Vom 12. Januar bis zur Bombardierung Dresdens am 13. und 14. Februar 1945: Mit "Das Echolot. Fuga furiosa" führt Walter Kempowski sein großartiges Werk literarischer Vergangenheitsbewältigung fort.
Winter 1945: Niederlage oder Befreiung für die Deutschen? Was sich im Januar 1945 unwiderruflich ankündigte, das Ende der nationalsozialistischen Herrschaft, ist nach fast 60 Jahren noch immer Gegenstand heftiger Diskussionen. In seinem "Echolot. Fuga furiosa" rekonstruiert Walter Kempowski aus Tagebüchern und Briefen, aus politischen Dokumenten und Berichten minutiös die Ereignisse der Wochen vom 12. Januar bis zum 14. Februar 1945. Prominente Zeitzeugen kommen dabei ebenso zu Wort wie viele Unbekannte.
Walter Kempowski rekonstruiert so einen verhängnisvollen Abschnitt deutscher Geschichte, vorurteilsfrei und jenseits aller ideologischer Barrieren. "Was Walter Kempowski hier unternimmt, ist so wagemutig und sammelwütig, dass einem vor dieser historischen Eigernordwand der Atem gefriert ..." Fritz J. Raddatz, Die Zeit
Winter 1945: Niederlage oder Befreiung für die Deutschen? Was sich im Januar 1945 unwiderruflich ankündigte, das Ende der nationalsozialistischen Herrschaft, ist nach fast 60 Jahren noch immer Gegenstand heftiger Diskussionen. In seinem "Echolot. Fuga furiosa" rekonstruiert Walter Kempowski aus Tagebüchern und Briefen, aus politischen Dokumenten und Berichten minutiös die Ereignisse der Wochen vom 12. Januar bis zum 14. Februar 1945. Prominente Zeitzeugen kommen dabei ebenso zu Wort wie viele Unbekannte.
Walter Kempowski rekonstruiert so einen verhängnisvollen Abschnitt deutscher Geschichte, vorurteilsfrei und jenseits aller ideologischer Barrieren. "Was Walter Kempowski hier unternimmt, ist so wagemutig und sammelwütig, dass einem vor dieser historischen Eigernordwand der Atem gefriert ..." Fritz J. Raddatz, Die Zeit
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.03.2002Als der Geschichte der Atem gefror
Walter Kempowskis Rußlandfeldzug / Von Volker Weidermann
Es ist ein Frühling der Erinnerung. In der deutschsprachigen Literatur dieses Jahresbeginns hat ein großes, zeitgeschichtliches Erinnern eingesetzt wie lange nicht mehr. Günter Grass bekennt, sich jahrelang lückenhaft erinnert und die Geschichte der Vertreibung der Deutschen zu Unrecht in seinen Büchern verschwiegen zu haben, Autoren aller Generationen aus dem Osten Deutschlands schreiben ihre Versionen des Mauerfalls und der letzten Jahre der DDR, und auch der 11. September ist schon mehrfach Gegenstand der Literatur geworden. Es ist ein Rückversicherungs-, ein Bekenntnis-, ein Deutungsfrühling in der Literatur. Die Geschichte wird in Geschichten gesichert und das Individuum sucht und findet seinen Ort während der großen und kleinen Weltenwenden in der privaten Erinnerung.
Ein solcher Frühling ist der Frühling Walter Kempowskis. Spätestens seit der Veröffentlichung der ersten vier Bände seines "Echolots" im November 1993, jenes kollektiven Tagebuchs aus den Kriegsmonaten Januar und Februar 1943, gilt er als der Bewahrer der großen Geschichte mittels Archivierung der kleinen Geschichten. Kempowski läßt Debatten über die Deutungshoheit der Historie rasch verstummen, indem er sie in unendlich viele kleine, parallele Alltagshistorien aufteilt und gleichberechtigt nebeneinander präsentiert: ein kollektives Tagebuch der Welt oder jenes Teiles der Welt immerhin, den Kempowskis Sammelwut bislang erreichte. Jene Sammelwut, die alles bewahren will und inzwischen im heimatlichen Nartum zu einem unüberschaubaren Weltarchiv geführt haben soll, in dem sich nur noch der Erinnerungskönig selbst und seine engsten Weltarchivmitarbeiter zurechtfinden können.
Aus diesem Archiv hat Kempowski jetzt einen neuen Zeitausschnitt herausgelöst und in einem weiteren Echolot-Band zusammengestellt. Er heißt "Barbarossa '41" und umfaßt das erste halbe Jahr des Kriegs, den Deutschland gegen die Sowjetunion führte. Der 22. Juni 1941 - was war das für ein Tag, an dem der "Barbarossa-Feldzug" begann und der große Krieg in seine vorentscheidende Phase trat?
