Jenseits der Ölkrise - »Grenzen der Aufnahmefähigkeit« - Europäisierung der Migrationspolitik. Beendete tatsächlich die Ölkrise die »Gastarbeiter-Ära«? Warum stoppten alle westeuropäischen Industriestaaten Anfang der 1970er Jahre ihre Anwerbung und schlossen die Grenzen für unerwünschte Arbeitsmigranten? Das Buch begibt sich auf die Suche nach der Entstehungsgeschichte der Anwerbestopps und zeichnet die Diskussionen der Beamten nach, die sich auf unterschiedlichen Ebenen von der Stadtverwaltung bis zur Europäischen Gemeinschaft mit dem »Problem der ausländischen Arbeitnehmer« beschäftigten. Dabei erklärt es am Beispiel Deutschlands, Frankreichs und der Schweiz, wie die nationalen Entscheidungen durch transnationale Diskurse geprägt wurden, sich gegenseitig beeinflussten und schließlich zu einer Europäisierung der Migrationspolitik führten.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Wenn Marcel Berlinghoff den konzertant erscheinenden Richtungsänderungen in der Einwanderungspolitik Deutschlands, Frankreichs und der Schweiz zu Beginn der 70er Jahre nachgeht, erkennt Wilfried Loth Entscheidungsprozesse und Gründe für den Bewusstseinswandel. Erstaunt zeigt er sich angesichts der vom Autor nachgewiesenen Kooperation in diesen Fragen zwischen den betroffenen Ländern, die zur Konstruktion einer europäischen Identität beitrug, wie der Autor feststellt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine ZeitungEinwanderung und Identität
Der Anwerbestopp für "Gastarbeiter" aus europäischer Perspektive
Der Anwerbestopp für ausländische Arbeitnehmer, den Arbeitsminister Walter Arendt auf dem Höhepunkt der "Ölkrise" am 23. November 1973 verkündete, gilt in der deutschen Erinnerung als Wendepunkt in der deutschen Einwanderungs- und Ausländerpolitik. Marcel Berlinghoff macht darauf aufmerksam, dass diese drastische Begrenzung des Zuzugs ausländischer Arbeitnehmer Teil eines Regimewechsels war, der sich zu Beginn der siebziger Jahre in allen Industriestaaten Nordwesteuropas vollzog, unabhängig von den bis dahin sehr unterschiedlichen nationalen Regelungen der Arbeitsmigration.
In der Schweiz wurde schon 1970 eine Obergrenze für neue Arbeitskräfte aus dem Ausland festgelegt, die sich an der Zahl der Rückkehrer des Vorjahres orientierte. In Schweden blockierten die Gewerkschaften 1972 die Anwerbung weiterer Ausländer. Dänemark beschränkte die Zuwanderung im gleichen Jahr auf Arbeitnehmer aus dem EWG-Raum und den skandinavischen Ländern. Großbritannien setzte die überwiegende Mehrheit der Commonwealth-Bürger vom Beginn des Jahres 1973 an mit Ausländern gleich. Kurz darauf schränkten Belgien und die Niederlande ihre Einwanderungsbestimmungen stark ein; in Österreich wurden die Einwanderungsquoten rigoros herabgesetzt. Im Juli 1974 verhängte die französische Regierung einen totalen Einwanderungsstopp.
Wie kann man den nahezu gleichzeitigen und gleichartigen Politikwechsel im westlichen Europa erklären? Der geläufige Hinweis auf die Rezession infolge der Ölkrise greift offensichtlich zu kurz, setzte der Wandel doch lange vor dem Ende des Booms ein. Berlinghoff geht den Diskussionen und Entscheidungsprozessen in drei exemplarisch ausgewählten Ländern nach: der Schweiz, der Bundesrepublik Deutschland und Frankreich. Dabei wird deutlich, dass es die starke Zunahme der Arbeitsmigration in der letzten Phase des Booms von 1968 an war, die für einen Bewusstseinswandel sorgte. Es stellte sich jetzt heraus, dass die bequeme Vorstellung von einer permanenten Rotation der "Gastarbeiter" nicht funktionierte. Die ausländischen Arbeitnehmer blieben länger als ursprünglich gedacht, mit den Qualifikationen, die sie erwarben, wurden sie für die Unternehmen zunehmend unverzichtbar, und sie holten ihre Familien nach.
