Vom 12. Januar bis zur Bombardierung Dresdens am 13. und 14. Februar 1945: Mit "Das Echolot. Fuga furiosa" führt Walter Kempowski sein großartiges Werk literarischer Vergangenheitsbewältigung fort.
Winter 1945: Niederlage oder Befreiung für die Deutschen? Was sich im Januar 1945 unwiderruflich ankündigte, das Ende der nationalsozialistischen Herrschaft, ist nach fast 60 Jahren noch immer Gegenstand heftiger Diskussionen. In seinem "Echolot. Fuga furiosa" rekonstruiert Walter Kempowski aus Tagebüchern und Briefen, aus politischen Dokumenten und Berichten minutiös die Ereignisse der Wochen vom 12. Januar bis zum 14. Februar 1945. Prominente Zeitzeugen kommen dabei ebenso zu Wort wie viele Unbekannte.
Walter Kempowski rekonstruiert so einen verhängnisvollen Abschnitt deutscher Geschichte, vorurteilsfrei und jenseits aller ideologischer Barrieren. "Was Walter Kempowski hier unternimmt, ist so wagemutig und sammelwütig, dass einem vor dieser historischen Eigernordwand der Atem gefriert ..." Fritz J. Raddatz, Die Zeit
Winter 1945: Niederlage oder Befreiung für die Deutschen? Was sich im Januar 1945 unwiderruflich ankündigte, das Ende der nationalsozialistischen Herrschaft, ist nach fast 60 Jahren noch immer Gegenstand heftiger Diskussionen. In seinem "Echolot. Fuga furiosa" rekonstruiert Walter Kempowski aus Tagebüchern und Briefen, aus politischen Dokumenten und Berichten minutiös die Ereignisse der Wochen vom 12. Januar bis zum 14. Februar 1945. Prominente Zeitzeugen kommen dabei ebenso zu Wort wie viele Unbekannte.
Walter Kempowski rekonstruiert so einen verhängnisvollen Abschnitt deutscher Geschichte, vorurteilsfrei und jenseits aller ideologischer Barrieren. "Was Walter Kempowski hier unternimmt, ist so wagemutig und sammelwütig, dass einem vor dieser historischen Eigernordwand der Atem gefriert ..." Fritz J. Raddatz, Die Zeit
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 10.03.2015Ohne Unterbrechung Alarm
Vor zwanzig Jahren schufen Walter Adler und Walter Kempowski ein Hörstück über
die letzten Monate des Zweiten Weltkriegs – In dieser Form wird die Geschichtserzählung zum Denkmal
VON JENS BISKY
Vernünftig wäre es, wenn man endlich Walter Kempowski folgen und dieses Hörstück ununterbrochen in der Neuen Wache, Unter den Linden, spielen würde: „und wenn es einmal zu Ende ist, von vorne wieder beginnen, jahre-, jahrzehntelang, bis eines Tages sowieso alles vergeht . . . Die Menschen würden kommen, es regnet vielleicht, und sie hören einen Fetzen aus einer ganz anderen Zeit herüberwehen, sie gehen weg, andere kommen wieder. Ein Kommen und Gehen, und es wird gesprochen, die Zeugnisse dieser Zeit werden weiterverkündet.“ Das Gespräch, in dem er dies vorschlug, steht im Beiheft zur Neuveröffentlichung von „Der Krieg geht zu Ende“.
Das akustische Denkmal – „wie eine Rauchsäule, die gen Himmel steigt“ – könnte den Missgriff Helmut Kohls ungeschehen machen, der an dieser Stelle 1993 zum Gedenken an die „Opfer für Krieg und Gewaltherrschaft“ eine willkürlich vergrößerte Skulptur von Käthe Kollwitz aufstellen ließ, „Mutter mit Sohn“.
Ob die ehrwürdige Form der Pietà zusammen mit der unbestimmten Inschrift nicht alle Unterscheide verwischen würde, ist in den Neunzigerjahren, in der Hochzeit erinnerungspolitischen Streits, viel diskutiert worden. Der Historiker Reinhart Koselleck, seit 1941 Soldat der Wehrmacht, seit Mai 1945 in sowjetischer Kriegsgefangenschaft, kritisierte damals, die Pieta schließe die Juden und die Frauen aus, „die beiden größten Gruppen der unschuldig Umgebrachten und Umgekommenen des Zweiten Weltkrieges“.