Ein wunderbarer Morgen. Der Duft von Rosen, Heu und Flieder hängt in der Luft", schreibt der englische Diplomat und Schriftsteller Harold Nicolson in Kent in sein Tagebuch. "Der Führer macht eine kleine Spazierfahrt", schreibt Joseph Goebbels, "07.00 Abmarsch. Grenzüberschreitung", notiert der Gefreite Feldmann in Litauen, "Der Feind ist anscheinend auf ganzer Linie taktisch überrascht", meldet General Franz Halder in Berlin, der Unteroffizier Hans Schmitz schreibt von der Front am Bug: "Unsere Flugzeuge sind recht fleißig. Wir empfangen in aller Ruhe Kaffee. Mir geht's gut." Alexander Grusdew freut sich in Leningrad auf das Spiel seiner Lieblingsfußballmannschaft, die um sechs Uhr abends antritt. Der diensthabende General im Kreml weigert sich in der Nacht, Stalin zu wecken, und ist erst durch die Nachricht "Die Deutschen bombardieren unsere Städte" dazu zu überreden, auf den Gesichtern von Churchill, Eden und Winant zeigt sich beim Aufwecken in London ein "Lächeln der Genugtuung", wie der Privatsekretär Winston Churchills, John Colville, notiert. Um halb drei Uhr nachts ist "der Führer sehr ernst", wie Goebbels schreibt, und will noch ein paar Stunden schlafen. Goebbels schläft auch, hört zuvor noch erste Vogelstimmen im Garten und vermerkt: "Der Atem der Geschichte ist hörbar."
"Was ist das heute für ein schwarzer Tag", schreibt der Schriftsteller Emil Barth in Xanten. "Heute wunderbarer Sonntag. Herrlicher Sonnenschein, heiß und windstill", der Oberstabsarzt Willi Lindenbach in Gummersbach. "Vom Ausgang dieses großen, historischen Kampfes hängt das Wohlergehen der ganzen Menschheit ab", schreibt der sechzehnjährige Jurij Rjabinkin in Leningrad. Beim Schlafengehen in London wiederholt Churchill mehrfach, wie wundervoll es sei, daß Rußland jetzt gegen Deutschland kämpfen müsse, und sein Sekretär notiert: "Ich habe noch nie einen solchen erfreulichen Abend verbracht."
So klingen die ersten Takte des neuen Geschichtskonzertes, interpretiert vom Weltereignisdirigenten Walter Kempowski. Ein scheinbar wirres, dissonantes Nebeneinander von Stimmungen, Erlebnissen an der Front, in der Heimat, am Bett der Macht. Die Vögel singen, das Wetter ist gut, ein neuer Krieg beginnt, nur wenige ahnen, was das heißen wird. Es ist die Kunst Kempowskis, aus diesem dissonanten Nebeneinander im Verlaufe des Buches ein Geschichtsbild entstehen zu lassen, das tatsächlich den Eindruck einer Art Authentizität vermittelt, einer Ahnung der Wirklichkeit, aus tausend persönlichen kleinen Wirklichkeiten zusammengesetzt. Den Auftakt jedes Tages machen in der Regel die Schriftsteller aus aller Welt, Thomas Mann in Pacific Palisades, Ernst Jünger in Paris, Julien Green in Baltimore, dann Berichte von der Front, vom Kriegsgeschehen auf beiden Seiten, Feldpostbriefe aus der Heimat, anfeuernd, sehnsüchtig, verzagt, Schilderungen aus dem eingekesselten Leningrad, vom tausendfachen Hungertod, Schilderungen, die keiner, der sie einmal gelesen hat, je wird vergessen können. Und zum Ende jedes Tages die kühlen, sachlichen Berichte Adam Czerniakóws, des Vorsitzenden des Judenrates, aus dem Warschauer Ghetto und ein kurzer Vermerk Danuta Czechs aus dem Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau über die neuen Häftlinge.
Es ist alles da, in allen Tonlagen, an allen Fronten, der Krieg, der Kampf, der unendliche Schrecken, der sich im Buch von Seite zu Seite weitet, immer weiter, bis dahin, wo kaum ein Berichterstatter vorher hingesehen und mitgeschrieben hat. Der Krieg Deutschlands gegen die Sowjetunion wurde mitgeschrieben. Und Kempowski läßt uns lesen. Alles.
