Der Abschluss von Kempowskis beispiellosem literarischen Projekt kollektiver Erinnerung.
Vom 12. Januar bis zur Bombardierung Dresdens am 13. und 14. Februar 1945: Mit „Das Echolot. Fuga furiosa“ führt Walter Kempowski sein großartiges Werk literarischer Vergangenheitsbewältigung fort.
Winter 1945: Niederlage oder Befreiung für die Deutschen? Was sich im Januar 1945 unwiderruflich ankündigte, das Ende der nationalsozialistischen Herrschaft, ist nach fast 60 Jahren noch immer Gegenstand heftiger Diskussionen. In seinem „Echolot. Fuga furiosa“ rekonstruiert Walter Kempowski aus Tagebüchern und Briefen, aus politischen Dokumenten und Berichten minutiös die Ereignisse der Wochen vom 12. Januar bis zum 14. Februar 1945. Prominente Zeitzeugen kommen dabei ebenso zu Wort wie viele Unbekannte. Walter Kempowski rekonstruiert so einen verhängnisvollen Abschnitt deutscher Geschichte, vorurteilsfrei und jenseits aller ideologischer Barrieren. „Was Walter Kempowski hier unternimmt, ist so wagemutig und sammelwütig, dass einem vor dieser historischen Eigernordwand der Atem gefriert …“ Fritz J. Raddatz, Die Zeit
Lange bevor 1993 das erste "Echolot" erschien, notierte Walter Kempowski in seinem Tagebuch: "Zentrum des Werks muss das Jahr 1945 sein, der Schlund des Trichters, auf den alles zudringt." Zum 60. Jahrestag der deutschen Kapitulation findet das unvergleichliche Unternehmen mit dem Band "Abgesang '45" nun seinen Abschluss.
1993 erschien der erste Teil des Echolots - dieser gewaltigen Collage aus Briefen, Tagebüchern, Bildern und Aufzeichnungen, die eine minutiöse Rekonstruktion von Alltagsgeschehenund historischen Ereignissen darstellt. Während die ersten vier Bände den Zeitraum von Januar und Februar 1943 umfassten, führte Walter Kempowski das kollektive Tagebuch in Teil II ("Fuga furiosa", 1999 erschienen) in vier Bänden für die Zeit von Januar und Februar 1945 weiter. Echolot III ("Barbarossa '41", 2002 erschienen) umfasste in einem Band die Zeit von Juni bis Dezember 1941. Mit dem jetzt erscheinenden Band "Abgesang '45" setzt Kempowski den Schlussstein zu diesem unvergleichlic
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Vom 12. Januar bis zur Bombardierung Dresdens am 13. und 14. Februar 1945: Mit „Das Echolot. Fuga furiosa“ führt Walter Kempowski sein großartiges Werk literarischer Vergangenheitsbewältigung fort.
Winter 1945: Niederlage oder Befreiung für die Deutschen? Was sich im Januar 1945 unwiderruflich ankündigte, das Ende der nationalsozialistischen Herrschaft, ist nach fast 60 Jahren noch immer Gegenstand heftiger Diskussionen. In seinem „Echolot. Fuga furiosa“ rekonstruiert Walter Kempowski aus Tagebüchern und Briefen, aus politischen Dokumenten und Berichten minutiös die Ereignisse der Wochen vom 12. Januar bis zum 14. Februar 1945. Prominente Zeitzeugen kommen dabei ebenso zu Wort wie viele Unbekannte. Walter Kempowski rekonstruiert so einen verhängnisvollen Abschnitt deutscher Geschichte, vorurteilsfrei und jenseits aller ideologischer Barrieren. „Was Walter Kempowski hier unternimmt, ist so wagemutig und sammelwütig, dass einem vor dieser historischen Eigernordwand der Atem gefriert …“ Fritz J. Raddatz, Die Zeit
Lange bevor 1993 das erste "Echolot" erschien, notierte Walter Kempowski in seinem Tagebuch: "Zentrum des Werks muss das Jahr 1945 sein, der Schlund des Trichters, auf den alles zudringt." Zum 60. Jahrestag der deutschen Kapitulation findet das unvergleichliche Unternehmen mit dem Band "Abgesang '45" nun seinen Abschluss.
