Die Sozialdemokratie steckt in einer der schwersten Krisen ihrer Geschichte. Bei den letzten Bundestagswahlen musste die SPD eine herbe Schlappe einstecken. Aber nicht nur sie, sondern fast alle sozialdemokratischen Parteien in Europa sacken in der Wählergunst immer weiter nach unten ab. Was läuft da schief? Peer Steinbrück, streitbarer Sozialdemokrat und Kanzlerkandidat der SPD 2013, sucht in seinen Anmerkungen eines Genossen nach Wegen zu einer erneuerten Sozialdemokratie und nennt mit klarer Kante seine Stichworte: Einhegung des digitalen Kapitalismus, Kampf gegen die wachsende Vermögensungleichheit, Mut zu einer neuen Debatte über Identitätspolitik, Vertiefung der Europäischen Union, mehr Engagement für junge Wähler. Ralf Dahrendorf hat in einem berühmten Aufsatz über das Elend der Sozialdemokratie vor mehr als dreißig Jahren den "dritten Weg" vorgezeichnet, den Bill Clinton, Tony Blair und Gerhard Schröder dann erfolgreich gingen. Steinbrück entwirft nun eine Agenda für die Sozialdemokratie des 21. Jahrhunderts. Denn in einem sind er und seine Kritiker sich einig: Die Sozialdemokratie wird dringend gebraucht - vielleicht sogar mehr als je zuvor.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.12.2018Adieu, SPD
Peer Steinbrück über Opfer und Verlierer
Es hat Tradition, dass sich Peer Steinbrück nach Bundestagswahlen zu Wort meldet. In "Unterm Strich" (2010) ging es vor allem um die Finanzkrise, in "Vertagte Zukunft" (2015) beklagte er eine selbstzufriedene Republik, nun hat sich der SPD-Politiker zum "Elend der Sozialdemokratie" (2018) Gedanken gemacht. Die drei Bücher drehen sich auch um die Frage, weshalb die SPD keine nationalen Wahlen mehr gewinnt.
Dabei ähneln sich Befunde wie Empfehlungen des früheren Finanzministers und Kanzlerkandidaten. So heißt es 2010: "Das Soziale in der Politik reicht nicht! Darauf verlegt sich die SPD am liebsten, weil sie es am besten kann und dort die größten Wohlfühlerlebnisse hat. Dabei entgeht ihr allerdings, dass ihr wirtschaftspolitisches Bein zu kurz ist und sie deshalb im Kreis läuft. Die wirtschafts- und finanzpolitische Kompetenz muss in der SPD kontinuierlich und in der Breite ausgebaut werden." Im Jahr 2015 schreibt Steinbrück: "Die SPD hat auf dem sozialpolitischen Feld keinen Nachhol- und Nachhilfebedarf. Umso mehr schwächelt sie auf dem zweiten Feld, auf dem Wahlen gewonnen werden: bei der wirtschaftlichen Kompetenz. Hier muss sie ihr Profil stärken." Nun, im Jahr 2018, heißt es, dass die SPD in der Wirtschafts- und Finanzpolitik weiterhin ein schwaches Kompetenzprofil habe. Daran habe auch die Gründung eines SPD-Wirtschaftsforums nichts geändert. Der Partei werde weiterhin ein gespaltenes Verhältnis zum Unternehmensgeist und zum Unternehmertum zugeschrieben.
Weshalb das so ist? Vielleicht stellt die SPD die falschen Bevölkerungsgruppen in den Mittelpunkt ihrer Wahlkämpfe. "Das Land besteht zum weit überwiegenden Teil nicht aus Opfern und diskriminierten Minderheiten" (2018). "Im Wahlprogramm der SPD war zu wenig die Rede von den Erwartungen, Interessen und Befindlichkeiten der Abermillionen Durchschnittsbürger. Von einem Mindestlohn profitieren 5 Millionen Bürger. Das ist gut. Aber an der materiellen Lage von 29 Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern ändert der Mindestlohn gar nichts" (2015). "Die SPD wird vielfach wahrgenommen als eine Partei der Verlierer und der Zukurzgekommenen. Einige ihrer Strategen sind sogar davon überzeugt, dass die Modernisierungsverlierer im Mittelpunkt von Programm und Politik zu stehen hätten" (2010). Steinbrücks Rat im aktuellen Buch: "Die SPD sollte hinhören, wenn ihr aus einer der größten Wählergruppen zugerufen wird: Ich bin weiblich, verhältnismäßig jung, weiß und deutscher Herkunft, heterosexuell, will Kinder haben beziehungsweise habe Kinder, fühle mich in meinem Job wohl, will aber so bezahlt werden wie mein männlicher Kollege, finde Deutschland toll, wenn auch an manchen Stellen verbesserungsbedürftig - und fühle mich nicht als Opfer! Dazu will ich von der Politik auch nicht gemacht werden."
