Voll von sonderbaren Wesen, von mythischen Figuren und magischen Gegenständen ist Ilanas Welt. Aber sie ist nicht mehr heil, keine heimatliche Idylle, sie ist kalt, abweisend und gewalttätig. Durch die Wälder ziehen blutrünstige Banditen und marodierende Soldaten. Im Dorf gehen Wölfe auf den Hinterbeinen, wie Menschen, und werden so groß wie Kälber, es ist "ein Ort, der neun Monate des Jahres unter Schnee begraben liegt, gefolgt von drei Monaten Schlamm". Aus dieser Welt, vor einem Leben, wie es ihre Mutter geführt hat, flieht Ilana auf abenteuerlichen Wegen - aus einem namenlosen Dorf in Osteuropa bis nach New York, von der Alten in die Neue Welt. Judy Budnitz erzählt die Geschichte einer Familie im 20. Jahrhundert, erzählt mit den Stimmen der Frauen aus vier Generationen: Ilana, Sashie, Mara und Nomie. Zusammen mit dem Schauspieler Shmuel, den sie unterwegs kennenlernt, bricht Ilana auf in die Neue Welt, gründet eine Fa milie, aber die Geister der Vergangenheit lassen sich nicht abschütteln. Ihre Söhne fallen im Zweiten Weltkrieg. Die Verwandten, die in Europa geblieben sind, kommen in einem Konzentrationslager um, ihr Mann stirbt. Die Tochter Sashie erfindet ihre eigene Geschichte, will die Vergangenheit vergessen und ganz Amerikanerin sein, nennt sich Shirley. Die Frauen bleiben zusammen, auch in der dritten und vierten Generation, und Nomie, das junge Mädchen, lauscht noch immer gebannt den Erzählungen der Urgroßmutter aus einer fernen Zeit, läßt die Erinnerungen zu. Erst jetzt scheinen die Auswanderer wirklich angekommen zu sein. Judy Budnitz erzählt in eindringlichen und magischen Bildern, realistisch und märchenhaft zugleich, vom Untergang einer Kultur, von einer vergangenen Welt und vom Neubeginn zwischen Heimatverlust und der Hoffnung auf Heimat.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.06.2002Eine verkohlte Narbe im Schnee
Judy Budnitz erzählt die Geschichte einer jüdischen Exilantin
Auf einem gestohlenen Armeepferd reitet Ilana zurück zu ihrem jüdischen Dorf in der Tiefe Rußlands oder "zu dem Ort, wo es gewesen war". Erst vor kurzem hatte sie seine dumpfe Enge, seinen bedrückenden Aberglauben, aber auch den Schutz ihrer mit sagenhaften Kräften ausgestatteten Mutter verlassen, um ein besseres Leben zu suchen "in einer Welt, wo die Menschen einen Weg gefunden haben, sich von den Tieren zu unterscheiden". Gefunden hatte sie nur lüsterne Gewalt. Um ihren Bruder aus der Zwangsrekrutierung zu befreien, hatte sie naiv ihren dünnen Körper einem Offizier überlassen. Dem Bruder nützte ihr Opfer nichts.
Ilana erinnert sich an eine Geschichte, die man in ihrem Dorf erzählte. Ein fröhliches, neugieriges Mädchen wurde vor ihrer Hochzeit von einem Dibbuk, einem Dämon des jüdischen Volksglaubens, befallen, der sie in eine unappetitliche Furie verwandelte. Als die Dorfbewohner geschlossen zum Exorzismus anrücken, finden sie, daß die junge Frau den Dibbuk selbst vertrieben hat. Sie, die nur Leichtigkeit gekannt hatte, "lernte nun eine erdige Schwere kennen, Bande, die sie mit Menschen und Orten verbanden und mit Dingen, die getan werden mußten".
In der Nacht ihrer Vergewaltigung erinnert sich Ilana an diese Geschichte über ihre Mutter. Am Morgen stiehlt sie das Pferd, um zurückzureiten. Doch ihr Dorf ist verschwunden. "Da war nur eine verkohlte Narbe im Schnee." Ein Pogrom hat es ausgelöscht. Ilanas Erinnerung an das Dorf ist blaß. Sie hat keine Beweise für seine Existenz. Sie meint zu erkennen, daß "es keinen großen Unterschied gibt zwischen etwas Realem, das nur im Gedächtnis existiert, und etwas, das es von Anfang an nur in Gedanken gegeben hatte".
Dieser Satz könnte auch das poetologische Motto für diesen fesselnden Erstlingsroman sein, den die Amerikanerin Judy Budnitz aus den kollektiven Erfahrungen russisch-jüdischer Einwanderer spinnt. Phantastisch verdichtet und oft gekonnt ins Surrealistische überhöht, erzählt Budnitz aus der Perspektive der illiteraten Ilana ("Baum") die Geschichte der osteuropäischen Landjuden, denen der Sprung nach Amerika gelang. In der reichen Phantasie der Autorin verwandelt sich das dürre Gerippe der Fakten in ein lyrisches Psychogramm. Die innere Welt ihrer Heldinnen ist von imaginativen Höhenflügen ebenso geprägt wie von der klaustrophoben Verhaftung in der heidnischen Welt des russischen Aberglaubens.
