Medizinische Testergebnisse enthalten für die meisten Patienten unumstößliche Wahrheiten. Ob beim HIV-Test, bei der Mammographie oder bei der Früherkennung von Prostata-Krebs: Wer käme auf die Idee, das Urteil des Arztes anzuzweifeln? Dabei gibt es erwiesenermaßen Fehlurteile und trügerische Sicherheiten - mit oft gravierenden Folgen für die Betroffenen, Folgen, die sich nach Aussage des renommierten Psychologen Gerd Gigerenzer vermeiden ließen. In seinem provokativen und durchaus politischen Buch Das Einmaleins der Skepsis zeigt Gigerenzer, wie und warum es dennoch immer wieder - und keineswegs nur in der Medizin - zu solch eklatanten Fehlurteilen kommt. Er konstatiert für die westlichen Kulturkreise ein elementares Bedürfnis nach absoluten Wahrheiten. Als Glaube an eindeutige Gewissheiten bestimmt dieses Bedürfnis die Praxis von Experten - und mehr noch die Erwartung der Laien an die moderne Technologie. Gigerenzer entlarvt diesen Glauben als eine oftmals verhängnisvolle Illusion. Hundertprozentige Gewissheit ist eine empirische Unmöglichkeit, wie die vielen Fallbeispiele von falsch-positiven Befunden aus der medizinischen und juristischen Praxis eindringlich belegen. Wie Gigerenzer feststellt, geht die Illusion vollkommener Gewissheit zudem häufig mit der nicht minder gefährlichen Unfähigkeit einher, statistisch zu denken, also mit Angaben zu Wahrscheinlichkeiten und Risiken umzugehen. Nicht nur aus den ärztlichen Untersuchungszimmern, sondern auch aus Gerichtssälen und Regierungsgremien berichtet er von schwerwiegenden Fehleinschätzungen, die alle in einem Mangel an statistischem Verständnis gründen. So aufrüttelnd und ernüchternd Gigerenzers Beispiele sind, geht es ihm doch nicht darum, Berufsgruppen zu geißeln oder den Leser zu verunsichern. Er zeigt vielmehr konkrete und frappierend einfache Möglichkeiten auf, wie sich das statistische Analphabetentum in unserer so genannten Wissensgesellschaft überwinden lässt. Verständlich und kurzwig unterbreitet Gigerenzer Vorschläge, wie der Einzelne sein Verständnis von Risiken und Wahrscheinlichkeiten verbessern kann, um letztlich den unvermeidlichen Ungewissheiten im Leben souveräner und gelassener zu begegnen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 18.10.2004Richtig liegen mit Dr. Grönemeyer
Das wird auch den sporadischen Leser, sofern er über Rückgrat verfügt, aufhorchen lassen. Auf Platz eins der Bestsellerliste steht seit dieser Woche ein Buch gegen Rückenschmerzen, genauer: ein Buch darüber, was man tun muß, um keine Rückenschmerzen zu bekommen und wie man sich am besten therapieren läßt, wenn man doch welche bekommen hat. Autor ist Professor Dietrich Grönemeyer, der Bruder des Sängers ("Mein Rückenbuch". Das sanfte Programm zwischen High Tech und Naturheilkunde. Verlag Zabert Sandmann, München 2004. 216 S., geb., 19,95 [Euro]). Grönemeyer leitet in Bochum ein dem Rücken wohlwollendes Institut, das als Privatambulanz seines Lehrstuhls für Radiologie und Mikrotherapie der Universität Witten-Herdecke angeschlossen ist. Sein Buch ist, so viel gleich zu Beginn, ein Meisterwerk der Inklusion. Hier werden Praxistips für die Trainingsmatte im Wohnzimmer effektvoll mit weitreichenden gesundheitspolitischen Forderungen verknüpft.
Der politische Kalkül des Buches liegt auf der Hand: In dem Maße, wie Grönemeyers Anleitungen zu richtigem Sitzen und richtigem Liegen breitenwirksam zünden, dürfte auch sein Appell zur Gesundheitsreform populär, ja unumkehrbar werden. Grönemeyer appelliert nämlich schon seit Jahren vergeblich an die Krankenkassen, statt sinnloser Röntgenaufnahmen doch endlich die High-Tech-Therapien zu finanzieren, die er selbst bei Rückenschmerzen für effektiv hält und in Bochum praktiziert: Kernspintomogramm und computertomographische Techniken, bildgebende Verfahren mithin, welche - richtig interpretiert - viel genauer die Rückenschäden beleuchten können als die grauen, oft kontraproduktiven Röntgenbilder.