1993 erschien der erste Teil des Echolots - dieser gewaltigen Collage aus Briefen, Tagebüchern, Bildern und Aufzeichnungen, die eine minutiöse Rekonstruktion von Alltagsgeschehenund historischen Ereignissen darstellt. Während die ersten vier Bände den Zeitraum von Januar und Februar 1943 umfassten, führte Walter Kempowski das kollektive Tagebuch in Teil II ("Fuga furiosa", 1999 erschienen) in vier Bänden für die Zeit von Januar und Februar 1945 weiter. Echolot III ("Barbarossa '41", 2002 erschienen) umfasste in einem Band die Zeit von Juni bis Dezember 1941. Mit dem jetzt erscheinenden Band "Abgesang '45" setzt Kempowski den Schlussstein zu diesem unvergleichlic
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.01.2005Wie es wirklich war
Zu unserem Vorabdruck des letzten "Echolot"-Bandes
Das ist das Ende. Das Ende, auf das von Anfang an alles hinauslief, als der Schriftsteller Walter Kempowski beschloß, den Krieg zu kartographieren. Alle verfügbaren Mitschriften des Zweiten Weltkrieges zu sammeln und zu einem wahren Jahrhundertwerk, zu dem inzwischen auf zehn dicke Bände angewachsenen literarischen Geschichtsbuch "Das Echolot" zu vereinen. 1993 erschienen die ersten vier Bände, die Erlebnisse und Beschreibungen aus den Monaten Januar und Februar des Jahres 1943 versammelten. Über die Jahre sind weitere Bände aus anderen Zeitabschnitten dazugekommen. Und jetzt ist es abgeschlossen. Mit den letzten Tagen des Krieges. Es beginnt mit dem 20. April 1945, dem letzten Geburtstag Adolf Hitlers. Dann schwenkt das Echolot weiter, und wir sind am 8. Mai 1945. Auf mehr als hundertfünfzig Seiten versammelt das Buch Mitschriften jenes Tages. Und erstellt damit ein Geschichtsbild vom Tag, an dem in Europa der Krieg zu Ende ging, in einer Fülle und Dichte, wie es das nie zuvor gegeben hat. Nie zuvor hat das Echolot-Prinzip so atemberaubend funktioniert wie in der Textsammlung dieses Tages. Das Echolot-Prinzip des großen Nebeneinanders. Der Annäherung an eine geschichtliche Wirklichkeit, wie sie präziser und vielschichtiger nicht denkbar ist. Was bedeutete dieser Tag der Kapitulation Deutschlands für die einzelnen Menschen? Was heißt dieser lapidare Satz Winston Churchills, mit dem Kempowski seine Sammlung eröffnet: "Der Krieg gegen Deutschland ist somit zu Ende"?
Der Soldat und Schriftsteller Ernst Jünger hört zum ersten Mal im Jahr den Kuckuck in den Moorwäldern, die Tochter Stalins ruft ihren Vater an, gratuliert und trinkt mit Freunden Champagner, der Maler Max Beckmann arbeitet feste den ganzen Tag in Amsterdam und schreibt: "Na ja - es geht weiter alles wie ich's vorausgesehen." Der französische Soldat Aimé Bonifas kehrt gemeinsam mit seiner Truppe umjubelt nach Frankreich zurück und verrät eine Deutsche, die sich unter falschem Namen in Frankreich einschmuggeln wollte, an die französische Sicherheitspolizei. Der deutsche Schriftsteller und alliierte Soldat Stefan Heym kleidet sich am Morgen an, betritt den Hof einer Villa in Bad Nauheim und schießt mit seiner Pistole ein ganzes Magazin in die Luft. Die KZ-Gefangene Alisah Shek berichtet, daß noch am Vormittag SS-Männer ins Getto geschossen haben. Der Offizier der Waffen-SS Léon Degrelle berichtet von seiner atemberaubenden Flucht nach Spanien in letzter Sekunde. Knut Hamsun gedenkt mit sentimentaler Rührung dem verehrten Krieger Adolf Hitler. Claude Simon wundert sich, daß in Paris niemand feiert und daß die Menschen alle aus ihren Häusern gekommen sind, um sich einem großen Festzug anzuschließen, den es nicht gibt. Der spätere Spionagechef Markus Wolf steht mit seinen Eltern auf einer Steinbrücke nahe des Kreml und feiert den "Tag des Sieges", und in einem Leichenschauhaus in Berlin-Buch schreibt ein Namenloser den Untersuchungsbericht über eine Leiche, die vermutlich die Leiche Adolf Hitlers ist.
