Unser Gehirn ist ein egoistischer Despot. Kommt es in Versorgungsnot, können wir noch so entschlossen sein, eine Diät einzuhalten - unser egoistisches Gehirn wird etwas dagegen haben und seine eigenen Energieansprüche sogar gegen unseren Willen durchsetzen. Das hat der renommierte Hirnforscher und Internist Professor Dr. Achim Peters in weltweit einzigartigen Studien nachgewiesen. Bei Stress reicht die übliche Energie für unser Gehirn nicht aus - wir essen mehr, um es gut zu versorgen. Wenn wir uns aber an Dauerstress gewöhnen, kann das fatale Folgen haben: Wir werden dick und bekommen die überflüssigen Kilos nicht wieder los. Hier berichtet Peters erstmals, auf welchen Forschungen seine sensationellen Erkenntnisse fußen und wie das Gehirn der Schlüssel für erfolgreiche Therapien sein kann. Dieses Buch ist eine aufregende Entdeckungsreise zu uns selbst.Informieren Sie sich auch bei unserem Kooperationspartner www.diabetesDE.org.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 01.06.2011Das Dickwerden beginnt im Gehirn
Es ist ein selbstsüchtiges Organ, das uns zum Essen zwingt. Der Zucker im Hirn zählt. Deshalb hilft möglicherweise der klassische Blutzucker-Rechner dem Diabetiker wenig.
Seit kurzem gibt es einen Blutzuckerrechner als App für Diabetiker. Damit soll die Blutzuckereinstellung noch weiter perfektioniert werden. Was als fortschrittliche Indienstnahme neuester Technik daherkommt, erweist sich als unsinnig, wenn man es im Lichte der Erkenntnisse betrachtet, die Achim Peters über unser egoistisches Gehirn zusammengetragen hat. Seine Kernbotschaft: Nicht der Blutzucker, sondern der Gehirnzucker bestimmt, wie viel wir essen und ob wir dick und Diabetiker werden. Das Gehirn bedient sich im Zweifelsfalle stets als Erstes. So werden unter extremen Hungerbedingungen die inneren Organe bis um 40 Prozent leichter. Das Gehirn zehrt indes nicht aus - es verliert allenfalls bis zu zwei Prozent Gewicht. Schon das Ungeborene im Mutterleib braucht die Hälfte aller Energie für sein Gehirn. Ein Erwachsener muss seiner Nervensteuerzentrale pro Tag eine Tasse Zucker zubilligen, von durchschnittlich 200 Gramm Glukose beansprucht das Gehirn allein für sich selbst täglich 130 Gramm.
Glukose ist die einzige Energiewährung, die das Gehirn akzeptiert - von Ketonkörpern im Hunger einmal abgesehen. Aber es kann diesen Zucker nicht selbst herstellen, ist mithin darauf angewiesen, dass er vom Blut durch die Bluthirnschranke ins Gehirnwasser und zu den Nervenzellen gelangt. Um das zu gewährleisten, gibt es den Brain-pull - das Gehirn zieht Glukose aus dem Blut. Der ist bedeutsam, weil bei Unterzuckerung, wenn Glukose im Gehirn knapp wird, Ohnmacht und Koma drohen. Bei alldem ist der Umstand entscheidend, dass das blutzuckersenkende Hormon Insulin zwar dazu nötig ist, Zucker aus dem Blut in andere Organe zu transportieren. Das Gehirn nimmt indes unabhängig vom Insulin Zucker auf. Das erlaubt ihm, von hohem Blutzucker zu profitieren. Es ist, was das angeht, zudem mit einer Machtfülle ausgestattet, die dem übrigen Körper nicht immer guttut. Denn wenn der Brain-pull nicht richtig arbeitet, im Gehirn nicht genug Glukose ankommt, kann dieses selbstherrlich über eine ausgeklügelte Hormon-Botenstoff-Befehlskaskade den Blutzucker erhöhen. Notfalls wird dann eben der Body-pull aktiviert, der Organismus führt Nahrung zu, oder schließlich der Such-pull, er geht auf Nahrungssuche. Heutzutage ist das Einkaufen. In jedem Fall, so Peters, beginne das übermäßige Essen mit einem gestörten Body-pull. Wenn der funktioniere, esse niemand zu viel, egal, welches Nahrungsangebot zur Verfügung stehe.
