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Produktdetails
  • Verlag: Piper
  • 1998.
  • Seitenzahl: 723
  • Deutsch
  • Abmessung: 48mm x 155mm x 231mm
  • Gewicht: 1035g
  • ISBN-13: 9783492040389
  • ISBN-10: 3492040381
  • Artikelnr.: 07284644
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.04.1996

Sie hassen die Luft, die sie atmen
Kommunismus als Symptom: François Furet über die Lust des Bürgertums an der Selbstzerstörung / Von Frank Schirrmacher

Unsere Lage ist die des Miguel de Cervantes. Spätere Generationen werden

in unserer Kultur jenen irrealen und wahnwitzigen Abschied von einer Lebensform erkennen, von dem der Spanier als erster erzählt hat. Sein Don Quixote steht am Ende einer jahrhundertealten sozialen Übereinkunft; am Vorabend der Moderne. Er liest Ritterromane und zieht als Held in eine Welt, die den Ritter nur noch aus Büchern kennt. Der Don Quixote von heute ist der letzte Bürger in einer Welt, die den Bürger nur als literarische Phantasie kennt. So haben ihn mit hellseherischem Instinkt alle europäischen Romanciers von Rang in der ersten Jahrhunderhälfte porträtiert. Sie zeigen einen Bürger, der in seine Welt eintritt wie Don Quixote in die der Ritter: anachronistisch wie Prousts Swann, voller Widersprüche wie Senator Buddenbrook und überfordert von einer Tradition, der er sich verdankt, die er aber längst vergessen oder verleugnet hat, wie Kafkas Josef K.

Der Bürger hat die Zerstörungskraft der Rationalität am eigenen Leib erfahren. Von den zerschlagenen abendländischen Mythen ist ihm am Ende nur noch sein Glaube an die Geschichte geblieben. So schildert ihn die Literatur: ein Bürger, der mit dem Universalismus seiner Vernunft erleidet, was Don Quixote mit seinen Rittergeschichten erlebt. Spätere, denen in der Erinnerung die Dinge auf engstem Raum zusammentreten, werden in den literarischen Werken nur noch diesen epochalen Bruch ablesen. Denn mit ihm geht eine jahrhundertalte Geschichte zu Ende.

Das Bürgertum, dessen letzten seiner vielen Untergänge wir vielleicht noch erleben werden, ist seit hundertfünfzig Jahren einer leidenschaftlichen Erniedrigung ausgesetzt. Als Karikatur und als höhnischer Widerspruch zur Idee begegnete sich der Bürger seit Mitte des vorigen Jahrhunderts in der Literatur. Stendhal und Flaubert, Heine und Nietzsche haben aus unterschiedlichem Antrieb, aber mit gleichem Ziel der Engstirnigkeit, Geldgier und Geschichtsferne des Philisters den ungebundenen Geist und die soziale Freiheit des Künstlers gegenübergestellt. Marx und Engels übernahmen die ursprünglich literarische Fiktion des bourgeois und erweiterten seine Rolle. Vom Bösewicht der Geschichten wurde der Bürger zum Weltfeind der Geschichte.

Das zwanzigste Jahrhundert hat diesem Prozeß eine schwindelerregende Beschleunigung gegeben. Es hat zwei große Totalitarismen geschaffen, deren erklärtes Ziel die Vernichtung der bürgerlichen Welt war. In der Literatur, in den Künsten, in fast allen Formen seiner politischen Theologie führte es mit Unterstützung des Bürgertums einen geistigen Feldzug gegen die bürgerliche Welt, schwächte das Selbstverständnis der Menschen und verlängerte den mehr als dreißigjährigen Krieg der ersten Jahrhunderthälfte bis in die Gegenwart.

Heute, da der Weltbürgerkrieg mit dem Zusammenbruch des Kommunismus zu Ende gekommen ist, fahnden die Menschen nach dem Sinn dieser Geschichte. Erstaunt suchen sie nach den Gründen einer unbegreiflich gewordenen Leidenschaft und dem, was man in Abwandlung eines Buchtitels den "Todestrieb der bürgerlichen Gesellschaft" genannt hat. Größer noch als die Verblüffung über das achselzuckende Abtreten der letzten totalitären Utopie ist die Bestürzung über das Verschwinden der gewaltigen Legitimationsdiskurse, die sie ein Jahrhundert lang produzierte. Der Bürger des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts, der mit unglücklichem Bewußtsein an seiner Erniedrigung in Literatur und Philosophie partizipierte, hat einen großen und vieldeutigen Sieg errungen. Zum erstenmal überhaupt in seiner Geschichte ist er nicht mehr mit der Vision einer nachdemokratischen und nachbürgerlichen Gesellschaft konfrontiert; zum erstenmal ist er nicht Übergang, sondern Ziel, denn niemand verkündet mehr das Programm einer Welt, in der für ihn kein Platz ist. Doch die Selbstauslöschung im Namen der Utopie ist selber ein bürgerliches Erbteil. Das widersprüchliche, von Zweifeln und Angst getragene Selbstbild des Bürgertums hat die Ideen erst hervorgebracht, die auf seine Abschaffung zielten. Es ist keine Spekulation, wenn man vermutet, daß die bürgerlichen Gesellschaften der postkommunistischen Welt einer prekären Selbstbewußtseinskrise entgegengehen werden. Mit dem Kommunismus ist ihnen nicht nur der Feind, sondern auch ein tiefer liegendes, in den Wurzeln ihrer Tradition ruhendes Erlösungsversprechen abhanden gekommen.