So ist der neue Bestseller einerseits Ratgeber, andererseits aber auch ein gesundheitspolitischer Lobbyismus in eigener Sache. Der eine Aspekt schließt den anderen ein, so wie der Mediziner Grönemeyer von dem anthropologischen Bonus des Sängers Grönemeyer zehrt. Der Mensch ist Mensch, erklärt Dietrich Grönemeyer, weil er im Trainingszirkel einbeinig so weit nach unten geht, bis er unter seinem Knie die Fußmitte gerade erkennt. Der Mensch ist Mensch, weil er Rückenschwimmen betreibt, Tanzen geht und stoßweise Bewegungen vermeidet. Der Mensch ist Mensch, wenn er in Bochum seinen Rücken durch eine Kombination von westlicher High-Tech und östlicher Naturheilkunde stärkt. Diese Botschaft illustriert Grönemeyer mit einer irritationsfreien Sprache, übersichtlichen Tabellen und anmutigen Farbbildern. Die Art der Darstellung folgt dem bewährten journalistischen Traditionsstrang, welcher noch auf die Trennung von Nachricht und Kommentar Wert legt. So wird der laufende Text immer wieder durch eingerahmte, mit einem Paßbild Grönemeyers versehene Kästchen unterbrochen. In diesen Kästchen wird die Zurückhaltung im Werturteilsstreit jeweils aufgegeben und unter der Überschrift "Mein Standpunkt" Tacheles geredet (da wird dann etwa dafür plädiert, inmitten der Laborwerte "die Seele" nicht zu vergessen).
Das Buch fasziniert durch eine geheime Verheißung: Wenn es tatsächlich ein sicheres Verfahren gibt, einen so partikularen Bereich des Lebens wie den Rücken in Ordnung zu bringen, dann kann es auch um das Leben als Ganzes nicht so schlecht bestellt sein wie gedacht. In diesem Sinne ist "Mein Rückenbuch" ein philosophisches Manifest, vergleichbar Francesco Petrarcas nahezu preisgleichem Buch "Mein Geheimnis", einem fiktiven Dialog über die Möglichkeit, das verfahrene Leben in die richtige Bahn zu lenken (Francesco Petrarca: "Secretum meum". Lateinisch-Deutsch. Herausgegeben, übersetzt und mit einem Nachwort von Gerhard Regn und Bernhard Huss. Dieterich'sche Verlagsbuchhandlung, Mainz 2004. 544 S., br., 19,- [Euro]). Wie Petrarcas Geheimnis-Buch dreht sich auch Grönemeyers Rückenbuch um die Frage: Quid ergo me retinet? Was hält mich zurück, ein Leben mit Rückgrat zu führen? Wie befreie ich mich von den goldenen Fesseln, die mir die Zivilisation in Form von Schreibtischjob, Autosessel, Sex auf dem harten Bürotisch, zu weichen Matratzen daheim angelegt hat - Fesseln, die jedenfalls meine Wirbelsäule verkümmern lassen? Wie gelingt, anders gefragt, die Konversion zur Seligkeit auf Erden? Was Petrarca angesichts der beginnenden Pluralisierung von Wahrheit noch sanft in der Schwebe ließ, nimmt Grönemeyer beherzt in die Hand.