Als der Schriftsteller W. G. Sebald vor einigen Jahren beklagte, daß die deutsche Nachkriegsliteratur die Bombardierung deutscher Städte schmählich vernachlässigt habe, da holte Kempowski kühl noch einmal sein erstes "Echolot" hervor, stellte für die Überleser die Passagen zum Luftkrieg noch einmal separat zusammen, erklärte knapp: Hier, der Luftkrieg in der deutschen Literatur, ich habe es schon längst zusammengeschrieben. Und auch das Bekenntnis eines Mißerinnerns, zu dem sich sein Generationsgenosse Günter Grass jetzt hinreißen ließ, kann Walter Kempowski nicht passieren. Er ist der Geschichtsigel, der immer schon dagewesen ist, wenn die anderen Erinnerungswettläufer mit ihren Büchern japsend ankommen. Sein Echolot hat es schon ausgehorcht, bis auf den Grund.
Und auch wenn der Gefreite Reinhold Pabel mit seinen Worten recht hat: "Der Krieg ist anders als im Buch, in jedem realistischen nicht ausgenommen", so ist mit "Barbarossa '41" doch wieder ein Buch zu lesen, das dieser Wirklichkeit wenigstens am nächsten kommt.
Walter Kempowski: "Das Echolot". Barbarossa '41. Ein kollektives Tagebuch. Albrecht Knaus Verlag, München 2002. 732 S., geb., 49,90.
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Walter Kempowskis Rußlandfeldzug / Von Volker Weidermann
Es ist ein Frühling der Erinnerung. In der deutschsprachigen Literatur dieses Jahresbeginns hat ein großes, zeitgeschichtliches Erinnern eingesetzt wie lange nicht mehr. Günter Grass bekennt, sich jahrelang lückenhaft erinnert und die Geschichte der Vertreibung der Deutschen zu Unrecht in seinen Büchern verschwiegen zu haben, Autoren aller Generationen aus dem Osten Deutschlands schreiben ihre Versionen des Mauerfalls und der letzten Jahre der DDR, und auch der 11. September ist schon mehrfach Gegenstand der Literatur geworden. Es ist ein Rückversicherungs-, ein Bekenntnis-, ein Deutungsfrühling in der Literatur. Die Geschichte wird in Geschichten gesichert und das Individuum sucht und findet seinen Ort während der großen und kleinen Weltenwenden in der privaten Erinnerung.
Ein solcher Frühling ist der Frühling Walter Kempowskis. Spätestens seit der Veröffentlichung der ersten vier Bände seines "Echolots" im November 1993, jenes kollektiven Tagebuchs aus den Kriegsmonaten Januar und Februar 1943, gilt er als der Bewahrer der großen Geschichte mittels Archivierung der kleinen Geschichten. Kempowski läßt Debatten über die Deutungshoheit der Historie rasch verstummen, indem er sie in unendlich viele kleine, parallele Alltagshistorien aufteilt und gleichberechtigt nebeneinander präsentiert: ein kollektives Tagebuch der Welt oder jenes Teiles der Welt immerhin, den Kempowskis Sammelwut bislang erreichte. Jene Sammelwut, die alles bewahren will und inzwischen im heimatlichen Nartum zu einem unüberschaubaren Weltarchiv geführt haben soll, in dem sich nur noch der Erinnerungskönig selbst und seine engsten Weltarchivmitarbeiter zurechtfinden können.
Aus diesem Archiv hat Kempowski jetzt einen neuen Zeitausschnitt herausgelöst und in einem weiteren Echolot-Band zusammengestellt. Er heißt "Barbarossa '41" und umfaßt das erste halbe Jahr des Kriegs, den Deutschland gegen die Sowjetunion führte. Der 22. Juni 1941 - was war das für ein Tag, an dem der "Barbarossa-Feldzug" begann und der große Krieg in seine vorentscheidende Phase trat?
Ein wunderbarer Morgen. Der Duft von Rosen, Heu und Flieder hängt in der Luft", schreibt der englische Diplomat und Schriftsteller Harold Nicolson in Kent in sein Tagebuch. "Der Führer macht eine kleine Spazierfahrt", schreibt Joseph Goebbels, "07.00 Abmarsch. Grenzüberschreitung", notiert der Gefreite Feldmann in Litauen, "Der Feind ist anscheinend auf ganzer Linie taktisch überrascht", meldet General Franz Halder in Berlin, der Unteroffizier Hans Schmitz schreibt von der Front am Bug: "Unsere Flugzeuge sind recht fleißig. Wir empfangen in aller Ruhe Kaffee. Mir geht's gut." Alexander Grusdew freut sich in Leningrad auf das Spiel seiner Lieblingsfußballmannschaft, die um sechs Uhr abends antritt. Der diensthabende General im Kreml weigert sich in der Nacht, Stalin zu wecken, und ist erst durch die Nachricht "Die Deutschen bombardieren unsere Städte" dazu zu überreden, auf den Gesichtern von Churchill, Eden und Winant zeigt sich beim Aufwecken in London ein "Lächeln der Genugtuung", wie der Privatsekretär Winston Churchills, John Colville, notiert. Um halb drei Uhr nachts ist "der Führer sehr ernst", wie Goebbels schreibt, und will noch ein paar Stunden schlafen. Goebbels schläft auch, hört zuvor noch erste Vogelstimmen im Garten und vermerkt: "Der Atem der Geschichte ist hörbar."