Das Hörstück beruht auf dem Riesenwerk „Echolot“, der Collage aus Erinnerungen, Briefen, Berichten, für die Walter Kempowski über Jahre Tausende Nachlässe gesammelt hatte. Das Jahr 1945 galt ihm dabei als Zentrum des Werks. Zu Wort kommen Prominente und Namenlose, Täter und Opfer, Verblendete und Desillusionierte. Die Auswahl aus dem Textmaterial, die der Regisseur Walter Adler traf, ergibt kein Panorama, sie sollte nicht mit einem abgeschlossenen, alles umfassenden Bild verwechselt werden. Dieser Chor ist auf Ergänzung angelegt, auf weitere Stimmen, andere Erfahrungen.
Ein „kollektives Tagebuch“ der letzten Kriegsmonate ist eine Zumutung, denn das „Kollektiv“ umschließt absichtsvoll Gemordete – das Töten in den Konzentrationslagern geht weiter –, Soldaten in Uniform, Zivilisten im Luftschutzbunker oder auf der Flucht. Dieser Stimmenchor vergegenwärtigt eine Gemeinschaft der Zeitgenossen, die Geschichtsschreibung voneinander unterscheiden muss: nach Positionen und Interessen, Lebensläufen, Überlebenschancen. Indem sie hier nebeneinander stehen, wird allerdings eine verbreitete Unsitte unterlaufen: die häppchenweise, Zusammenhänge vernebelnde Betrachtung erst des Schicksals der verfolgten und ermordeten Juden, dann des der deutschen Vertriebenen, daneben des Bombenkriegs und – wiederum als Einzelfall – des NS-Terrors gegen die Männer und Frauen des 20. Juli oder gegen Deserteure – eines Terrors, der wesentlich dazu beitrug, den Krieg zu verlängern.
Kempowski und Adler bieten selbstredend keine analytische Geschichtsschreibung, aber ihr Chor der Zeitgenossen, der Mitlebenden provoziert Fragen, statt Antworten zu inszenieren oder, schlimmer noch, zu sentimentalen Abwehrgesten einzuladen. Wer es genauer wissen will, kann – anders als Kempowski während der Arbeit an „Echolot“ zu Ian Kershaws großer Studie „Das Ende. Kampf bis in den Untergang – NS-Deutschland 1944/45“ greifen, die auf Deutsch 2011 erschien.
„Wenn der Krieg aus ist, dann ist alles sicher schnell wieder vergessen.“ – „Wenn der Krieg vorbei ist, ist von alter deutscher Kultur wahrscheinlich nur noch in kleineren Städten etwas zu finden.“ – „Wenn wir den Krieg verlieren, sind wir nach allgemeiner Überzeugung selbst daran schuld, und zwar nicht der kleine Mann, sondern die Führung.“ – „Hiermit fängt nun ein neues Jahr an und ich drück’ uns beide Daumen, dass es ein gutes Jahr wird, dass uns wieder nach Hause bringt und uns Kurt wiedergibt.“ – „Wie das alte Jahr endete, so beginnt das neue, denn heute war von neun Uhr morgens bis fast 17 Uhr nachmittags ohne Unterbrechung Alarm.“ – „Ziemlich gleichgültig das neue Jahr begrüßt.“ – „Um 12 Uhr Vollalarm, das ist das neue Jahr.“
Mit diesen Sätzen beginnt das Hörstück. Keine Ansage informiert, wer da spricht, in welcher Situation so gedacht und geschrieben wurde. So ist man zur Aufmerksamkeit gezwungen, muss genau zuhören, will man die Berichte, Meinungen. Wünsche verstehen, sich zu ihnen verhalten. Dieses Hörbuch ist eine Herausforderung vor allem dank seiner akustischen Kargheit. Weder Musik noch Geräusche schaffen Vertrautheit oder Stimmung. Die Schauspielerinnen und Schauspieler verleihen den Hunderten Figuren Individualität, ohne dabei die Sympathien des Hörers zu steuern. Es sind viele der besten Sprecher des Landes dabei, einige – etwa Ulrich Mühe, Otto Sander, Rolf Boysen – sind inzwischen gestorben. Gerade weil es keine Dialoge, höchstens berichtete Gespräche gibt, weil jeder für sich von sich erzählt, überzeugt das Hörbuch als Ensembleleistung. Über knapp neun Stunden hinweg wird der richtige Ton getroffen.
Die Flucht vor der Roten Armee, die so viele zivile Opfer kostete, weil man bis zum letzten Augenblick ausharrte und dann unvorbereitet ins Chaos des Rückzugs geriet, der Bombenangriff auf Dresden, Vergewaltigungen durch Sowjetsoldaten nehmen großen Raum ein. Man hört von Erschießungen in den KZs, vom Grimm der Volksgenossen auf Nazibonzen, „Goldfasane“, die sich um jeden Preis zu retten versuchten, man lauscht abfälligen Urteilen über jene, die auf die Soldaten der Alliierten zugingen, mit ihnen sprachen.