Steinbrück beklagt zudem eine gewisse Wirtschaftsferne der SPD, die auch mit dem Wandel ihrer Mitgliederstruktur zu tun habe. Sie sei immer stärker zu einer Partei des öffentlichen Dienstes geworden. Darüber habe sie den Kontakt zur Facharbeiterschaft verloren. "Bisher ist es kaum gelungen, wenigstens in den Führungsgremien der Partei und bei den Delegierten von Parteitagen für eine breite Abbildung wirtschaftlichen Sachverstandes und beruflicher Erfahrung zu sorgen."
Ein weiteres Problem der SPD ist, dass es Deutschland gutgeht. Das ist auch eine Folge der "Agenda 2010", für die sich viele Sozialdemokraten heute schämen, was Steinbrück regelmäßig beklagt. "Die Distanzierung hat zu einer erheblichen Abwanderung geführt, die SPD hat die Agenda nicht ausreichend erklärt" (2010). "Der Duktus des Wahlprogramms der SPD ließ immer noch eine gewisse Verklemmung gegenüber dem Erbe der Agenda 2010 spüren. Wir hätten die Agenda selbstbewusst annehmen und denen abspenstig machen müssen, die in den Genuss ihrer politischen Rendite gekommen waren, nachdem sie die Reformen 2003 abgelehnt hatten" (2015). "Die SPD muss ihre Selbsttraumatisiertheit aus der Agenda-Politik endlich überwinden. Groteskerweise fielen die Leistungen der CDU/CSU als Rendite zu, nicht zuletzt, weil die SPD selbst verschämt damit umging und keine offensive Kommunikation zu entwickeln vermochte" (2018).
In seinem neuen Buch warnt Steinbrück die SPD: Sie solle nicht bei ihrer "mehr oder weniger orthodoxen Kapitalismuskritik" bleiben. Auf die Jungsozialisten ist der frühere Finanzminister ganz schlecht zu sprechen, auch in seiner neuen Schrift bekommen sie einige Breitseiten ab - ebenso wie die Mitarbeiter des Willy-Brandt-Hauses. Man mag es kaum glauben, und Steinbrück deutet es nur an, aber in der SPD-Parteizentrale muss sich inhaltliche wie wahlkämpferische Inkompetenz bündeln. Das ist ein Eindruck, der sich freilich auch nach der Lektüre des Buches "Die Schulz-Story" festsetzt: Hier beschreibt der Journalist Markus Feldenkirchen, wie der Wahlkampf des jüngsten SPD-Messias von Pleiten, Pech, Pannen und den absurden Launen eines Sigmar Gabriel durchsetzt war.
Was fordert Steinbrück? "Dringend benötigt sind eine Regelsetzung für Internetunternehmen, eine diesbezügliche Antitrust-Gesetzgebung, eine effiziente Regulierung von Finanzmärkten, ein Antidumping von Löhnen und Sozialstandards, die Sicherung von Rechten der Arbeitnehmer und der Mitbestimmung sowie die Verpflichtung der Marktteilnehmer, für die Risiken ihres Handelns zu haften, statt sie auf die Allgemeinheit abzuwälzen." Und: "Die SPD muss eine europäische und eine patriotische Partei sein. In diesem Sinne sollte sie Verbündete für die Zähmung des globalisierten Kapitalismus gewinnen und gleichzeitig für die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft eintreten." Wäre Steinbrück ein guter Kanzler geworden? Ja, sicher. Mit dieser SPD? Sicher nicht. Sollte sich Steinbrück weiter zu Wort melden? Auf jeden Fall!