Damit entstand nun ein Problem, auf das keiner der westeuropäischen Industriestaaten vorbereitet war: Die Infrastrukturkosten für die Unterbringung und Versorgung der ausländischen Arbeitnehmer stiegen gewaltig an, und da die Unternehmer wenig Bereitschaft zeigten, sie zu übernehmen, entstand die doppelte Gefahr der Gettobildung und der Entwicklung von Fremdenhass. Wachsende Unruhe unter einheimischen Arbeitern und Empörung über die Zustände in Wohnquartieren der Ausländer sorgten dafür, dass dies den zuständigen Behörden und Politikern nicht lange verborgen blieb.
Bei der Suche nach Lösungen kam es zu einem intensiven Austausch zwischen den Fachbeamten und Fachleuten der betroffenen Länder; das ist ein bemerkenswertes Ergebnis von Berlinghoffs Untersuchung. Das Bonner Auswärtige Amt forderte im Juni 1972 von seinen Botschaftern Berichte über die Handhabung der Arbeitsmigration in den anderen Ländern an; das Pariser Außenministerium tat ein Jahr später genau das Gleiche. Im Oktober 1972 trafen sich Regierungsvertreter der europäischen Industriestaaten sowie Vertreter der EG-Kommission, des Europarats, der Internationalen Arbeits-Organisation und der OECD zu einem Erfahrungsaustausch in Bonn, der von allen Teilnehmern als außerordentlich anregend empfunden wurde.
Der Erfahrungsaustausch auf europäischer Ebene verstärkte den Handlungsdruck. Berichte über Gettobildung und soziale Spannungen in Frankreich, Großbritannien und den Niederlanden ließen die soziale Problematik auch dort als drängend erscheinen, wo sie wie in der Bundesrepublik objektiv gesehen noch kaum bestand. Gleichzeitig zeichnete sich eine Lösung ab, wie sie die Schweiz unter dem Druck diverser Volksbegehren-Initiativen bereits vorexerziert hatte: Begrenzung des Zuzugs und stärkere Integration der bereits ansässigen Ausländer.
Bei der Umsetzung dieses Programms agierten die nationalen Regierungen aber ganz unabhängig voneinander, mit unterschiedlichem Geschick und auch mit unterschiedlichem Erfolg. Bemühungen der Brüsseler Kommission, eine gemeinsame Anwerbepolitik aller Mitgliedsländer der EG zu entwickeln, liefen ins Leere, entsprechende Ankündigungen in Regierungsprogrammen wurden nicht verwirklicht. Das Problem des richtigen Umgangs mit der ungewollten Einwanderung war viel zu heikel, um es aus der Kontrolle der Regierungsbürokratien zu entlassen. Von einer Europäisierung der Migrationspolitik - so Berlinghoff - sollte man daher nicht sprechen; zu konstatieren ist nur eine tendenzielle Vereinheitlichung.
Richtig ist dagegen, was Berlinghoff über die Geschichte der Ausländerbeschäftigung hinausgehend feststellt: Die Gleichartigkeit der Entwicklungen und der Austausch darüber trugen zu einer Veränderung und Bekräftigung der europäischen Identitätskonstruktion bei. Hatte man im industriellen Nordwesten in den 1950er und 1960er Jahren die "Südländer" generell als Fremde betrachtet, so wurden im Zuge der geographischen Ausweitung der Herkunftsgebiete der Migranten Portugiesen, Spanier, Italiener und Griechen als Europäer gesehen, die zunehmend willkommen waren, während die sonstigen Mittelmeer-Anrainer als Angehörige "fremder Kulturkreise" galten, denen man die Integration in die europäischen Gesellschaften nicht zutraute. Die Freizügigkeit innerhalb der EG und im Rahmen weiter bestehender Anwerbeverträge trug dazu bei, die Unterschiede zwischen Einheimischen und "europäischen" Fremden weiter einzuebnen. Gleichzeitig verfestigten die Zuwanderungsbeschränkungen für Türken, Nordafrikaner und andere "Außereuropäer" den Glauben an ihre essentielle Fremdartigkeit. Die Türken, die sich doch schon seit Beginn der 1960er Jahre auf dem Weg nach Europa geglaubt hatten, sollten das Nachsehen haben.