Der Hörer mag fragen, ob die Proportionen stimmen, aber das gesamte Vorhaben richtet sich gegen den Geist einer Aufrechnung und einer Opferkonkurrenz. Die dichte Folge von Gewaltszenen, von Hunger, Elend, Tod und Mord, die unaufhaltsame Eskalation der Schrecken, scheint dem Recht zu geben, der gegen Ende sagt, er habe in diesem Krieg nie etwas anderes gesehen als eine „nihilistische Großkundgebung“.
Einer geht wieder pflichteifrig ins Werk; einer erinnert, wie die Rote Armee ins Lager kam, die SS entwaffnet; eine andere mustert gemeinsam mit NKWD-Leuten Denunziationslisten, widerwillig, aber doch froh, dass hundertprozentige Nazis ihre Strafe finden; andere fühlen sich dumpf, freudlos oder erleichtert, unsicher. Es wird – dies zeigt die Zusammenstellung der Zeugnisse für die Tage nach der bedingungslosen Kapitulation – Zeit brauchen, bis das Ende des Dritten Reichs als Befreiung verstanden wird und bis die unterschiedlichen Geschichten von Kriegsende erzählt werden können.
Walter Kempowski: Das Echolot. Der Krieg geht zu Ende. Regie: Walter Adler. Gelesen von Rolf Boysen, Rosemarie Fendel, Burghart Klaußner, Ulrich Noethen, Friedhelm Ptok u.v.a. Der Hörverlag, München 2015. 7 CD, 536 Minuten, 29,99 Euro.
„Wenn der Krieg aus ist,
dann ist alles sicher
schnell wieder vergessen.“
Die erfolgreiche
Familienchronik von „Tadellöser & Wolff“
bis hin zu „Herzlich
Willkommen“ ergänzte Walter Kempowski (1929–2007) durch das kollektive Tagebuch „Echolot“. Foto: dpa
„Der Krieg ist zu Ende. Seit fünf Jahren,
acht Monaten und acht Tagen haben wir sehnsüchtig auf diese Meldung gewartet.“
– Berlin, 1945. Foto: Ursula Röhnert
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Vor zwanzig Jahren schufen Walter Adler und Walter Kempowski ein Hörstück über
die letzten Monate des Zweiten Weltkriegs – In dieser Form wird die Geschichtserzählung zum Denkmal
VON JENS BISKY
Vernünftig wäre es, wenn man endlich Walter Kempowski folgen und dieses Hörstück ununterbrochen in der Neuen Wache, Unter den Linden, spielen würde: „und wenn es einmal zu Ende ist, von vorne wieder beginnen, jahre-, jahrzehntelang, bis eines Tages sowieso alles vergeht . . . Die Menschen würden kommen, es regnet vielleicht, und sie hören einen Fetzen aus einer ganz anderen Zeit herüberwehen, sie gehen weg, andere kommen wieder. Ein Kommen und Gehen, und es wird gesprochen, die Zeugnisse dieser Zeit werden weiterverkündet.“ Das Gespräch, in dem er dies vorschlug, steht im Beiheft zur Neuveröffentlichung von „Der Krieg geht zu Ende“.
Das akustische Denkmal – „wie eine Rauchsäule, die gen Himmel steigt“ – könnte den Missgriff Helmut Kohls ungeschehen machen, der an dieser Stelle 1993 zum Gedenken an die „Opfer für Krieg und Gewaltherrschaft“ eine willkürlich vergrößerte Skulptur von Käthe Kollwitz aufstellen ließ, „Mutter mit Sohn“.
Ob die ehrwürdige Form der Pietà zusammen mit der unbestimmten Inschrift nicht alle Unterscheide verwischen würde, ist in den Neunzigerjahren, in der Hochzeit erinnerungspolitischen Streits, viel diskutiert worden. Der Historiker Reinhart Koselleck, seit 1941 Soldat der Wehrmacht, seit Mai 1945 in sowjetischer Kriegsgefangenschaft, kritisierte damals, die Pieta schließe die Juden und die Frauen aus, „die beiden größten Gruppen der unschuldig Umgebrachten und Umgekommenen des Zweiten Weltkrieges“.
Das Hörstück beruht auf dem Riesenwerk „Echolot“, der Collage aus Erinnerungen, Briefen, Berichten, für die Walter Kempowski über Jahre Tausende Nachlässe gesammelt hatte. Das Jahr 1945 galt ihm dabei als Zentrum des Werks. Zu Wort kommen Prominente und Namenlose, Täter und Opfer, Verblendete und Desillusionierte. Die Auswahl aus dem Textmaterial, die der Regisseur Walter Adler traf, ergibt kein Panorama, sie sollte nicht mit einem abgeschlossenen, alles umfassenden Bild verwechselt werden. Dieser Chor ist auf Ergänzung angelegt, auf weitere Stimmen, andere Erfahrungen.