Das Konzept hat an jenen Punkten viel für sich, wo es die Widersprüche herkömmlicher Hypothesen offenlegt. So lässt sich kaum verstehen, warum Übergewichtige ständig immer mehr essen, wo sie doch sogar einen überhöhten Blutzucker aufweisen und überdies ihre Fettdepots übervoll sind. Das müsste eigentlich den Appetit im Zaum halten. Das versteht man viel besser, wenn man erkennt, dass an der entscheidenden Stellschraube, nämlich im Gehirn, zu wenig vom Überangebot ankommt. Peters weist mit Recht auf das entscheidende Dilemma der modernen Insulintherapie unter dem Postulat "normaler" Blutzuckerwerte hin. Insulin schaufelt die Glukose in die Organe und sorgt für ständig wachsende Energiedepots, aber im Gehirn kommt nicht genug an. Dieses spürt Mangel, kann es doch bei defektem Brain-pull nur mit überhöhten Blutzuckerwerten froh werden.
Der Diabetiker isst umso mehr. Die Insulintherapie zwingt ihn gleichsam, noch mehr zuzunehmen. Das ist ein klinischer Befund, den Diabetesfachärzte nur zu gut kennen. Unmittelbar leuchtet so dem übergewichtigen Laien auch ein, dass er mit jedweder Diät einen Krieg beginnt, in dem er allenfalls einzelne Schlachten gewinnen kann. Das Gehirn ist auf Dauer ein unerbittlicher Gegner, es kann die Ressource Glukose nicht versiegen lassen.
Insofern lässt sich aus diesem Buch viel lernen, gerade weil deutlich wird, dass die Deutungshoheit über die Entstehung von Übergewicht und Diabetes von verschiedenen Schulen beansprucht wird. Der Leser sollte dafür auch so manche bemüht klingende Metapher, die nicht wirklich stimmig ist, in Kauf nehmen, ebenso die zum Teil wenig erhellenden Verweise auf schöngeistige Literatur. Ein echter Nachteil ist indes der Versuch, mit Brain-, Body- und Such-pull letztlich alles zu erklären.
Neue Hypothesen wirken euphorisierend - sie sind gleichwohl ebenfalls nur Konstrukte, die so manches, aber eben nicht alles besser erklären. So gibt es beispielsweise Kinder, die mit einem angeborenen Mangel eines Glukose-Transportergens geboren werden, so dass ständig zu wenig Glukose in ihr Gehirn gelangt. Sie essen keineswegs ungezügelt und sind auch nicht übergewichtig, die Krankheit zeigt sich ganz anders. Sodann kann das Konzept nicht wirklich erklären, warum wir seit den letzten Jahrzehnten eine Adipositasepidemie nie gekannten Ausmaßes beobachten. Es müsste also Umstände geben, die heute den Brain-pull um ein Vielfaches häufiger stören als je in der Geschichte der Menschheit zuvor.
Als Ursache eines gestörten Brain-pulls nennt Peters zum Beispiel seltene Hirnkrankheiten, Tumore oder Schlaganfälle. Das allein reicht jedoch nicht, das grassierende Übergewicht zu erklären. Daher soll es der Stress sein, der das flächendeckende Versagen des Brain-pull beim modernen Menschen erklärt, und hier überzeugt das Buch am allerwenigsten. Denn unsere Vorfahren hatten auch Stress und wurden überwiegend nicht dick. Da reicht auch nicht, wenn sich der Autor als vergleichender Paläoanthropologe versucht: Den Steinzeitstress mit dem Säbelzahntiger habe man durch Flucht oder Kampf abbauen können, bei Mobbing im Büro und künstlichem Stress durch Computerspiele sei das eben schwieriger. Außerdem listet der Autor selbst Stressursachen wie Krieg, Verlust von nahen Angehörigen, ungewisse Zeitläufte, Angst um den Broterwerb, beengte Wohnverhältnisse auf, die man sicher auch in anderen Zeitaltern ausmachen kann. Man darf eben den Umstand nicht übersehen, dass heutzutage anders als je zuvor allenthalben billige Süßwaren und rasch anflutende Kohlenhydrate für jeden erreichbar sind und ständig zur Verfügung stehen. Das ist in Kombination mit einem egoistischen Gehirn womöglich eine denkbar ungünstige Konstellation.
MARTINA LENZEN-SCHULTE
Achim Peters: "Das egoistische Gehirn. Warum unser Kopf Diäten sabotiert und gegen den eigenen Körper kämpft". Ullstein Verlag, Berlin 2011, 256 S., 19,99 Euro.
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Es ist ein selbstsüchtiges Organ, das uns zum Essen zwingt. Der Zucker im Hirn zählt. Deshalb hilft möglicherweise der klassische Blutzucker-Rechner dem Diabetiker wenig.