Walter Kempowski hat all das in vielen, vielen Jahren gesammelt. Mit Zeitungsanzeigen fing alles an, in denen er Bürger um Tagebücher, Briefe, Aufzeichnungen bat. Zuerst nur in Deutschland, später in vielen anderen Ländern der Welt. Bei ihm zu Hause, in dem kleinen Dörfchen Nartum, türmt sich inzwischen ein wahres Weltarchiv. Kempowski, 1929 in Rostock geboren und 1948 von einem sowjetischen Militärtribunal wegen angeblicher Wirtschaftsspionage zu 25 Jahren Zuchthaus verurteilt, von denen er acht Jahre in Bautzen verbüßte, zog nach seiner Entlassung in den Westen, nach Nartum, um zunächst als Dorfschullehrer zu arbeiten. Doch seit er vor über dreißig Jahren mit "Tadellöser & Wolff" den ersten Bestseller seiner Deutschen Chronik schrieb, ist er vor allem Schriftsteller - und Geschichtssammler. Der größte, den wir haben. Im letzten Jahr, aus Anlaß seines fünfundsiebzigsten Geburtstags, kam sogar Bundespräsident Rau zu Besuch, um seine Bewunderung für dieses große Werk und für diesen Mann auszudrücken.
Und wenn in diesem Jahr die großen Feierlichkeiten zum sechzigsten Jahrestag des Kriegsendes begangen werden, dann sollte jeder Feiernde, jeder Gedenkende zuvor dieses Buch gelesen haben. Das große Buch der Geschichte. Der Geschichte des Tages, an dem der Krieg zu Ende ging.
VOLKER WEIDERMANN
Im Februar erscheint: Walter Kempowski: "Das Echolot, Abgesang 45". Knaus-Verlag, 496 Seiten, 49,90 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Zu unserem Vorabdruck des letzten "Echolot"-Bandes
Das ist das Ende. Das Ende, auf das von Anfang an alles hinauslief, als der Schriftsteller Walter Kempowski beschloß, den Krieg zu kartographieren. Alle verfügbaren Mitschriften des Zweiten Weltkrieges zu sammeln und zu einem wahren Jahrhundertwerk, zu dem inzwischen auf zehn dicke Bände angewachsenen literarischen Geschichtsbuch "Das Echolot" zu vereinen. 1993 erschienen die ersten vier Bände, die Erlebnisse und Beschreibungen aus den Monaten Januar und Februar des Jahres 1943 versammelten. Über die Jahre sind weitere Bände aus anderen Zeitabschnitten dazugekommen. Und jetzt ist es abgeschlossen. Mit den letzten Tagen des Krieges. Es beginnt mit dem 20. April 1945, dem letzten Geburtstag Adolf Hitlers. Dann schwenkt das Echolot weiter, und wir sind am 8. Mai 1945. Auf mehr als hundertfünfzig Seiten versammelt das Buch Mitschriften jenes Tages. Und erstellt damit ein Geschichtsbild vom Tag, an dem in Europa der Krieg zu Ende ging, in einer Fülle und Dichte, wie es das nie zuvor gegeben hat. Nie zuvor hat das Echolot-Prinzip so atemberaubend funktioniert wie in der Textsammlung dieses Tages. Das Echolot-Prinzip des großen Nebeneinanders. Der Annäherung an eine geschichtliche Wirklichkeit, wie sie präziser und vielschichtiger nicht denkbar ist. Was bedeutete dieser Tag der Kapitulation Deutschlands für die einzelnen Menschen? Was heißt dieser lapidare Satz Winston Churchills, mit dem Kempowski seine Sammlung eröffnet: "Der Krieg gegen Deutschland ist somit zu Ende"?
Der Soldat und Schriftsteller Ernst Jünger hört zum ersten Mal im Jahr den Kuckuck in den Moorwäldern, die Tochter Stalins ruft ihren Vater an, gratuliert und trinkt mit Freunden Champagner, der Maler Max Beckmann arbeitet feste den ganzen Tag in Amsterdam und schreibt: "Na ja - es geht weiter alles wie ich's vorausgesehen." Der französische Soldat Aimé Bonifas kehrt gemeinsam mit seiner Truppe umjubelt nach Frankreich zurück und verrät eine Deutsche, die sich unter falschem Namen in Frankreich einschmuggeln wollte, an die französische Sicherheitspolizei. Der deutsche Schriftsteller und alliierte Soldat Stefan Heym kleidet sich am Morgen an, betritt den Hof einer Villa in Bad Nauheim und schießt mit seiner Pistole ein ganzes Magazin in die Luft. Die KZ-Gefangene Alisah Shek berichtet, daß noch am Vormittag SS-Männer ins Getto geschossen haben. Der Offizier der Waffen-SS Léon Degrelle berichtet von seiner atemberaubenden Flucht nach Spanien in letzter Sekunde. Knut Hamsun gedenkt mit sentimentaler Rührung dem verehrten Krieger Adolf Hitler. Claude Simon wundert sich, daß in Paris niemand feiert und daß die Menschen alle aus ihren Häusern gekommen sind, um sich einem großen Festzug anzuschließen, den es nicht gibt. Der spätere Spionagechef Markus Wolf steht mit seinen Eltern auf einer Steinbrücke nahe des Kreml und feiert den "Tag des Sieges", und in einem Leichenschauhaus in Berlin-Buch schreibt ein Namenloser den Untersuchungsbericht über eine Leiche, die vermutlich die Leiche Adolf Hitlers ist.