Ein „kollektives Tagebuch“ der letzten Kriegsmonate ist eine Zumutung, denn das „Kollektiv“ umschließt absichtsvoll Gemordete – das Töten in den Konzentrationslagern geht weiter –, Soldaten in Uniform, Zivilisten im Luftschutzbunker oder auf der Flucht. Dieser Stimmenchor vergegenwärtigt eine Gemeinschaft der Zeitgenossen, die Geschichtsschreibung voneinander unterscheiden muss: nach Positionen und Interessen, Lebensläufen, Überlebenschancen. Indem sie hier nebeneinander stehen, wird allerdings eine verbreitete Unsitte unterlaufen: die häppchenweise, Zusammenhänge vernebelnde Betrachtung erst des Schicksals der verfolgten und ermordeten Juden, dann des der deutschen Vertriebenen, daneben des Bombenkriegs und – wiederum als Einzelfall – des NS-Terrors gegen die Männer und Frauen des 20. Juli oder gegen Deserteure – eines Terrors, der wesentlich dazu beitrug, den Krieg zu verlängern.
Kempowski und Adler bieten selbstredend keine analytische Geschichtsschreibung, aber ihr Chor der Zeitgenossen, der Mitlebenden provoziert Fragen, statt Antworten zu inszenieren oder, schlimmer noch, zu sentimentalen Abwehrgesten einzuladen. Wer es genauer wissen will, kann – anders als Kempowski während der Arbeit an „Echolot“ zu Ian Kershaws großer Studie „Das Ende. Kampf bis in den Untergang – NS-Deutschland 1944/45“ greifen, die auf Deutsch 2011 erschien.
„Wenn der Krieg aus ist, dann ist alles sicher schnell wieder vergessen.“ – „Wenn der Krieg vorbei ist, ist von alter deutscher Kultur wahrscheinlich nur noch in kleineren Städten etwas zu finden.“ – „Wenn wir den Krieg verlieren, sind wir nach allgemeiner Überzeugung selbst daran schuld, und zwar nicht der kleine Mann, sondern die Führung.“ – „Hiermit fängt nun ein neues Jahr an und ich drück’ uns beide Daumen, dass es ein gutes Jahr wird, dass uns wieder nach Hause bringt und uns Kurt wiedergibt.“ – „Wie das alte Jahr endete, so beginnt das neue, denn heute war von neun Uhr morgens bis fast 17 Uhr nachmittags ohne Unterbrechung Alarm.“ – „Ziemlich gleichgültig das neue Jahr begrüßt.“ – „Um 12 Uhr Vollalarm, das ist das neue Jahr.“
Mit diesen Sätzen beginnt das Hörstück. Keine Ansage informiert, wer da spricht, in welcher Situation so gedacht und geschrieben wurde. So ist man zur Aufmerksamkeit gezwungen, muss genau zuhören, will man die Berichte, Meinungen. Wünsche verstehen, sich zu ihnen verhalten. Dieses Hörbuch ist eine Herausforderung vor allem dank seiner akustischen Kargheit. Weder Musik noch Geräusche schaffen Vertrautheit oder Stimmung. Die Schauspielerinnen und Schauspieler verleihen den Hunderten Figuren Individualität, ohne dabei die Sympathien des Hörers zu steuern. Es sind viele der besten Sprecher des Landes dabei, einige – etwa Ulrich Mühe, Otto Sander, Rolf Boysen – sind inzwischen gestorben. Gerade weil es keine Dialoge, höchstens berichtete Gespräche gibt, weil jeder für sich von sich erzählt, überzeugt das Hörbuch als Ensembleleistung. Über knapp neun Stunden hinweg wird der richtige Ton getroffen.
Die Flucht vor der Roten Armee, die so viele zivile Opfer kostete, weil man bis zum letzten Augenblick ausharrte und dann unvorbereitet ins Chaos des Rückzugs geriet, der Bombenangriff auf Dresden, Vergewaltigungen durch Sowjetsoldaten nehmen großen Raum ein. Man hört von Erschießungen in den KZs, vom Grimm der Volksgenossen auf Nazibonzen, „Goldfasane“, die sich um jeden Preis zu retten versuchten, man lauscht abfälligen Urteilen über jene, die auf die Soldaten der Alliierten zugingen, mit ihnen sprachen.