Jede zweite Röntgenuntersuchung sei überflüssig, so schreibt er, das bestätige einem sogar die Deutsche Röntgengesellschaft. Oft werde bei Rückenschmerzen nur deshalb durchleuchtet, weil Fachärzte sich ein Röntgengerät in die Praxis gestellt hätten, das sich durch häufige Anwendung amortisieren müsse. Aber müssen sich nicht auch Grönemeyers Geräte durch häufige Anwendung amortisieren? Die Kritik an den stümpernden Kollegen wäre denn auch noch durchschlagender ausgefallen, wenn Grönemeyer nicht nur die Chancen, sondern auch die Risiken seiner eigenen Therapien transparenter gemacht hätte (im Sinne von Gerd Gigerenzer: "Das Einmaleins der Skepsis". Über den richtigen Umgang mit Zahlen und Risiken. Berliner Taschenbuchverlag, Berlin 2004. 406 S., br., 10,50 [Euro]). Wir möchten dem Buch ja gerne glauben, daß viele Rückengeschädigte nach Bochum pilgern, die bereits eine Odyssee durch die Arztpraxen und Kliniken der Republik hinter sich haben. Aber wie viele von denjenigen, die in Grönemeyers Auffanglager therapiert werden, müssen dann ihrerseits wieder weiterpilgern und sich anderswo nachbehandeln lassen? Der Bestseller weiß es präzise nicht zu sagen. Dafür findet sich hinter den Bildnachweisen ganz am Ende des Buches ein Kästchen mit dem lakonischen Hinweis: eine Haftung des Autors oder des Verlags "für Personen-, Sach- oder Vermögensschäden" sei ausgeschlossen.
CHRISTIAN GEYER
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Das wird auch den sporadischen Leser, sofern er über Rückgrat verfügt, aufhorchen lassen. Auf Platz eins der Bestsellerliste steht seit dieser Woche ein Buch gegen Rückenschmerzen, genauer: ein Buch darüber, was man tun muß, um keine Rückenschmerzen zu bekommen und wie man sich am besten therapieren läßt, wenn man doch welche bekommen hat. Autor ist Professor Dietrich Grönemeyer, der Bruder des Sängers ("Mein Rückenbuch". Das sanfte Programm zwischen High Tech und Naturheilkunde. Verlag Zabert Sandmann, München 2004. 216 S., geb., 19,95 [Euro]). Grönemeyer leitet in Bochum ein dem Rücken wohlwollendes Institut, das als Privatambulanz seines Lehrstuhls für Radiologie und Mikrotherapie der Universität Witten-Herdecke angeschlossen ist. Sein Buch ist, so viel gleich zu Beginn, ein Meisterwerk der Inklusion. Hier werden Praxistips für die Trainingsmatte im Wohnzimmer effektvoll mit weitreichenden gesundheitspolitischen Forderungen verknüpft.
Der politische Kalkül des Buches liegt auf der Hand: In dem Maße, wie Grönemeyers Anleitungen zu richtigem Sitzen und richtigem Liegen breitenwirksam zünden, dürfte auch sein Appell zur Gesundheitsreform populär, ja unumkehrbar werden. Grönemeyer appelliert nämlich schon seit Jahren vergeblich an die Krankenkassen, statt sinnloser Röntgenaufnahmen doch endlich die High-Tech-Therapien zu finanzieren, die er selbst bei Rückenschmerzen für effektiv hält und in Bochum praktiziert: Kernspintomogramm und computertomographische Techniken, bildgebende Verfahren mithin, welche - richtig interpretiert - viel genauer die Rückenschäden beleuchten können als die grauen, oft kontraproduktiven Röntgenbilder.
So ist der neue Bestseller einerseits Ratgeber, andererseits aber auch ein gesundheitspolitischer Lobbyismus in eigener Sache. Der eine Aspekt schließt den anderen ein, so wie der Mediziner Grönemeyer von dem anthropologischen Bonus des Sängers Grönemeyer zehrt. Der Mensch ist Mensch, erklärt Dietrich Grönemeyer, weil er im Trainingszirkel einbeinig so weit nach unten geht, bis er unter seinem Knie die Fußmitte gerade erkennt. Der Mensch ist Mensch, weil er Rückenschwimmen betreibt, Tanzen geht und stoßweise Bewegungen vermeidet. Der Mensch ist Mensch, wenn er in Bochum seinen Rücken durch eine Kombination von westlicher High-Tech und östlicher Naturheilkunde stärkt. Diese Botschaft illustriert Grönemeyer mit einer irritationsfreien Sprache, übersichtlichen Tabellen und anmutigen Farbbildern. Die Art der Darstellung folgt dem bewährten journalistischen Traditionsstrang, welcher noch auf die Trennung von Nachricht und Kommentar Wert legt. So wird der laufende Text immer wieder durch eingerahmte, mit einem Paßbild Grönemeyers versehene Kästchen unterbrochen. In diesen Kästchen wird die Zurückhaltung im Werturteilsstreit jeweils aufgegeben und unter der Überschrift "Mein Standpunkt" Tacheles geredet (da wird dann etwa dafür plädiert, inmitten der Laborwerte "die Seele" nicht zu vergessen).