JOCHEN ZENTHÖFER
Peer Steinbrück: Das Elend der Sozialdemokratie. Verlag C.H. Beck, München 2018. 189 Seiten. 14,95 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Peer Steinbrück über Opfer und Verlierer
Es hat Tradition, dass sich Peer Steinbrück nach Bundestagswahlen zu Wort meldet. In "Unterm Strich" (2010) ging es vor allem um die Finanzkrise, in "Vertagte Zukunft" (2015) beklagte er eine selbstzufriedene Republik, nun hat sich der SPD-Politiker zum "Elend der Sozialdemokratie" (2018) Gedanken gemacht. Die drei Bücher drehen sich auch um die Frage, weshalb die SPD keine nationalen Wahlen mehr gewinnt.
Dabei ähneln sich Befunde wie Empfehlungen des früheren Finanzministers und Kanzlerkandidaten. So heißt es 2010: "Das Soziale in der Politik reicht nicht! Darauf verlegt sich die SPD am liebsten, weil sie es am besten kann und dort die größten Wohlfühlerlebnisse hat. Dabei entgeht ihr allerdings, dass ihr wirtschaftspolitisches Bein zu kurz ist und sie deshalb im Kreis läuft. Die wirtschafts- und finanzpolitische Kompetenz muss in der SPD kontinuierlich und in der Breite ausgebaut werden." Im Jahr 2015 schreibt Steinbrück: "Die SPD hat auf dem sozialpolitischen Feld keinen Nachhol- und Nachhilfebedarf. Umso mehr schwächelt sie auf dem zweiten Feld, auf dem Wahlen gewonnen werden: bei der wirtschaftlichen Kompetenz. Hier muss sie ihr Profil stärken." Nun, im Jahr 2018, heißt es, dass die SPD in der Wirtschafts- und Finanzpolitik weiterhin ein schwaches Kompetenzprofil habe. Daran habe auch die Gründung eines SPD-Wirtschaftsforums nichts geändert. Der Partei werde weiterhin ein gespaltenes Verhältnis zum Unternehmensgeist und zum Unternehmertum zugeschrieben.
Weshalb das so ist? Vielleicht stellt die SPD die falschen Bevölkerungsgruppen in den Mittelpunkt ihrer Wahlkämpfe. "Das Land besteht zum weit überwiegenden Teil nicht aus Opfern und diskriminierten Minderheiten" (2018). "Im Wahlprogramm der SPD war zu wenig die Rede von den Erwartungen, Interessen und Befindlichkeiten der Abermillionen Durchschnittsbürger. Von einem Mindestlohn profitieren 5 Millionen Bürger. Das ist gut. Aber an der materiellen Lage von 29 Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern ändert der Mindestlohn gar nichts" (2015). "Die SPD wird vielfach wahrgenommen als eine Partei der Verlierer und der Zukurzgekommenen. Einige ihrer Strategen sind sogar davon überzeugt, dass die Modernisierungsverlierer im Mittelpunkt von Programm und Politik zu stehen hätten" (2010). Steinbrücks Rat im aktuellen Buch: "Die SPD sollte hinhören, wenn ihr aus einer der größten Wählergruppen zugerufen wird: Ich bin weiblich, verhältnismäßig jung, weiß und deutscher Herkunft, heterosexuell, will Kinder haben beziehungsweise habe Kinder, fühle mich in meinem Job wohl, will aber so bezahlt werden wie mein männlicher Kollege, finde Deutschland toll, wenn auch an manchen Stellen verbesserungsbedürftig - und fühle mich nicht als Opfer! Dazu will ich von der Politik auch nicht gemacht werden."
Steinbrück beklagt zudem eine gewisse Wirtschaftsferne der SPD, die auch mit dem Wandel ihrer Mitgliederstruktur zu tun habe. Sie sei immer stärker zu einer Partei des öffentlichen Dienstes geworden. Darüber habe sie den Kontakt zur Facharbeiterschaft verloren. "Bisher ist es kaum gelungen, wenigstens in den Führungsgremien der Partei und bei den Delegierten von Parteitagen für eine breite Abbildung wirtschaftlichen Sachverstandes und beruflicher Erfahrung zu sorgen."