Der Hörer mag fragen, ob die Proportionen stimmen, aber das gesamte Vorhaben richtet sich gegen den Geist einer Aufrechnung und einer Opferkonkurrenz. Die dichte Folge von Gewaltszenen, von Hunger, Elend, Tod und Mord, die unaufhaltsame Eskalation der Schrecken, scheint dem Recht zu geben, der gegen Ende sagt, er habe in diesem Krieg nie etwas anderes gesehen als eine „nihilistische Großkundgebung“.
Einer geht wieder pflichteifrig ins Werk; einer erinnert, wie die Rote Armee ins Lager kam, die SS entwaffnet; eine andere mustert gemeinsam mit NKWD-Leuten Denunziationslisten, widerwillig, aber doch froh, dass hundertprozentige Nazis ihre Strafe finden; andere fühlen sich dumpf, freudlos oder erleichtert, unsicher. Es wird – dies zeigt die Zusammenstellung der Zeugnisse für die Tage nach der bedingungslosen Kapitulation – Zeit brauchen, bis das Ende des Dritten Reichs als Befreiung verstanden wird und bis die unterschiedlichen Geschichten von Kriegsende erzählt werden können.
Walter Kempowski: Das Echolot. Der Krieg geht zu Ende. Regie: Walter Adler. Gelesen von Rolf Boysen, Rosemarie Fendel, Burghart Klaußner, Ulrich Noethen, Friedhelm Ptok u.v.a. Der Hörverlag, München 2015. 7 CD, 536 Minuten, 29,99 Euro.
„Wenn der Krieg aus ist,
dann ist alles sicher
schnell wieder vergessen.“
Die erfolgreiche
Familienchronik von „Tadellöser & Wolff“
bis hin zu „Herzlich
Willkommen“ ergänzte Walter Kempowski (1929–2007) durch das kollektive Tagebuch „Echolot“. Foto: dpa
„Der Krieg ist zu Ende. Seit fünf Jahren,
acht Monaten und acht Tagen haben wir sehnsüchtig auf diese Meldung gewartet.“
– Berlin, 1945. Foto: Ursula Röhnert
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.03.2002Als der Geschichte der Atem gefror
Walter Kempowskis Rußlandfeldzug / Von Volker Weidermann
Es ist ein Frühling der Erinnerung. In der deutschsprachigen Literatur dieses Jahresbeginns hat ein großes, zeitgeschichtliches Erinnern eingesetzt wie lange nicht mehr. Günter Grass bekennt, sich jahrelang lückenhaft erinnert und die Geschichte der Vertreibung der Deutschen zu Unrecht in seinen Büchern verschwiegen zu haben, Autoren aller Generationen aus dem Osten Deutschlands schreiben ihre Versionen des Mauerfalls und der letzten Jahre der DDR, und auch der 11. September ist schon mehrfach Gegenstand der Literatur geworden. Es ist ein Rückversicherungs-, ein Bekenntnis-, ein Deutungsfrühling in der Literatur. Die Geschichte wird in Geschichten gesichert und das Individuum sucht und findet seinen Ort während der großen und kleinen Weltenwenden in der privaten Erinnerung.
Ein solcher Frühling ist der Frühling Walter Kempowskis. Spätestens seit der Veröffentlichung der ersten vier Bände seines "Echolots" im November 1993, jenes kollektiven Tagebuchs aus den Kriegsmonaten Januar und Februar 1943, gilt er als der Bewahrer der großen Geschichte mittels Archivierung der kleinen Geschichten. Kempowski läßt Debatten über die Deutungshoheit der Historie rasch verstummen, indem er sie in unendlich viele kleine, parallele Alltagshistorien aufteilt und gleichberechtigt nebeneinander präsentiert: ein kollektives Tagebuch der Welt oder jenes Teiles der Welt immerhin, den Kempowskis Sammelwut bislang erreichte. Jene Sammelwut, die alles bewahren will und inzwischen im heimatlichen Nartum zu einem unüberschaubaren Weltarchiv geführt haben soll, in dem sich nur noch der Erinnerungskönig selbst und seine engsten Weltarchivmitarbeiter zurechtfinden können.
Aus diesem Archiv hat Kempowski jetzt einen neuen Zeitausschnitt herausgelöst und in einem weiteren Echolot-Band zusammengestellt. Er heißt "Barbarossa '41" und umfaßt das erste halbe Jahr des Kriegs, den Deutschland gegen die Sowjetunion führte. Der 22. Juni 1941 - was war das für ein Tag, an dem der "Barbarossa-Feldzug" begann und der große Krieg in seine vorentscheidende Phase trat?