Die Zerstörung ihres Dorfes macht es Ilana endgültig möglich, die Heimat zu verlassen. Sie schließt sich einer Theatergruppe an, verliebt sich in einen der Schausteller und usurpiert die Papiere und Schiffspassage seiner Schwester, die dadurch zum Tod im Holocaust verdammt wird. In Amerika gebiert Ilana drei Kinder, zwei Söhne, die im Zweiten Weltkrieg fallen, und eine Tochter, Sashie, die zur unwilligen Zuhörerin der Geschichten ihrer Mutter wird. Sashie glaubt an die neuerrungene Bürgerlichkeit, glaubt, daß die gepflegte Äußerlichkeit, die ihrer Mutter entgeht, eine geordnete Welt schaffen kann. Sie heiratet einen Versicherungskaufmann, der den Fassadencharakter der bürgerlichen Gesellschaft verkörpert, und gebiert einen Sohn Jonathan und eine Tochter Mara, die unbeachtet von der Mutter verbittert, wie ihr Name vorhersagt. Mara hängt inzestuös an ihrem Bruder. Sie tötet seine Verlobte und bemächtigt sich des gemeinsamen Kindes.
Umgeben von drei Frauen, bedrängt von Maras altjungfernhafter Bitterkeit, abgestoßen von Sashies zwanghafter Kultivierung der äußeren Form und zunehmend fasziniert von Ilanas emotionaler Intensität, wächst Sashies Tochter Nomie in einem Haushalt auf, in dem drei widersprüchliche Perspektiven auf die Welt sich bei ihr Gehör verschaffen wollen. Budnitz erzählt den letzten Teil des Romans im fliegenden Wechsel zwischen den Stimmen der vier Frauen. Nomie entscheidet sich dafür, nur ihrer Großmutter Gehör zu schenken, denn Ilana hat Beweise für ihre Version der Welt. Sie hat den Tod gesehen. Damals, kurz bevor sie ihr Dorf verließ, fand sie die Dorfbewohner in einer Mulde. "Sie waren zu einem Haufen aufgeschichtet, hochgetürmt wie eine Heumiete, alle zusammen und auf vertraute Weise erstarrt . . . Ich hatte den Beweis, den ich brauchte, es gab keinen Grund zu bleiben."
Es ist das große Verdienst von Judy Budnitz, mit solcher Lebhaftigkeit und Plastizität zu erzählen, als sei sie dabeigewesen. Es ist ihr noch größeres Verdienst, in ihrem Roman das komplizierte Verhältnis von Finden und Erfinden, von Erinnern und Verdichten erfolgreich thematisiert zu haben. In ihrer Verdichtung der kollektiven Erfahrung des jüdischen Volkes besiegt Ilana jene banale Form des Todes, in der die Elemente des Lebens am Ende verschüttet werden, "dem Griff entgleiten wie Quecksilberperlen, die über den Boden rollen".
SUSANNE KLINGENSTEIN
Judy Budnitz: "Das Echo meiner Schritte." Roman. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Brigitte Heinrich. Insel Verlag, Frankfurt am Main 2001. 366 S., geb., 20,80 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Judy Budnitz erzählt die Geschichte einer jüdischen Exilantin
Auf einem gestohlenen Armeepferd reitet Ilana zurück zu ihrem jüdischen Dorf in der Tiefe Rußlands oder "zu dem Ort, wo es gewesen war". Erst vor kurzem hatte sie seine dumpfe Enge, seinen bedrückenden Aberglauben, aber auch den Schutz ihrer mit sagenhaften Kräften ausgestatteten Mutter verlassen, um ein besseres Leben zu suchen "in einer Welt, wo die Menschen einen Weg gefunden haben, sich von den Tieren zu unterscheiden". Gefunden hatte sie nur lüsterne Gewalt. Um ihren Bruder aus der Zwangsrekrutierung zu befreien, hatte sie naiv ihren dünnen Körper einem Offizier überlassen. Dem Bruder nützte ihr Opfer nichts.
Ilana erinnert sich an eine Geschichte, die man in ihrem Dorf erzählte. Ein fröhliches, neugieriges Mädchen wurde vor ihrer Hochzeit von einem Dibbuk, einem Dämon des jüdischen Volksglaubens, befallen, der sie in eine unappetitliche Furie verwandelte. Als die Dorfbewohner geschlossen zum Exorzismus anrücken, finden sie, daß die junge Frau den Dibbuk selbst vertrieben hat. Sie, die nur Leichtigkeit gekannt hatte, "lernte nun eine erdige Schwere kennen, Bande, die sie mit Menschen und Orten verbanden und mit Dingen, die getan werden mußten".