"Was ist das heute für ein schwarzer Tag", schreibt der Schriftsteller Emil Barth in Xanten. "Heute wunderbarer Sonntag. Herrlicher Sonnenschein, heiß und windstill", der Oberstabsarzt Willi Lindenbach in Gummersbach. "Vom Ausgang dieses großen, historischen Kampfes hängt das Wohlergehen der ganzen Menschheit ab", schreibt der sechzehnjährige Jurij Rjabinkin in Leningrad. Beim Schlafengehen in London wiederholt Churchill mehrfach, wie wundervoll es sei, daß Rußland jetzt gegen Deutschland kämpfen müsse, und sein Sekretär notiert: "Ich habe noch nie einen solchen erfreulichen Abend verbracht."
So klingen die ersten Takte des neuen Geschichtskonzertes, interpretiert vom Weltereignisdirigenten Walter Kempowski. Ein scheinbar wirres, dissonantes Nebeneinander von Stimmungen, Erlebnissen an der Front, in der Heimat, am Bett der Macht. Die Vögel singen, das Wetter ist gut, ein neuer Krieg beginnt, nur wenige ahnen, was das heißen wird. Es ist die Kunst Kempowskis, aus diesem dissonanten Nebeneinander im Verlaufe des Buches ein Geschichtsbild entstehen zu lassen, das tatsächlich den Eindruck einer Art Authentizität vermittelt, einer Ahnung der Wirklichkeit, aus tausend persönlichen kleinen Wirklichkeiten zusammengesetzt. Den Auftakt jedes Tages machen in der Regel die Schriftsteller aus aller Welt, Thomas Mann in Pacific Palisades, Ernst Jünger in Paris, Julien Green in Baltimore, dann Berichte von der Front, vom Kriegsgeschehen auf beiden Seiten, Feldpostbriefe aus der Heimat, anfeuernd, sehnsüchtig, verzagt, Schilderungen aus dem eingekesselten Leningrad, vom tausendfachen Hungertod, Schilderungen, die keiner, der sie einmal gelesen hat, je wird vergessen können. Und zum Ende jedes Tages die kühlen, sachlichen Berichte Adam Czerniakóws, des Vorsitzenden des Judenrates, aus dem Warschauer Ghetto und ein kurzer Vermerk Danuta Czechs aus dem Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau über die neuen Häftlinge.
Es ist alles da, in allen Tonlagen, an allen Fronten, der Krieg, der Kampf, der unendliche Schrecken, der sich im Buch von Seite zu Seite weitet, immer weiter, bis dahin, wo kaum ein Berichterstatter vorher hingesehen und mitgeschrieben hat. Der Krieg Deutschlands gegen die Sowjetunion wurde mitgeschrieben. Und Kempowski läßt uns lesen. Alles.
Als der Schriftsteller W. G. Sebald vor einigen Jahren beklagte, daß die deutsche Nachkriegsliteratur die Bombardierung deutscher Städte schmählich vernachlässigt habe, da holte Kempowski kühl noch einmal sein erstes "Echolot" hervor, stellte für die Überleser die Passagen zum Luftkrieg noch einmal separat zusammen, erklärte knapp: Hier, der Luftkrieg in der deutschen Literatur, ich habe es schon längst zusammengeschrieben. Und auch das Bekenntnis eines Mißerinnerns, zu dem sich sein Generationsgenosse Günter Grass jetzt hinreißen ließ, kann Walter Kempowski nicht passieren. Er ist der Geschichtsigel, der immer schon dagewesen ist, wenn die anderen Erinnerungswettläufer mit ihren Büchern japsend ankommen. Sein Echolot hat es schon ausgehorcht, bis auf den Grund.
Und auch wenn der Gefreite Reinhold Pabel mit seinen Worten recht hat: "Der Krieg ist anders als im Buch, in jedem realistischen nicht ausgenommen", so ist mit "Barbarossa '41" doch wieder ein Buch zu lesen, das dieser Wirklichkeit wenigstens am nächsten kommt.
Walter Kempowski: "Das Echolot". Barbarossa '41. Ein kollektives Tagebuch. Albrecht Knaus Verlag, München 2002. 732 S., geb., 49,90
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"'Das Echolot' ist und bleibt ein einzigartiges Unterfangen." Volker Hage, DER SPIEGEL