Ein wunderbarer Morgen. Der Duft von Rosen, Heu und Flieder hängt in der Luft", schreibt der englische Diplomat und Schriftsteller Harold Nicolson in Kent in sein Tagebuch. "Der Führer macht eine kleine Spazierfahrt", schreibt Joseph Goebbels, "07.00 Abmarsch. Grenzüberschreitung", notiert der Gefreite Feldmann in Litauen, "Der Feind ist anscheinend auf ganzer Linie taktisch überrascht", meldet General Franz Halder in Berlin, der Unteroffizier Hans Schmitz schreibt von der Front am Bug: "Unsere Flugzeuge sind recht fleißig. Wir empfangen in aller Ruhe Kaffee. Mir geht's gut." Alexander Grusdew freut sich in Leningrad auf das Spiel seiner Lieblingsfußballmannschaft, die um sechs Uhr abends antritt. Der diensthabende General im Kreml weigert sich in der Nacht, Stalin zu wecken, und ist erst durch die Nachricht "Die Deutschen bombardieren unsere Städte" dazu zu überreden, auf den Gesichtern von Churchill, Eden und Winant zeigt sich beim Aufwecken in London ein "Lächeln der Genugtuung", wie der Privatsekretär Winston Churchills, John Colville, notiert. Um halb drei Uhr nachts ist "der Führer sehr ernst", wie Goebbels schreibt, und will noch ein paar Stunden schlafen. Goebbels schläft auch, hört zuvor noch erste Vogelstimmen im Garten und vermerkt: "Der Atem der Geschichte ist hörbar."
"Was ist das heute für ein schwarzer Tag", schreibt der Schriftsteller Emil Barth in Xanten. "Heute wunderbarer Sonntag. Herrlicher Sonnenschein, heiß und windstill", der Oberstabsarzt Willi Lindenbach in Gummersbach. "Vom Ausgang dieses großen, historischen Kampfes hängt das Wohlergehen der ganzen Menschheit ab", schreibt der sechzehnjährige Jurij Rjabinkin in Leningrad. Beim Schlafengehen in London wiederholt Churchill mehrfach, wie wundervoll es sei, daß Rußland jetzt gegen Deutschland kämpfen müsse, und sein Sekretär notiert: "Ich habe noch nie einen solchen erfreulichen Abend verbracht."
So klingen die ersten Takte des neuen Geschichtskonzertes, interpretiert vom Weltereignisdirigenten Walter Kempowski. Ein scheinbar wirres, dissonantes Nebeneinander von Stimmungen, Erlebnissen an der Front, in der Heimat, am Bett der Macht. Die Vögel singen, das Wetter ist gut, ein neuer Krieg beginnt, nur wenige ahnen, was das heißen wird. Es ist die Kunst Kempowskis, aus diesem dissonanten Nebeneinander im Verlaufe des Buches ein Geschichtsbild entstehen zu lassen, das tatsächlich den Eindruck einer Art Authentizität vermittelt, einer Ahnung der Wirklichkeit, aus tausend persönlichen kleinen Wirklichkeiten zusammengesetzt. Den Auftakt jedes Tages machen in der Regel die Schriftsteller aus aller Welt, Thomas Mann in Pacific Palisades, Ernst Jünger in Paris, Julien Green in Baltimore, dann Berichte von der Front, vom Kriegsgeschehen auf beiden Seiten, Feldpostbriefe aus der Heimat, anfeuernd, sehnsüchtig, verzagt, Schilderungen aus dem eingekesselten Leningrad, vom tausendfachen Hungertod, Schilderungen, die keiner, der sie einmal gelesen hat, je wird vergessen können. Und zum Ende jedes Tages die kühlen, sachlichen Berichte Adam Czerniakóws, des Vorsitzenden des Judenrates, aus dem Warschauer Ghetto und ein kurzer Vermerk Danuta Czechs aus dem Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau über die neuen Häftlinge.
Es ist alles da, in allen Tonlagen, an allen Fronten, der Krieg, der Kampf, der unendliche Schrecken, der sich im Buch von Seite zu Seite weitet, immer weiter, bis dahin, wo kaum ein Berichterstatter vorher hingesehen und mitgeschrieben hat. Der Krieg Deutschlands gegen die Sowjetunion wurde mitgeschrieben. Und Kempowski läßt uns lesen. Alles.