WILFRIED LOTH
Marcel Berlinghoff: Das Ende der "Gastarbeit". Europäische Anwerbestopps 1970-1974. Verlag Ferdinand Schöningh, Paderborn 2012. 403 S., 49,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Der Anwerbestopp für "Gastarbeiter" aus europäischer Perspektive
Der Anwerbestopp für ausländische Arbeitnehmer, den Arbeitsminister Walter Arendt auf dem Höhepunkt der "Ölkrise" am 23. November 1973 verkündete, gilt in der deutschen Erinnerung als Wendepunkt in der deutschen Einwanderungs- und Ausländerpolitik. Marcel Berlinghoff macht darauf aufmerksam, dass diese drastische Begrenzung des Zuzugs ausländischer Arbeitnehmer Teil eines Regimewechsels war, der sich zu Beginn der siebziger Jahre in allen Industriestaaten Nordwesteuropas vollzog, unabhängig von den bis dahin sehr unterschiedlichen nationalen Regelungen der Arbeitsmigration.
In der Schweiz wurde schon 1970 eine Obergrenze für neue Arbeitskräfte aus dem Ausland festgelegt, die sich an der Zahl der Rückkehrer des Vorjahres orientierte. In Schweden blockierten die Gewerkschaften 1972 die Anwerbung weiterer Ausländer. Dänemark beschränkte die Zuwanderung im gleichen Jahr auf Arbeitnehmer aus dem EWG-Raum und den skandinavischen Ländern. Großbritannien setzte die überwiegende Mehrheit der Commonwealth-Bürger vom Beginn des Jahres 1973 an mit Ausländern gleich. Kurz darauf schränkten Belgien und die Niederlande ihre Einwanderungsbestimmungen stark ein; in Österreich wurden die Einwanderungsquoten rigoros herabgesetzt. Im Juli 1974 verhängte die französische Regierung einen totalen Einwanderungsstopp.
Wie kann man den nahezu gleichzeitigen und gleichartigen Politikwechsel im westlichen Europa erklären? Der geläufige Hinweis auf die Rezession infolge der Ölkrise greift offensichtlich zu kurz, setzte der Wandel doch lange vor dem Ende des Booms ein. Berlinghoff geht den Diskussionen und Entscheidungsprozessen in drei exemplarisch ausgewählten Ländern nach: der Schweiz, der Bundesrepublik Deutschland und Frankreich. Dabei wird deutlich, dass es die starke Zunahme der Arbeitsmigration in der letzten Phase des Booms von 1968 an war, die für einen Bewusstseinswandel sorgte. Es stellte sich jetzt heraus, dass die bequeme Vorstellung von einer permanenten Rotation der "Gastarbeiter" nicht funktionierte. Die ausländischen Arbeitnehmer blieben länger als ursprünglich gedacht, mit den Qualifikationen, die sie erwarben, wurden sie für die Unternehmen zunehmend unverzichtbar, und sie holten ihre Familien nach.
Damit entstand nun ein Problem, auf das keiner der westeuropäischen Industriestaaten vorbereitet war: Die Infrastrukturkosten für die Unterbringung und Versorgung der ausländischen Arbeitnehmer stiegen gewaltig an, und da die Unternehmer wenig Bereitschaft zeigten, sie zu übernehmen, entstand die doppelte Gefahr der Gettobildung und der Entwicklung von Fremdenhass. Wachsende Unruhe unter einheimischen Arbeitern und Empörung über die Zustände in Wohnquartieren der Ausländer sorgten dafür, dass dies den zuständigen Behörden und Politikern nicht lange verborgen blieb.