Das Buch fasziniert durch eine geheime Verheißung: Wenn es tatsächlich ein sicheres Verfahren gibt, einen so partikularen Bereich des Lebens wie den Rücken in Ordnung zu bringen, dann kann es auch um das Leben als Ganzes nicht so schlecht bestellt sein wie gedacht. In diesem Sinne ist "Mein Rückenbuch" ein philosophisches Manifest, vergleichbar Francesco Petrarcas nahezu preisgleichem Buch "Mein Geheimnis", einem fiktiven Dialog über die Möglichkeit, das verfahrene Leben in die richtige Bahn zu lenken (Francesco Petrarca: "Secretum meum". Lateinisch-Deutsch. Herausgegeben, übersetzt und mit einem Nachwort von Gerhard Regn und Bernhard Huss. Dieterich'sche Verlagsbuchhandlung, Mainz 2004. 544 S., br., 19,- [Euro]). Wie Petrarcas Geheimnis-Buch dreht sich auch Grönemeyers Rückenbuch um die Frage: Quid ergo me retinet? Was hält mich zurück, ein Leben mit Rückgrat zu führen? Wie befreie ich mich von den goldenen Fesseln, die mir die Zivilisation in Form von Schreibtischjob, Autosessel, Sex auf dem harten Bürotisch, zu weichen Matratzen daheim angelegt hat - Fesseln, die jedenfalls meine Wirbelsäule verkümmern lassen? Wie gelingt, anders gefragt, die Konversion zur Seligkeit auf Erden? Was Petrarca angesichts der beginnenden Pluralisierung von Wahrheit noch sanft in der Schwebe ließ, nimmt Grönemeyer beherzt in die Hand.
Jede zweite Röntgenuntersuchung sei überflüssig, so schreibt er, das bestätige einem sogar die Deutsche Röntgengesellschaft. Oft werde bei Rückenschmerzen nur deshalb durchleuchtet, weil Fachärzte sich ein Röntgengerät in die Praxis gestellt hätten, das sich durch häufige Anwendung amortisieren müsse. Aber müssen sich nicht auch Grönemeyers Geräte durch häufige Anwendung amortisieren? Die Kritik an den stümpernden Kollegen wäre denn auch noch durchschlagender ausgefallen, wenn Grönemeyer nicht nur die Chancen, sondern auch die Risiken seiner eigenen Therapien transparenter gemacht hätte (im Sinne von Gerd Gigerenzer: "Das Einmaleins der Skepsis". Über den richtigen Umgang mit Zahlen und Risiken. Berliner Taschenbuchverlag, Berlin 2004. 406 S., br., 10,50 [Euro]). Wir möchten dem Buch ja gerne glauben, daß viele Rückengeschädigte nach Bochum pilgern, die bereits eine Odyssee durch die Arztpraxen und Kliniken der Republik hinter sich haben. Aber wie viele von denjenigen, die in Grönemeyers Auffanglager therapiert werden, müssen dann ihrerseits wieder weiterpilgern und sich anderswo nachbehandeln lassen? Der Bestseller weiß es präzise nicht zu sagen. Dafür findet sich hinter den Bildnachweisen ganz am Ende des Buches ein Kästchen mit dem lakonischen Hinweis: eine Haftung des Autors oder des Verlags "für Personen-, Sach- oder Vermögensschäden" sei ausgeschlossen.
CHRISTIAN GEYER
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Nichts weniger als ein "Manual für die Risikogesellschaft" habe Gerd Gigerenzer geschrieben, applaudiert Michael Adrian: "ein brillant argumentierendes, lebhaft und klar geschriebenes, auch dem Laien eingängiges, im besten Sinne aufklärerisches Buch, nach dessen Lektüre man statistischen Aussagen nicht einfach mit Misstrauen, sondern mit der richtigen Art von Nachfragen begegnen wird." Seine Beispiele beziehe der Psychologe vor allem aus der Medizin. Gerade Ärzte zögen nämlich oft falsche Schlüsse aus statistischen Werten. Wider den falschen Gewissheiten, ruft Adrian mit Gigerenzer - hin zu mehr Sicherheit im Urteil.
© Perlentaucher Medien GmbH
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