Als der Schriftsteller W. G. Sebald vor einigen Jahren beklagte, daß die deutsche Nachkriegsliteratur die Bombardierung deutscher Städte schmählich vernachlässigt habe, da holte Kempowski kühl noch einmal sein erstes "Echolot" hervor, stellte für die Überleser die Passagen zum Luftkrieg noch einmal separat zusammen, erklärte knapp: Hier, der Luftkrieg in der deutschen Literatur, ich habe es schon längst zusammengeschrieben. Und auch das Bekenntnis eines Mißerinnerns, zu dem sich sein Generationsgenosse Günter Grass jetzt hinreißen ließ, kann Walter Kempowski nicht passieren. Er ist der Geschichtsigel, der immer schon dagewesen ist, wenn die anderen Erinnerungswettläufer mit ihren Büchern japsend ankommen. Sein Echolot hat es schon ausgehorcht, bis auf den Grund.
Und auch wenn der Gefreite Reinhold Pabel mit seinen Worten recht hat: "Der Krieg ist anders als im Buch, in jedem realistischen nicht ausgenommen", so ist mit "Barbarossa '41" doch wieder ein Buch zu lesen, das dieser Wirklichkeit wenigstens am nächsten kommt.
Walter Kempowski: "Das Echolot". Barbarossa '41. Ein kollektives Tagebuch. Albrecht Knaus Verlag, München 2002. 732 S., geb., 49,90.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Walter Kempowskis Rußlandfeldzug / Von Volker Weidermann
Es ist ein Frühling der Erinnerung. In der deutschsprachigen Literatur dieses Jahresbeginns hat ein großes, zeitgeschichtliches Erinnern eingesetzt wie lange nicht mehr. Günter Grass bekennt, sich jahrelang lückenhaft erinnert und die Geschichte der Vertreibung der Deutschen zu Unrecht in seinen Büchern verschwiegen zu haben, Autoren aller Generationen aus dem Osten Deutschlands schreiben ihre Versionen des Mauerfalls und der letzten Jahre der DDR, und auch der 11. September ist schon mehrfach Gegenstand der Literatur geworden. Es ist ein Rückversicherungs-, ein Bekenntnis-, ein Deutungsfrühling in der Literatur. Die Geschichte wird in Geschichten gesichert und das Individuum sucht und findet seinen Ort während der großen und kleinen Weltenwenden in der privaten Erinnerung.
Ein solcher Frühling ist der Frühling Walter Kempowskis. Spätestens seit der Veröffentlichung der ersten vier Bände seines "Echolots" im November 1993, jenes kollektiven Tagebuchs aus den Kriegsmonaten Januar und Februar 1943, gilt er als der Bewahrer der großen Geschichte mittels Archivierung der kleinen Geschichten. Kempowski läßt Debatten über die Deutungshoheit der Historie rasch verstummen, indem er sie in unendlich viele kleine, parallele Alltagshistorien aufteilt und gleichberechtigt nebeneinander präsentiert: ein kollektives Tagebuch der Welt oder jenes Teiles der Welt immerhin, den Kempowskis Sammelwut bislang erreichte. Jene Sammelwut, die alles bewahren will und inzwischen im heimatlichen Nartum zu einem unüberschaubaren Weltarchiv geführt haben soll, in dem sich nur noch der Erinnerungskönig selbst und seine engsten Weltarchivmitarbeiter zurechtfinden können.
Aus diesem Archiv hat Kempowski jetzt einen neuen Zeitausschnitt herausgelöst und in einem weiteren Echolot-Band zusammengestellt. Er heißt "Barbarossa '41" und umfaßt das erste halbe Jahr des Kriegs, den Deutschland gegen die Sowjetunion führte. Der 22. Juni 1941 - was war das für ein Tag, an dem der "Barbarossa-Feldzug" begann und der große Krieg in seine vorentscheidende Phase trat?
Ein wunderbarer Morgen. Der Duft von Rosen, Heu und Flieder hängt in der Luft", schreibt der englische Diplomat und Schriftsteller Harold Nicolson in Kent in sein Tagebuch. "Der Führer macht eine kleine Spazierfahrt", schreibt Joseph Goebbels, "07.00 Abmarsch. Grenzüberschreitung", notiert der Gefreite Feldmann in Litauen, "Der Feind ist anscheinend auf ganzer Linie taktisch überrascht", meldet General Franz Halder in Berlin, der Unteroffizier Hans Schmitz schreibt von der Front am Bug: "Unsere Flugzeuge sind recht fleißig. Wir empfangen in aller Ruhe Kaffee. Mir geht's gut." Alexander Grusdew freut sich in Leningrad auf das Spiel seiner Lieblingsfußballmannschaft, die um sechs Uhr abends antritt. Der diensthabende General im Kreml weigert sich in der Nacht, Stalin zu wecken, und ist erst durch die Nachricht "Die Deutschen bombardieren unsere Städte" dazu zu überreden, auf den Gesichtern von Churchill, Eden und Winant zeigt sich beim Aufwecken in London ein "Lächeln der Genugtuung", wie der Privatsekretär Winston Churchills, John Colville, notiert. Um halb drei Uhr nachts ist "der Führer sehr ernst", wie Goebbels schreibt, und will noch ein paar Stunden schlafen. Goebbels schläft auch, hört zuvor noch erste Vogelstimmen im Garten und vermerkt: "Der Atem der Geschichte ist hörbar."