Walter Kempowski hat all das in vielen, vielen Jahren gesammelt. Mit Zeitungsanzeigen fing alles an, in denen er Bürger um Tagebücher, Briefe, Aufzeichnungen bat. Zuerst nur in Deutschland, später in vielen anderen Ländern der Welt. Bei ihm zu Hause, in dem kleinen Dörfchen Nartum, türmt sich inzwischen ein wahres Weltarchiv. Kempowski, 1929 in Rostock geboren und 1948 von einem sowjetischen Militärtribunal wegen angeblicher Wirtschaftsspionage zu 25 Jahren Zuchthaus verurteilt, von denen er acht Jahre in Bautzen verbüßte, zog nach seiner Entlassung in den Westen, nach Nartum, um zunächst als Dorfschullehrer zu arbeiten. Doch seit er vor über dreißig Jahren mit "Tadellöser & Wolff" den ersten Bestseller seiner Deutschen Chronik schrieb, ist er vor allem Schriftsteller - und Geschichtssammler. Der größte, den wir haben. Im letzten Jahr, aus Anlaß seines fünfundsiebzigsten Geburtstags, kam sogar Bundespräsident Rau zu Besuch, um seine Bewunderung für dieses große Werk und für diesen Mann auszudrücken.
Und wenn in diesem Jahr die großen Feierlichkeiten zum sechzigsten Jahrestag des Kriegsendes begangen werden, dann sollte jeder Feiernde, jeder Gedenkende zuvor dieses Buch gelesen haben. Das große Buch der Geschichte. Der Geschichte des Tages, an dem der Krieg zu Ende ging.
VOLKER WEIDERMANN
Im Februar erscheint: Walter Kempowski: "Das Echolot, Abgesang 45". Knaus-Verlag, 496 Seiten, 49,90 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 10.03.2015Ohne Unterbrechung Alarm
Vor zwanzig Jahren schufen Walter Adler und Walter Kempowski ein Hörstück über
die letzten Monate des Zweiten Weltkriegs – In dieser Form wird die Geschichtserzählung zum Denkmal
VON JENS BISKY
Vernünftig wäre es, wenn man endlich Walter Kempowski folgen und dieses Hörstück ununterbrochen in der Neuen Wache, Unter den Linden, spielen würde: „und wenn es einmal zu Ende ist, von vorne wieder beginnen, jahre-, jahrzehntelang, bis eines Tages sowieso alles vergeht . . . Die Menschen würden kommen, es regnet vielleicht, und sie hören einen Fetzen aus einer ganz anderen Zeit herüberwehen, sie gehen weg, andere kommen wieder. Ein Kommen und Gehen, und es wird gesprochen, die Zeugnisse dieser Zeit werden weiterverkündet.“ Das Gespräch, in dem er dies vorschlug, steht im Beiheft zur Neuveröffentlichung von „Der Krieg geht zu Ende“.
Das akustische Denkmal – „wie eine Rauchsäule, die gen Himmel steigt“ – könnte den Missgriff Helmut Kohls ungeschehen machen, der an dieser Stelle 1993 zum Gedenken an die „Opfer für Krieg und Gewaltherrschaft“ eine willkürlich vergrößerte Skulptur von Käthe Kollwitz aufstellen ließ, „Mutter mit Sohn“.