Seit kurzem gibt es einen Blutzuckerrechner als App für Diabetiker. Damit soll die Blutzuckereinstellung noch weiter perfektioniert werden. Was als fortschrittliche Indienstnahme neuester Technik daherkommt, erweist sich als unsinnig, wenn man es im Lichte der Erkenntnisse betrachtet, die Achim Peters über unser egoistisches Gehirn zusammengetragen hat. Seine Kernbotschaft: Nicht der Blutzucker, sondern der Gehirnzucker bestimmt, wie viel wir essen und ob wir dick und Diabetiker werden. Das Gehirn bedient sich im Zweifelsfalle stets als Erstes. So werden unter extremen Hungerbedingungen die inneren Organe bis um 40 Prozent leichter. Das Gehirn zehrt indes nicht aus - es verliert allenfalls bis zu zwei Prozent Gewicht. Schon das Ungeborene im Mutterleib braucht die Hälfte aller Energie für sein Gehirn. Ein Erwachsener muss seiner Nervensteuerzentrale pro Tag eine Tasse Zucker zubilligen, von durchschnittlich 200 Gramm Glukose beansprucht das Gehirn allein für sich selbst täglich 130 Gramm.
Glukose ist die einzige Energiewährung, die das Gehirn akzeptiert - von Ketonkörpern im Hunger einmal abgesehen. Aber es kann diesen Zucker nicht selbst herstellen, ist mithin darauf angewiesen, dass er vom Blut durch die Bluthirnschranke ins Gehirnwasser und zu den Nervenzellen gelangt. Um das zu gewährleisten, gibt es den Brain-pull - das Gehirn zieht Glukose aus dem Blut. Der ist bedeutsam, weil bei Unterzuckerung, wenn Glukose im Gehirn knapp wird, Ohnmacht und Koma drohen. Bei alldem ist der Umstand entscheidend, dass das blutzuckersenkende Hormon Insulin zwar dazu nötig ist, Zucker aus dem Blut in andere Organe zu transportieren. Das Gehirn nimmt indes unabhängig vom Insulin Zucker auf. Das erlaubt ihm, von hohem Blutzucker zu profitieren. Es ist, was das angeht, zudem mit einer Machtfülle ausgestattet, die dem übrigen Körper nicht immer guttut. Denn wenn der Brain-pull nicht richtig arbeitet, im Gehirn nicht genug Glukose ankommt, kann dieses selbstherrlich über eine ausgeklügelte Hormon-Botenstoff-Befehlskaskade den Blutzucker erhöhen. Notfalls wird dann eben der Body-pull aktiviert, der Organismus führt Nahrung zu, oder schließlich der Such-pull, er geht auf Nahrungssuche. Heutzutage ist das Einkaufen. In jedem Fall, so Peters, beginne das übermäßige Essen mit einem gestörten Body-pull. Wenn der funktioniere, esse niemand zu viel, egal, welches Nahrungsangebot zur Verfügung stehe.
Das Konzept hat an jenen Punkten viel für sich, wo es die Widersprüche herkömmlicher Hypothesen offenlegt. So lässt sich kaum verstehen, warum Übergewichtige ständig immer mehr essen, wo sie doch sogar einen überhöhten Blutzucker aufweisen und überdies ihre Fettdepots übervoll sind. Das müsste eigentlich den Appetit im Zaum halten. Das versteht man viel besser, wenn man erkennt, dass an der entscheidenden Stellschraube, nämlich im Gehirn, zu wenig vom Überangebot ankommt. Peters weist mit Recht auf das entscheidende Dilemma der modernen Insulintherapie unter dem Postulat "normaler" Blutzuckerwerte hin. Insulin schaufelt die Glukose in die Organe und sorgt für ständig wachsende Energiedepots, aber im Gehirn kommt nicht genug an. Dieses spürt Mangel, kann es doch bei defektem Brain-pull nur mit überhöhten Blutzuckerwerten froh werden.
Der Diabetiker isst umso mehr. Die Insulintherapie zwingt ihn gleichsam, noch mehr zuzunehmen. Das ist ein klinischer Befund, den Diabetesfachärzte nur zu gut kennen. Unmittelbar leuchtet so dem übergewichtigen Laien auch ein, dass er mit jedweder Diät einen Krieg beginnt, in dem er allenfalls einzelne Schlachten gewinnen kann. Das Gehirn ist auf Dauer ein unerbittlicher Gegner, es kann die Ressource Glukose nicht versiegen lassen.