"Was ist das heute für ein schwarzer Tag", schreibt der Schriftsteller Emil Barth in Xanten. "Heute wunderbarer Sonntag. Herrlicher Sonnenschein, heiß und windstill", der Oberstabsarzt Willi Lindenbach in Gummersbach. "Vom Ausgang dieses großen, historischen Kampfes hängt das Wohlergehen der ganzen Menschheit ab", schreibt der sechzehnjährige Jurij Rjabinkin in Leningrad. Beim Schlafengehen in London wiederholt Churchill mehrfach, wie wundervoll es sei, daß Rußland jetzt gegen Deutschland kämpfen müsse, und sein Sekretär notiert: "Ich habe noch nie einen solchen erfreulichen Abend verbracht."
So klingen die ersten Takte des neuen Geschichtskonzertes, interpretiert vom Weltereignisdirigenten Walter Kempowski. Ein scheinbar wirres, dissonantes Nebeneinander von Stimmungen, Erlebnissen an der Front, in der Heimat, am Bett der Macht. Die Vögel singen, das Wetter ist gut, ein neuer Krieg beginnt, nur wenige ahnen, was das heißen wird. Es ist die Kunst Kempowskis, aus diesem dissonanten Nebeneinander im Verlaufe des Buches ein Geschichtsbild entstehen zu lassen, das tatsächlich den Eindruck einer Art Authentizität vermittelt, einer Ahnung der Wirklichkeit, aus tausend persönlichen kleinen Wirklichkeiten zusammengesetzt. Den Auftakt jedes Tages machen in der Regel die Schriftsteller aus aller Welt, Thomas Mann in Pacific Palisades, Ernst Jünger in Paris, Julien Green in Baltimore, dann Berichte von der Front, vom Kriegsgeschehen auf beiden Seiten, Feldpostbriefe aus der Heimat, anfeuernd, sehnsüchtig, verzagt, Schilderungen aus dem eingekesselten Leningrad, vom tausendfachen Hungertod, Schilderungen, die keiner, der sie einmal gelesen hat, je wird vergessen können. Und zum Ende jedes Tages die kühlen, sachlichen Berichte Adam Czerniakóws, des Vorsitzenden des Judenrates, aus dem Warschauer Ghetto und ein kurzer Vermerk Danuta Czechs aus dem Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau über die neuen Häftlinge.
Es ist alles da, in allen Tonlagen, an allen Fronten, der Krieg, der Kampf, der unendliche Schrecken, der sich im Buch von Seite zu Seite weitet, immer weiter, bis dahin, wo kaum ein Berichterstatter vorher hingesehen und mitgeschrieben hat. Der Krieg Deutschlands gegen die Sowjetunion wurde mitgeschrieben. Und Kempowski läßt uns lesen. Alles.
Als der Schriftsteller W. G. Sebald vor einigen Jahren beklagte, daß die deutsche Nachkriegsliteratur die Bombardierung deutscher Städte schmählich vernachlässigt habe, da holte Kempowski kühl noch einmal sein erstes "Echolot" hervor, stellte für die Überleser die Passagen zum Luftkrieg noch einmal separat zusammen, erklärte knapp: Hier, der Luftkrieg in der deutschen Literatur, ich habe es schon längst zusammengeschrieben. Und auch das Bekenntnis eines Mißerinnerns, zu dem sich sein Generationsgenosse Günter Grass jetzt hinreißen ließ, kann Walter Kempowski nicht passieren. Er ist der Geschichtsigel, der immer schon dagewesen ist, wenn die anderen Erinnerungswettläufer mit ihren Büchern japsend ankommen. Sein Echolot hat es schon ausgehorcht, bis auf den Grund.
Und auch wenn der Gefreite Reinhold Pabel mit seinen Worten recht hat: "Der Krieg ist anders als im Buch, in jedem realistischen nicht ausgenommen", so ist mit "Barbarossa '41" doch wieder ein Buch zu lesen, das dieser Wirklichkeit wenigstens am nächsten kommt.
Walter Kempowski: "Das Echolot". Barbarossa '41. Ein kollektives Tagebuch. Albrecht Knaus Verlag, München 2002. 732 S., geb., 49,90
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"'Das Echolot' ist und bleibt ein einzigartiges Unterfangen." Volker Hage, DER SPIEGEL