Ob die ehrwürdige Form der Pietà zusammen mit der unbestimmten Inschrift nicht alle Unterscheide verwischen würde, ist in den Neunzigerjahren, in der Hochzeit erinnerungspolitischen Streits, viel diskutiert worden. Der Historiker Reinhart Koselleck, seit 1941 Soldat der Wehrmacht, seit Mai 1945 in sowjetischer Kriegsgefangenschaft, kritisierte damals, die Pieta schließe die Juden und die Frauen aus, „die beiden größten Gruppen der unschuldig Umgebrachten und Umgekommenen des Zweiten Weltkrieges“.
Das Hörstück beruht auf dem Riesenwerk „Echolot“, der Collage aus Erinnerungen, Briefen, Berichten, für die Walter Kempowski über Jahre Tausende Nachlässe gesammelt hatte. Das Jahr 1945 galt ihm dabei als Zentrum des Werks. Zu Wort kommen Prominente und Namenlose, Täter und Opfer, Verblendete und Desillusionierte. Die Auswahl aus dem Textmaterial, die der Regisseur Walter Adler traf, ergibt kein Panorama, sie sollte nicht mit einem abgeschlossenen, alles umfassenden Bild verwechselt werden. Dieser Chor ist auf Ergänzung angelegt, auf weitere Stimmen, andere Erfahrungen.
Ein „kollektives Tagebuch“ der letzten Kriegsmonate ist eine Zumutung, denn das „Kollektiv“ umschließt absichtsvoll Gemordete – das Töten in den Konzentrationslagern geht weiter –, Soldaten in Uniform, Zivilisten im Luftschutzbunker oder auf der Flucht. Dieser Stimmenchor vergegenwärtigt eine Gemeinschaft der Zeitgenossen, die Geschichtsschreibung voneinander unterscheiden muss: nach Positionen und Interessen, Lebensläufen, Überlebenschancen. Indem sie hier nebeneinander stehen, wird allerdings eine verbreitete Unsitte unterlaufen: die häppchenweise, Zusammenhänge vernebelnde Betrachtung erst des Schicksals der verfolgten und ermordeten Juden, dann des der deutschen Vertriebenen, daneben des Bombenkriegs und – wiederum als Einzelfall – des NS-Terrors gegen die Männer und Frauen des 20. Juli oder gegen Deserteure – eines Terrors, der wesentlich dazu beitrug, den Krieg zu verlängern.
Kempowski und Adler bieten selbstredend keine analytische Geschichtsschreibung, aber ihr Chor der Zeitgenossen, der Mitlebenden provoziert Fragen, statt Antworten zu inszenieren oder, schlimmer noch, zu sentimentalen Abwehrgesten einzuladen. Wer es genauer wissen will, kann – anders als Kempowski während der Arbeit an „Echolot“ zu Ian Kershaws großer Studie „Das Ende. Kampf bis in den Untergang – NS-Deutschland 1944/45“ greifen, die auf Deutsch 2011 erschien.
„Wenn der Krieg aus ist, dann ist alles sicher schnell wieder vergessen.“ – „Wenn der Krieg vorbei ist, ist von alter deutscher Kultur wahrscheinlich nur noch in kleineren Städten etwas zu finden.“ – „Wenn wir den Krieg verlieren, sind wir nach allgemeiner Überzeugung selbst daran schuld, und zwar nicht der kleine Mann, sondern die Führung.“ – „Hiermit fängt nun ein neues Jahr an und ich drück’ uns beide Daumen, dass es ein gutes Jahr wird, dass uns wieder nach Hause bringt und uns Kurt wiedergibt.“ – „Wie das alte Jahr endete, so beginnt das neue, denn heute war von neun Uhr morgens bis fast 17 Uhr nachmittags ohne Unterbrechung Alarm.“ – „Ziemlich gleichgültig das neue Jahr begrüßt.“ – „Um 12 Uhr Vollalarm, das ist das neue Jahr.“
Mit diesen Sätzen beginnt das Hörstück. Keine Ansage informiert, wer da spricht, in welcher Situation so gedacht und geschrieben wurde. So ist man zur Aufmerksamkeit gezwungen, muss genau zuhören, will man die Berichte, Meinungen. Wünsche verstehen, sich zu ihnen verhalten. Dieses Hörbuch ist eine Herausforderung vor allem dank seiner akustischen Kargheit. Weder Musik noch Geräusche schaffen Vertrautheit oder Stimmung. Die Schauspielerinnen und Schauspieler verleihen den Hunderten Figuren Individualität, ohne dabei die Sympathien des Hörers zu steuern. Es sind viele der besten Sprecher des Landes dabei, einige – etwa Ulrich Mühe, Otto Sander, Rolf Boysen – sind inzwischen gestorben. Gerade weil es keine Dialoge, höchstens berichtete Gespräche gibt, weil jeder für sich von sich erzählt, überzeugt das Hörbuch als Ensembleleistung. Über knapp neun Stunden hinweg wird der richtige Ton getroffen.
