und Farmer aus der Umgebung verstärkt. Am Ende der viertelstündigen Aufführung erhob sich donnernder Applaus. Den 74-jährigen Komponisten, der krankheitsbedingt selber nicht anreisen konnte, erreichten in Los Angeles Berichte über die musikalische Qualität der Aufführung und die so erschütternde wie aufrüttelnde Wirkung auf Interpreten und Hörer.
Dass Musik immer auch ein Spiegel ihrer Zeit ist - ein "Echo", wie der Historiker und langjährige Musikkritiker des "Boston Globe", Jeremy Eichler, im Titel seines Buches formuliert -, gilt heute schon fast als Gemeinplatz. Wie aber lässt sich ein Ereignis wie der Zweite Weltkrieg, der Epochenbruch 1945, gar die Schoa musikalisch "abbilden"? Schönbergs "Survivor" ist nicht nur schonungslos in seiner Darstellung der Barbarei, in seinen Mitteln der musikalischen "Illustration" (bis hin zu Schlägen mit dem Gewehrkolben). Er benennt auch präzise die Opfergruppe der Juden; im Text ist von Gaskammern die Rede.
Davon wollten 1948 nicht viele etwas wissen. Die Deutschen waren mit anderem beschäftigt; noch bei der deutschen Erstaufführung des "Survivor" 1950 bei den Darmstädter Ferienkursen gab es Widerstand gegen den Text und gegen das gesungene jüdische Gebet darin, das Schma Jisrael. Die Verbrechen waren in einer Weise monströs, dass ein angemessenes Gedenken zunächst gar nicht im Horizont des "Wiederaufbaus" oder - aufseiten der Siegermächte - der verschiedenen nationalen Erinnerungskulturen lag. In Ländern wie Frankreich oder der Sowjetunion waren Teile der eigenen Bevölkerung darin verwickelt gewesen. Überlebende wie Elie Wiesel oder Primo Levi fanden jahrelang keinen Verleger für ihre Augenzeugenberichte. Noch in Theodor W. Adornos Misstrauen gegenüber den illustrierenden Anteilen bei Schönberg spiegelt sich etwas von dem Tabu, das über Auschwitz verhängt war.
Scheinbar unberührt vom Weltgeschehen entstanden annähernd zeitgleich die letzten Werke des hochbetagten Richard Strauss, der 1949 in seiner Villa in Garmisch-Partenkirchen starb. Strauss und Schönberg, deren Lebenswege sich vielfach kreuzten, sind gewissermaßen die entzweiten Enden jener deutsch-jüdischen Symbiose, ohne die die klassische oder "klassisch-romantische" Musik nicht denkbar gewesen wäre. Strauss, wiewohl dem Habitus nach eher bürgerlich-konservativ, hatte sich 1933 mit den neuen Machthabern mehr als nur oberflächlich eingelassen, war für den geächteten Bruno Walter in Berlin eingesprungen und für Arturo Toscanini in Bayreuth. Er gehörte zu den Unterzeichnern des infamen "Protests der Richard-Wagner-Stadt München" gegen Thomas Mann und "mimte" zeitweise gar den Präsidenten der Reichsmusikkammer, wie er seinem jüdischen Librettisten Stefan Zweig gegenüber diese Tätigkeit herunterspielte. In den letzten Kriegsjahren schrieb Strauss sein wohl persönlichstes Werk, die düster-enigmatischen "Metamorphosen" für 23 Streichinstrumente. Eichler hält es für möglich, dass der Komponist hier auch seinen eigenen Opportunismus und seine Blindheit dem Regime gegenüber reflektiert. Fest steht, dass den "Metamorphosen", die auf verschiedenen Ebenen Bezüge zu Goethe und zu Beethovens "Eroica" herstellen, die Trauer um das Ende der klassischen Tradition und ein Bewusstsein der bevorstehenden Zäsur eingeschrieben ist.
Jeremy Eichler hat ein beeindruckendes, fesselndes, streckenweise bewegendes Buch geschrieben. Obwohl hier gewiss nicht alles neu ist, entsteht doch durch Auswahl und Perspektivierung eine veränderte Sicht auf anderthalb Jahrhunderte Musikgeschichte. Neben einer sicheren Kenntnis der Forschung (Teile der deutschsprachigen Literatur inbegriffen) sind auch eigene Archivstudien und Interviews mit Zeitzeugen in die Arbeit eingegangen. Manche der musikalischen Beschreibungen erscheint vielleicht etwas blumig, mit musikalischer Analyse hält sich der Autor nicht lange auf. Aber auch der kritische Leser wird durch den Reichtum an Perspektiven und abgewogenen Interpretationen mehr als entschädigt.