In der Nacht ihrer Vergewaltigung erinnert sich Ilana an diese Geschichte über ihre Mutter. Am Morgen stiehlt sie das Pferd, um zurückzureiten. Doch ihr Dorf ist verschwunden. "Da war nur eine verkohlte Narbe im Schnee." Ein Pogrom hat es ausgelöscht. Ilanas Erinnerung an das Dorf ist blaß. Sie hat keine Beweise für seine Existenz. Sie meint zu erkennen, daß "es keinen großen Unterschied gibt zwischen etwas Realem, das nur im Gedächtnis existiert, und etwas, das es von Anfang an nur in Gedanken gegeben hatte".
Dieser Satz könnte auch das poetologische Motto für diesen fesselnden Erstlingsroman sein, den die Amerikanerin Judy Budnitz aus den kollektiven Erfahrungen russisch-jüdischer Einwanderer spinnt. Phantastisch verdichtet und oft gekonnt ins Surrealistische überhöht, erzählt Budnitz aus der Perspektive der illiteraten Ilana ("Baum") die Geschichte der osteuropäischen Landjuden, denen der Sprung nach Amerika gelang. In der reichen Phantasie der Autorin verwandelt sich das dürre Gerippe der Fakten in ein lyrisches Psychogramm. Die innere Welt ihrer Heldinnen ist von imaginativen Höhenflügen ebenso geprägt wie von der klaustrophoben Verhaftung in der heidnischen Welt des russischen Aberglaubens.
Die Zerstörung ihres Dorfes macht es Ilana endgültig möglich, die Heimat zu verlassen. Sie schließt sich einer Theatergruppe an, verliebt sich in einen der Schausteller und usurpiert die Papiere und Schiffspassage seiner Schwester, die dadurch zum Tod im Holocaust verdammt wird. In Amerika gebiert Ilana drei Kinder, zwei Söhne, die im Zweiten Weltkrieg fallen, und eine Tochter, Sashie, die zur unwilligen Zuhörerin der Geschichten ihrer Mutter wird. Sashie glaubt an die neuerrungene Bürgerlichkeit, glaubt, daß die gepflegte Äußerlichkeit, die ihrer Mutter entgeht, eine geordnete Welt schaffen kann. Sie heiratet einen Versicherungskaufmann, der den Fassadencharakter der bürgerlichen Gesellschaft verkörpert, und gebiert einen Sohn Jonathan und eine Tochter Mara, die unbeachtet von der Mutter verbittert, wie ihr Name vorhersagt. Mara hängt inzestuös an ihrem Bruder. Sie tötet seine Verlobte und bemächtigt sich des gemeinsamen Kindes.
Umgeben von drei Frauen, bedrängt von Maras altjungfernhafter Bitterkeit, abgestoßen von Sashies zwanghafter Kultivierung der äußeren Form und zunehmend fasziniert von Ilanas emotionaler Intensität, wächst Sashies Tochter Nomie in einem Haushalt auf, in dem drei widersprüchliche Perspektiven auf die Welt sich bei ihr Gehör verschaffen wollen. Budnitz erzählt den letzten Teil des Romans im fliegenden Wechsel zwischen den Stimmen der vier Frauen. Nomie entscheidet sich dafür, nur ihrer Großmutter Gehör zu schenken, denn Ilana hat Beweise für ihre Version der Welt. Sie hat den Tod gesehen. Damals, kurz bevor sie ihr Dorf verließ, fand sie die Dorfbewohner in einer Mulde. "Sie waren zu einem Haufen aufgeschichtet, hochgetürmt wie eine Heumiete, alle zusammen und auf vertraute Weise erstarrt . . . Ich hatte den Beweis, den ich brauchte, es gab keinen Grund zu bleiben."
Es ist das große Verdienst von Judy Budnitz, mit solcher Lebhaftigkeit und Plastizität zu erzählen, als sei sie dabeigewesen. Es ist ihr noch größeres Verdienst, in ihrem Roman das komplizierte Verhältnis von Finden und Erfinden, von Erinnern und Verdichten erfolgreich thematisiert zu haben. In ihrer Verdichtung der kollektiven Erfahrung des jüdischen Volkes besiegt Ilana jene banale Form des Todes, in der die Elemente des Lebens am Ende verschüttet werden, "dem Griff entgleiten wie Quecksilberperlen, die über den Boden rollen".
SUSANNE KLINGENSTEIN
Judy Budnitz: "Das Echo meiner Schritte." Roman. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Brigitte Heinrich. Insel Verlag, Frankfurt am Main 2001. 366 S., geb., 20,80 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Budnitz wagt viel in diesem poetischen und originellen Roman, in dem man immer wieder durch überraschende Wendungen verblüfft wird." (Washington Post)