Die Flucht vor der Roten Armee, die so viele zivile Opfer kostete, weil man bis zum letzten Augenblick ausharrte und dann unvorbereitet ins Chaos des Rückzugs geriet, der Bombenangriff auf Dresden, Vergewaltigungen durch Sowjetsoldaten nehmen großen Raum ein. Man hört von Erschießungen in den KZs, vom Grimm der Volksgenossen auf Nazibonzen, „Goldfasane“, die sich um jeden Preis zu retten versuchten, man lauscht abfälligen Urteilen über jene, die auf die Soldaten der Alliierten zugingen, mit ihnen sprachen.
Der Hörer mag fragen, ob die Proportionen stimmen, aber das gesamte Vorhaben richtet sich gegen den Geist einer Aufrechnung und einer Opferkonkurrenz. Die dichte Folge von Gewaltszenen, von Hunger, Elend, Tod und Mord, die unaufhaltsame Eskalation der Schrecken, scheint dem Recht zu geben, der gegen Ende sagt, er habe in diesem Krieg nie etwas anderes gesehen als eine „nihilistische Großkundgebung“.
Einer geht wieder pflichteifrig ins Werk; einer erinnert, wie die Rote Armee ins Lager kam, die SS entwaffnet; eine andere mustert gemeinsam mit NKWD-Leuten Denunziationslisten, widerwillig, aber doch froh, dass hundertprozentige Nazis ihre Strafe finden; andere fühlen sich dumpf, freudlos oder erleichtert, unsicher. Es wird – dies zeigt die Zusammenstellung der Zeugnisse für die Tage nach der bedingungslosen Kapitulation – Zeit brauchen, bis das Ende des Dritten Reichs als Befreiung verstanden wird und bis die unterschiedlichen Geschichten von Kriegsende erzählt werden können.
Walter Kempowski: Das Echolot. Der Krieg geht zu Ende. Regie: Walter Adler. Gelesen von Rolf Boysen, Rosemarie Fendel, Burghart Klaußner, Ulrich Noethen, Friedhelm Ptok u.v.a. Der Hörverlag, München 2015. 7 CD, 536 Minuten, 29,99 Euro.
„Wenn der Krieg aus ist,
dann ist alles sicher
schnell wieder vergessen.“
Die erfolgreiche
Familienchronik von „Tadellöser & Wolff“
bis hin zu „Herzlich
Willkommen“ ergänzte Walter Kempowski (1929–2007) durch das kollektive Tagebuch „Echolot“. Foto: dpa
„Der Krieg ist zu Ende. Seit fünf Jahren,
acht Monaten und acht Tagen haben wir sehnsüchtig auf diese Meldung gewartet.“
– Berlin, 1945. Foto: Ursula Röhnert
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Vor zwanzig Jahren schufen Walter Adler und Walter Kempowski ein Hörstück über
die letzten Monate des Zweiten Weltkriegs – In dieser Form wird die Geschichtserzählung zum Denkmal
VON JENS BISKY
Vernünftig wäre es, wenn man endlich Walter Kempowski folgen und dieses Hörstück ununterbrochen in der Neuen Wache, Unter den Linden, spielen würde: „und wenn es einmal zu Ende ist, von vorne wieder beginnen, jahre-, jahrzehntelang, bis eines Tages sowieso alles vergeht . . . Die Menschen würden kommen, es regnet vielleicht, und sie hören einen Fetzen aus einer ganz anderen Zeit herüberwehen, sie gehen weg, andere kommen wieder. Ein Kommen und Gehen, und es wird gesprochen, die Zeugnisse dieser Zeit werden weiterverkündet.“ Das Gespräch, in dem er dies vorschlug, steht im Beiheft zur Neuveröffentlichung von „Der Krieg geht zu Ende“.
Das akustische Denkmal – „wie eine Rauchsäule, die gen Himmel steigt“ – könnte den Missgriff Helmut Kohls ungeschehen machen, der an dieser Stelle 1993 zum Gedenken an die „Opfer für Krieg und Gewaltherrschaft“ eine willkürlich vergrößerte Skulptur von Käthe Kollwitz aufstellen ließ, „Mutter mit Sohn“.