Viele Gestalten kreuzen den Weg dieses Buches, die man hier gar nicht erwartet - Moses Mendelssohn etwa, der Großvater des Komponisten, der Berlin noch durch ein spezielles Tor "für Rinder und Juden" betreten musste. Ganz im Gegensatz zu Felix Mendelssohn selber: Als dieser 1847 starb, wurde sein Leichnam im Sonderzug nach Berlin gebracht. In jeder Kleinstadt auf dem Weg - in Köthen, in Dessau - sang zu seinen Ehren ein Chor. Im letzten Drittel des Buches tritt ein weiteres Komponistendoppel auf den Plan, Dmitri Schostakowitsch und Benjamin Britten. In gewisser Weise übernehmen sie im Buch die Rolle jenes kosmopolitischen Humanismus, der nach dem Abtritt Deutschlands von dieser Bühne frei geworden war.
Schostakowitsch schrieb 1962, in den letzten Ausläufern der chruschtschowschen Tauwetterperiode, seine 13. Symphonie "Babi Jar". Ausgangspunkt bildet das gleichnamige Gedicht des jungen Jewgeni Jewtuschenko zum Gedenken an das Massaker in der Schlucht bei Kiew, dem nach dem Einmarsch der Wehrmacht innerhalb von nur zwei Tagen 1941 mehr als 33.000 Juden zum Opfer fielen. Das Gedenken daran war in der Sowjetunion weithin tabuisiert, auch infolge der Beteiligung Kiewer Bürger und Polizeikräfte. Noch am Tag der Uraufführung versuchten Offizielle das Konzert zu verhindern; dass die Aufführung dennoch stattfand und gar in Ovationen endete, rief einmal mehr eine Kampagne gegen die "düsteren", "sarkastisch-parodistischen" und "pessimistischen" Seiten Schostakowitschs auf den Plan. Der Cellist Mstislav Rostropowitsch konnte das Werk nur in den Westen schmuggeln, indem er vor der Ausreise das Titelblatt abriss.
Britten wiederum, dessen Freundschaft mit Schostakowitsch in einem beeindruckenden Briefwechsel dokumentiert ist, schrieb beinahe zeitgleich 1962 sein "War Requiem". Es handelte sich um eine Auftragskomposition anlässlich der Wiedereinweihung der Kathedrale von Coventry - im Gedenken an den deutschen Bombenangriff von 1940 (eine Operation, die zynischerweise unter dem Decknamen "Mondscheinsonate" ablief). Britten wollte ursprünglich im Sinne einer Botschaft der Versöhnung und des Friedens Solisten aus drei kriegsteilnehmenden Nationen nebeneinander auf die Bühne bringen: den Tenor Peter Pears, den Bariton Dietrich Fischer-Dieskau und die russische Sopranistin Galina Wischnewskaja; Letzterer wurde jedoch von ihrer Regierung die Teilnahme verboten. Das "War Requiem" ist das Werk eines bekennenden Pazifisten und Kriegsdienstverweigerers. Es thematisiert das Leiden und Sterben der Soldaten auf allen Seiten, während die Schoa (und die Frage eines gerechten Krieges) zumindest auf der Textebene ausgeklammert bleibt.
Dass gerade dieser zweite Teil des Buches auch in der Gegenwart manche Saite zum Schwingen bringt, liegt auf der Hand. Eichler geht es jedoch nicht um vordergründige Aktualisierungen. Vielmehr ist diesem Buch ein sehr persönlicher, melancholischer Zug eingewoben - eine Trauer über die Irrwege und vergessenen Schicksale des zwanzigsten Jahrhunderts, das nunmehr endgültig in die Geschichte einrückt. Gegen Ende der Kapitel besucht der Autor die Schauplätze seiner Erzählung in der Gegenwart: Wien, Coventry, Garmisch und Buchenwald. Er sucht nach Erinnerungsorten - und findet sie letztlich doch eher in den klingenden Werken als in steinernen Denkmälern oder Gebäuderesten. Von seinem literarischen Gewährsmann W. G. Sebald übernimmt Eichler die Eigenart, Fotografien ohne Bildunterschrift in den Text einzufügen. So sehen wir den abgesägten Stumpf der "Goethe-Eiche" in Buchenwald; den Walchensee unweit der Bahntrasse nach München, über dessen Abgründe schon Richard Wagner spekuliert hat; den berühmten Wiener Geiger Arnold Rosé, Gustav Mahlers Schwager, mit seinen Kindern im holzgetäfelten Ess- und Musikzimmer der Familie. Seine Tochter Alma Rosé starb als Leiterin des Lagerorchesters in Auschwitz. ANDREAS MEYER
Jeremy Eichler: "Das Echo der Zeit". Die Musik und das Leben im Zeitalter der Weltkriege.
Aus dem Englischen von Dieter Fuchs. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2024. 464 S., Abb., geb., 32,- Euro.
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»Eichler macht aus dem Stoff einen packend geschriebenen Pageturner, [...] - prall vor abenteuerlichen Geschichten und Anekdoten ist dieses kluge, temporeiche Buch. Eichler forscht nach den Geschichten, Gefühlen und Gewissensqualen hinter der Musik, schildert die Kämpfe und das innere Ringen der vier Komponisten und wie ihnen dabei Meisterwerke gelingen - und versprochen: Nach der Lektüre klingt die Musik anders als zuvor. Ganz große Kunst also, anregend präsentiert.« Alexander Cammann, Die ZEIT, 26. Juni 2024 Alexander Cammann Die Zeit 20240626