Insofern lässt sich aus diesem Buch viel lernen, gerade weil deutlich wird, dass die Deutungshoheit über die Entstehung von Übergewicht und Diabetes von verschiedenen Schulen beansprucht wird. Der Leser sollte dafür auch so manche bemüht klingende Metapher, die nicht wirklich stimmig ist, in Kauf nehmen, ebenso die zum Teil wenig erhellenden Verweise auf schöngeistige Literatur. Ein echter Nachteil ist indes der Versuch, mit Brain-, Body- und Such-pull letztlich alles zu erklären.
Neue Hypothesen wirken euphorisierend - sie sind gleichwohl ebenfalls nur Konstrukte, die so manches, aber eben nicht alles besser erklären. So gibt es beispielsweise Kinder, die mit einem angeborenen Mangel eines Glukose-Transportergens geboren werden, so dass ständig zu wenig Glukose in ihr Gehirn gelangt. Sie essen keineswegs ungezügelt und sind auch nicht übergewichtig, die Krankheit zeigt sich ganz anders. Sodann kann das Konzept nicht wirklich erklären, warum wir seit den letzten Jahrzehnten eine Adipositasepidemie nie gekannten Ausmaßes beobachten. Es müsste also Umstände geben, die heute den Brain-pull um ein Vielfaches häufiger stören als je in der Geschichte der Menschheit zuvor.
Als Ursache eines gestörten Brain-pulls nennt Peters zum Beispiel seltene Hirnkrankheiten, Tumore oder Schlaganfälle. Das allein reicht jedoch nicht, das grassierende Übergewicht zu erklären. Daher soll es der Stress sein, der das flächendeckende Versagen des Brain-pull beim modernen Menschen erklärt, und hier überzeugt das Buch am allerwenigsten. Denn unsere Vorfahren hatten auch Stress und wurden überwiegend nicht dick. Da reicht auch nicht, wenn sich der Autor als vergleichender Paläoanthropologe versucht: Den Steinzeitstress mit dem Säbelzahntiger habe man durch Flucht oder Kampf abbauen können, bei Mobbing im Büro und künstlichem Stress durch Computerspiele sei das eben schwieriger. Außerdem listet der Autor selbst Stressursachen wie Krieg, Verlust von nahen Angehörigen, ungewisse Zeitläufte, Angst um den Broterwerb, beengte Wohnverhältnisse auf, die man sicher auch in anderen Zeitaltern ausmachen kann. Man darf eben den Umstand nicht übersehen, dass heutzutage anders als je zuvor allenthalben billige Süßwaren und rasch anflutende Kohlenhydrate für jeden erreichbar sind und ständig zur Verfügung stehen. Das ist in Kombination mit einem egoistischen Gehirn womöglich eine denkbar ungünstige Konstellation.
MARTINA LENZEN-SCHULTE
Achim Peters: "Das egoistische Gehirn. Warum unser Kopf Diäten sabotiert und gegen den eigenen Körper kämpft". Ullstein Verlag, Berlin 2011, 256 S., 19,99 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Aufräumen will Achim Peters mit Mythen zum Übergewicht. Als Drahtzieher von Fressattacken und Streifzügen durch die Süßigkeitenregale macht er das Hirn aus, das nach geradezu unendlicher Zuckerzufuhr giert und darum die Knöpfe drückt, die uns Hunger bereiten. "Brain-pull" führt zu "body-pull" - und weil das so sei, sei mit den üblichen Diäten und Ratschlägen wenig getan. Im Ansatz falsch findet die Rezensentin Manuela Lenzen-Schulte das keineswegs. Jedoch hat das Buch ein nicht unübliches Problem. Peters glaubt aus seinem einen Punkt alles erklären und kurieren zu können. Dagegen spricht, wie die Rezensentin an Beispielen anführt, so manches. Bleibt immerhin: eine halbe Wahrheit, eine Einsicht, die, wer wirklich schlau daraus werden wolle, allerdings relativieren muss.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Ein anspruchsvolles und lesenswertes Buch« Die Zeit, 10.03.11 »Ein fulminantes Erklärstück über Gehintätigkeit und Nahrungsaufnahme« Falter, Kirstin Breitenfellner, 25.05.11 »Peters erklärt damit, warum Schlankheitskuren stetig scheitern und entlastet Fettleibige vom Vorwurf, sie müssten einfach disziplinierter essen, seien mithin selbst schuld an ihren Speckrollen.« Nordsee-Zeitung, Dörte Schubert, 22.03.11 »Für sehr viele Menschen wirkt die Grundaussage dieses Buches wie eine Befreiung.« Lübecker Nachrichten, Michael Hollinde, 06.04.11