Ob die ehrwürdige Form der Pietà zusammen mit der unbestimmten Inschrift nicht alle Unterscheide verwischen würde, ist in den Neunzigerjahren, in der Hochzeit erinnerungspolitischen Streits, viel diskutiert worden. Der Historiker Reinhart Koselleck, seit 1941 Soldat der Wehrmacht, seit Mai 1945 in sowjetischer Kriegsgefangenschaft, kritisierte damals, die Pieta schließe die Juden und die Frauen aus, „die beiden größten Gruppen der unschuldig Umgebrachten und Umgekommenen des Zweiten Weltkrieges“.
Das Hörstück beruht auf dem Riesenwerk „Echolot“, der Collage aus Erinnerungen, Briefen, Berichten, für die Walter Kempowski über Jahre Tausende Nachlässe gesammelt hatte. Das Jahr 1945 galt ihm dabei als Zentrum des Werks. Zu Wort kommen Prominente und Namenlose, Täter und Opfer, Verblendete und Desillusionierte. Die Auswahl aus dem Textmaterial, die der Regisseur Walter Adler traf, ergibt kein Panorama, sie sollte nicht mit einem abgeschlossenen, alles umfassenden Bild verwechselt werden. Dieser Chor ist auf Ergänzung angelegt, auf weitere Stimmen, andere Erfahrungen.
Ein „kollektives Tagebuch“ der letzten Kriegsmonate ist eine Zumutung, denn das „Kollektiv“ umschließt absichtsvoll Gemordete – das Töten in den Konzentrationslagern geht weiter –, Soldaten in Uniform, Zivilisten im Luftschutzbunker oder auf der Flucht. Dieser Stimmenchor vergegenwärtigt eine Gemeinschaft der Zeitgenossen, die Geschichtsschreibung voneinander unterscheiden muss: nach Positionen und Interessen, Lebensläufen, Überlebenschancen. Indem sie hier nebeneinander stehen, wird allerdings eine verbreitete Unsitte unterlaufen: die häppchenweise, Zusammenhänge vernebelnde Betrachtung erst des Schicksals der verfolgten und ermordeten Juden, dann des der deutschen Vertriebenen, daneben des Bombenkriegs und – wiederum als Einzelfall – des NS-Terrors gegen die Männer und Frauen des 20. Juli oder gegen Deserteure – eines Terrors, der wesentlich dazu beitrug, den Krieg zu verlängern.
Kempowski und Adler bieten selbstredend keine analytische Geschichtsschreibung, aber ihr Chor der Zeitgenossen, der Mitlebenden provoziert Fragen, statt Antworten zu inszenieren oder, schlimmer noch, zu sentimentalen Abwehrgesten einzuladen. Wer es genauer wissen will, kann – anders als Kempowski während der Arbeit an „Echolot“ zu Ian Kershaws großer Studie „Das Ende. Kampf bis in den Untergang – NS-Deutschland 1944/45“ greifen, die auf Deutsch 2011 erschien.
„Wenn der Krieg aus ist, dann ist alles sicher schnell wieder vergessen.“ – „Wenn der Krieg vorbei ist, ist von alter deutscher Kultur wahrscheinlich nur noch in kleineren Städten etwas zu finden.“ – „Wenn wir den Krieg verlieren, sind wir nach allgemeiner Überzeugung selbst daran schuld, und zwar nicht der kleine Mann, sondern die Führung.“ – „Hiermit fängt nun ein neues Jahr an und ich drück’ uns beide Daumen, dass es ein gutes Jahr wird, dass uns wieder nach Hause bringt und uns Kurt wiedergibt.“ – „Wie das alte Jahr endete, so beginnt das neue, denn heute war von neun Uhr morgens bis fast 17 Uhr nachmittags ohne Unterbrechung Alarm.“ – „Ziemlich gleichgültig das neue Jahr begrüßt.“ – „Um 12 Uhr Vollalarm, das ist das neue Jahr.“
Mit diesen Sätzen beginnt das Hörstück. Keine Ansage informiert, wer da spricht, in welcher Situation so gedacht und geschrieben wurde. So ist man zur Aufmerksamkeit gezwungen, muss genau zuhören, will man die Berichte, Meinungen. Wünsche verstehen, sich zu ihnen verhalten. Dieses Hörbuch ist eine Herausforderung vor allem dank seiner akustischen Kargheit. Weder Musik noch Geräusche schaffen Vertrautheit oder Stimmung. Die Schauspielerinnen und Schauspieler verleihen den Hunderten Figuren Individualität, ohne dabei die Sympathien des Hörers zu steuern. Es sind viele der besten Sprecher des Landes dabei, einige – etwa Ulrich Mühe, Otto Sander, Rolf Boysen – sind inzwischen gestorben. Gerade weil es keine Dialoge, höchstens berichtete Gespräche gibt, weil jeder für sich von sich erzählt, überzeugt das Hörbuch als Ensembleleistung. Über knapp neun Stunden hinweg wird der richtige Ton getroffen.