Bei der Suche nach Lösungen kam es zu einem intensiven Austausch zwischen den Fachbeamten und Fachleuten der betroffenen Länder; das ist ein bemerkenswertes Ergebnis von Berlinghoffs Untersuchung. Das Bonner Auswärtige Amt forderte im Juni 1972 von seinen Botschaftern Berichte über die Handhabung der Arbeitsmigration in den anderen Ländern an; das Pariser Außenministerium tat ein Jahr später genau das Gleiche. Im Oktober 1972 trafen sich Regierungsvertreter der europäischen Industriestaaten sowie Vertreter der EG-Kommission, des Europarats, der Internationalen Arbeits-Organisation und der OECD zu einem Erfahrungsaustausch in Bonn, der von allen Teilnehmern als außerordentlich anregend empfunden wurde.
Der Erfahrungsaustausch auf europäischer Ebene verstärkte den Handlungsdruck. Berichte über Gettobildung und soziale Spannungen in Frankreich, Großbritannien und den Niederlanden ließen die soziale Problematik auch dort als drängend erscheinen, wo sie wie in der Bundesrepublik objektiv gesehen noch kaum bestand. Gleichzeitig zeichnete sich eine Lösung ab, wie sie die Schweiz unter dem Druck diverser Volksbegehren-Initiativen bereits vorexerziert hatte: Begrenzung des Zuzugs und stärkere Integration der bereits ansässigen Ausländer.
Bei der Umsetzung dieses Programms agierten die nationalen Regierungen aber ganz unabhängig voneinander, mit unterschiedlichem Geschick und auch mit unterschiedlichem Erfolg. Bemühungen der Brüsseler Kommission, eine gemeinsame Anwerbepolitik aller Mitgliedsländer der EG zu entwickeln, liefen ins Leere, entsprechende Ankündigungen in Regierungsprogrammen wurden nicht verwirklicht. Das Problem des richtigen Umgangs mit der ungewollten Einwanderung war viel zu heikel, um es aus der Kontrolle der Regierungsbürokratien zu entlassen. Von einer Europäisierung der Migrationspolitik - so Berlinghoff - sollte man daher nicht sprechen; zu konstatieren ist nur eine tendenzielle Vereinheitlichung.
Richtig ist dagegen, was Berlinghoff über die Geschichte der Ausländerbeschäftigung hinausgehend feststellt: Die Gleichartigkeit der Entwicklungen und der Austausch darüber trugen zu einer Veränderung und Bekräftigung der europäischen Identitätskonstruktion bei. Hatte man im industriellen Nordwesten in den 1950er und 1960er Jahren die "Südländer" generell als Fremde betrachtet, so wurden im Zuge der geographischen Ausweitung der Herkunftsgebiete der Migranten Portugiesen, Spanier, Italiener und Griechen als Europäer gesehen, die zunehmend willkommen waren, während die sonstigen Mittelmeer-Anrainer als Angehörige "fremder Kulturkreise" galten, denen man die Integration in die europäischen Gesellschaften nicht zutraute. Die Freizügigkeit innerhalb der EG und im Rahmen weiter bestehender Anwerbeverträge trug dazu bei, die Unterschiede zwischen Einheimischen und "europäischen" Fremden weiter einzuebnen. Gleichzeitig verfestigten die Zuwanderungsbeschränkungen für Türken, Nordafrikaner und andere "Außereuropäer" den Glauben an ihre essentielle Fremdartigkeit. Die Türken, die sich doch schon seit Beginn der 1960er Jahre auf dem Weg nach Europa geglaubt hatten, sollten das Nachsehen haben.
WILFRIED LOTH
Marcel Berlinghoff: Das Ende der "Gastarbeit". Europäische Anwerbestopps 1970-1974. Verlag Ferdinand Schöningh, Paderborn 2012. 403 S., 49,90 [Euro].
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