Ein weiteres Problem der SPD ist, dass es Deutschland gutgeht. Das ist auch eine Folge der "Agenda 2010", für die sich viele Sozialdemokraten heute schämen, was Steinbrück regelmäßig beklagt. "Die Distanzierung hat zu einer erheblichen Abwanderung geführt, die SPD hat die Agenda nicht ausreichend erklärt" (2010). "Der Duktus des Wahlprogramms der SPD ließ immer noch eine gewisse Verklemmung gegenüber dem Erbe der Agenda 2010 spüren. Wir hätten die Agenda selbstbewusst annehmen und denen abspenstig machen müssen, die in den Genuss ihrer politischen Rendite gekommen waren, nachdem sie die Reformen 2003 abgelehnt hatten" (2015). "Die SPD muss ihre Selbsttraumatisiertheit aus der Agenda-Politik endlich überwinden. Groteskerweise fielen die Leistungen der CDU/CSU als Rendite zu, nicht zuletzt, weil die SPD selbst verschämt damit umging und keine offensive Kommunikation zu entwickeln vermochte" (2018).
In seinem neuen Buch warnt Steinbrück die SPD: Sie solle nicht bei ihrer "mehr oder weniger orthodoxen Kapitalismuskritik" bleiben. Auf die Jungsozialisten ist der frühere Finanzminister ganz schlecht zu sprechen, auch in seiner neuen Schrift bekommen sie einige Breitseiten ab - ebenso wie die Mitarbeiter des Willy-Brandt-Hauses. Man mag es kaum glauben, und Steinbrück deutet es nur an, aber in der SPD-Parteizentrale muss sich inhaltliche wie wahlkämpferische Inkompetenz bündeln. Das ist ein Eindruck, der sich freilich auch nach der Lektüre des Buches "Die Schulz-Story" festsetzt: Hier beschreibt der Journalist Markus Feldenkirchen, wie der Wahlkampf des jüngsten SPD-Messias von Pleiten, Pech, Pannen und den absurden Launen eines Sigmar Gabriel durchsetzt war.
Was fordert Steinbrück? "Dringend benötigt sind eine Regelsetzung für Internetunternehmen, eine diesbezügliche Antitrust-Gesetzgebung, eine effiziente Regulierung von Finanzmärkten, ein Antidumping von Löhnen und Sozialstandards, die Sicherung von Rechten der Arbeitnehmer und der Mitbestimmung sowie die Verpflichtung der Marktteilnehmer, für die Risiken ihres Handelns zu haften, statt sie auf die Allgemeinheit abzuwälzen." Und: "Die SPD muss eine europäische und eine patriotische Partei sein. In diesem Sinne sollte sie Verbündete für die Zähmung des globalisierten Kapitalismus gewinnen und gleichzeitig für die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft eintreten." Wäre Steinbrück ein guter Kanzler geworden? Ja, sicher. Mit dieser SPD? Sicher nicht. Sollte sich Steinbrück weiter zu Wort melden? Auf jeden Fall!
JOCHEN ZENTHÖFER
Peer Steinbrück: Das Elend der Sozialdemokratie. Verlag C.H. Beck, München 2018. 189 Seiten. 14,95 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Hans Werner Kilz vermutet, dass sich Peer Steinbrück keine Freunde macht mit seiner neuen Streitschrift. Will er wohl auch gar nicht. Wichtiger ist laut Rezensent sowieso, dass Steinbrück was zu sagen hat und dass er es sagen kann, stilistisch und intellektuell. Lesen sollten Steinbrücks Aufruf zur Erneuerung der SPD alle 463.722 Parteigenossen und -genossinnen, meint Kilz. Dass die Partei überaltert ist, altbacken und strukturkonservativ, erfährt Kilz hier, und wie wenig sie aus ihren Niederlagen gelernt hat. Was der Autor dagegen empfiehlt, erscheint Kilz oberschlau und in seinem Sowohl-als-auch viel zu wenig.
© Perlentaucher Medien GmbH
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"Steinbrück schreibt, wie er spricht: pointiert, schwungvoll, ohne Umschweife. Was er zu sagen hat, wird vielen nicht gefallen. Aber gerade deshalb ist das Buch wichtig."
Markus Ziener, Neue Zürcher Zeitung, 29. März 2018
Markus Ziener, Neue Zürcher Zeitung, 29. März 2018