Die Flucht vor der Roten Armee, die so viele zivile Opfer kostete, weil man bis zum letzten Augenblick ausharrte und dann unvorbereitet ins Chaos des Rückzugs geriet, der Bombenangriff auf Dresden, Vergewaltigungen durch Sowjetsoldaten nehmen großen Raum ein. Man hört von Erschießungen in den KZs, vom Grimm der Volksgenossen auf Nazibonzen, „Goldfasane“, die sich um jeden Preis zu retten versuchten, man lauscht abfälligen Urteilen über jene, die auf die Soldaten der Alliierten zugingen, mit ihnen sprachen.
Der Hörer mag fragen, ob die Proportionen stimmen, aber das gesamte Vorhaben richtet sich gegen den Geist einer Aufrechnung und einer Opferkonkurrenz. Die dichte Folge von Gewaltszenen, von Hunger, Elend, Tod und Mord, die unaufhaltsame Eskalation der Schrecken, scheint dem Recht zu geben, der gegen Ende sagt, er habe in diesem Krieg nie etwas anderes gesehen als eine „nihilistische Großkundgebung“.
Einer geht wieder pflichteifrig ins Werk; einer erinnert, wie die Rote Armee ins Lager kam, die SS entwaffnet; eine andere mustert gemeinsam mit NKWD-Leuten Denunziationslisten, widerwillig, aber doch froh, dass hundertprozentige Nazis ihre Strafe finden; andere fühlen sich dumpf, freudlos oder erleichtert, unsicher. Es wird – dies zeigt die Zusammenstellung der Zeugnisse für die Tage nach der bedingungslosen Kapitulation – Zeit brauchen, bis das Ende des Dritten Reichs als Befreiung verstanden wird und bis die unterschiedlichen Geschichten von Kriegsende erzählt werden können.
Walter Kempowski: Das Echolot. Der Krieg geht zu Ende. Regie: Walter Adler. Gelesen von Rolf Boysen, Rosemarie Fendel, Burghart Klaußner, Ulrich Noethen, Friedhelm Ptok u.v.a. Der Hörverlag, München 2015. 7 CD, 536 Minuten, 29,99 Euro.
„Wenn der Krieg aus ist,
dann ist alles sicher
schnell wieder vergessen.“
Die erfolgreiche
Familienchronik von „Tadellöser & Wolff“
bis hin zu „Herzlich
Willkommen“ ergänzte Walter Kempowski (1929–2007) durch das kollektive Tagebuch „Echolot“. Foto: dpa
„Der Krieg ist zu Ende. Seit fünf Jahren,
acht Monaten und acht Tagen haben wir sehnsüchtig auf diese Meldung gewartet.“
– Berlin, 1945. Foto: Ursula Röhnert
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Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
Ein grandioses Werk kommt zu seinem grandiosen Abschluss, so könnte man Gerrit Bartels umfangreiche Rezension zusammenfassen. Wie in den Bänden zuvor fügen sich, so Bartels, die Fragmente unterschiedlichster Herkunft, Machart, Entstehung zusammen zum großen Zeitpanorama. Wiederum erweist sich Kempowski als überzeugender Arrangeur von "Themenkomplexen", in dessen Händen dieser Schlussband zu "Schlussakkord, Höllenfahrt und strukturiertem Chaos" zugleich gerät. Das fabelhafte kompositorische Können Kempowskis zeige sich vor allem in den sich immer erneut einstellenden "überraschenden Sinnzusammenhängen". So werde "Abgesang 45" endgültig zum "komplexen Erinnerungsbuch", dessen Leistung auf die Schnelle gar nicht zu ermessen sei. Auf Jahre hinaus, prophezeit Bartels, werden Literaturwissenschaftler wie Historiker mit der Verarbeitung des Werks beschäftigt sein.
© Perlentaucher Medien GmbH
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"Dieses Buch ersetzt eine ganze Bibliothek zum Thema Kriegsende." Frank Schirrmacher in ZDF Lesen