Auf dieses Krisenmotiv hat zuerst François Furet aufmerksam gemacht. "Wir haben es", sagte er in einem Interview, "mit einer erstaunlichen Amputation unseres Weltverständnisses zu tun. Tatsächlich endet die Geschichte, wie sie der Marxismus und seine marxistisch-leninistische Variante ausgearbeitet haben: die Idee, daß der Kapitalismus durch sein eigenes Funktionieren zum Untergang verurteilt ist und einem neuen Typ gesellschaftlicher Ordnung auf die Welt helfen wird, die auf der Abschaffung des Privateigentums beruht. Nun geschieht das genaue Gegenteil. . . Die Geschichte im emphatischen Sinn ist tot, weil sie eine verweltlichte Version des religiösen Heilsgedankens war. . . Niemand kann etwas über die Gesellschaft sagen, die jener nachfolgen wird, die wir seit zwei-, dreihundert Jahren kennen. Die Geschichte steht nicht mehr in einem Programm, das die Rechte bekämpfen und die Linke erfüllen muß. . . Und wir? Wir sind dazu verurteilt, in eben jener Welt zu leben, in der wir leben."

Die ideengeschichtliche Nachprüfung des totalitären Gedankens im zwanzigsten Jahrhundert ist deshalb weit mehr als eine Bestandsaufnahme. Sie ist unsinnig, wenn sie sich, wie von linker Seite geschehen, nur auf einzelne Abweichungen und Anomalien innerhalb eines letztlich plausiblen oder gar geschichtsnotwendigen Systems bezieht. In diesen Zusammenhang gehört der von Jürgen Habermas mit Blick auf die Ereignisse von 1989 gefundene Begriff der "nachholenden Revolution". Er unterschlägt den objektiv konterrevolutionären Charakter der Wende, den Habermas, der noch 1979 Wert darauf gelegt hat, "als Marxist zu gelten", nicht übersehen haben kann. In der "nachholenden Revolution" schwenken in seiner Lesart die kommunistisch beherrschten Gesellschaften gleichsam in das unvollendete, aber nichtsdestoweniger revolutionäre Projekt der Moderne ein. Diese Beschreibung widerspricht ihren eigenen Voraussetzungen, vor allem aber vermag sie den Willen der Handelnden von 1989 nicht zu erklären, aus allen utopischen Geschichtsentwürfen auszubrechen.

Erst indem die Geschichtsschreibung die innige Verzahnung von demokratischem Bürgertum einerseits und totalitärem Gegenentwurf andererseits offenlegt, vermag sie die Wunde zu diagnostizieren, die die Vernichtung des utopischen Totalitarismus auch den westlichen Gesellschaften geschlagen hat. In Deutschland hat dies Ernst Nolte getan und ist damit auf zunehmenden Widerspruch gestoßen. In Frankreich hat François Furet einen eigenen Versuch unternommen, der neben emphatischer Ablehnung auch prominenten Zuspruch erfahren hat, fast einhunderttausendmal verkauft wurde und nun unter dem Titel "Das Ende der Illusion" auch auf deutsch vorliegt. Furet, 1927 als Sohn eines Bankdirektors in Paris geboren, gehörte zu jener Generation junger Franzosen, die unter dem Eindruck der Vichy-Kollaboration mit einem brennenden Mißtrauen gegen die bürgerlichen Demokratien die Universitäten bezogen. An der Sorbonne operierte er in der marxistischen Zelle "Saint Just" und wurde Mitglied der kommunistischen Partei Frankreichs. Doch nach dem XX. Parteitag und dem Volksaufstand in Ungarn sagte er sich 1956 von der Partei los.

Fernand Braudel verschaffte ihm den Forschungsauftrag, der 1965 zur "Geschichte der französischen Revolution" führte; einem Werk, das ihn sofort zu einem der bekanntesten jungen Historiker des Landes machte. Furets These, daß der französischen Revolution ein evolutionärer Prozeß von fast hundert Jahren vorausgegangen war, empfand die auf die historische Geburtsstunde pochende Linke als Provokation. Denn Furet zeigte, daß das Schreckensregiment von 1789 keineswegs, wie die Revolutionsgeschichtsschreibung lehrte, mit innen- und außenpolitischen Gründen zu legitimieren war. Furet griff damit bereits die entscheidende rhetorische Rechtfertigungsfigur des bolschewistischen Terrors an. In den folgenden Jahren verstärkte der Verehrer Tocquevilles, was er selber seinen "revisionistischen Zug" nannte. In dem noch von Sartre beherrschten intellektuellen Frankreich wurde er zum Konkursverwalter des revolutionären Dogmas. Als Direktor des Instituts Raymond Aron hat ihn in den letzten Jahren nichts so sehr beschäftigt wie die Frage Arons, warum "die Romantik des Krieges im Schlamm Flanderns zugrunde gegangen ist, aber die Romantik des Bürgerkriegs die Zellen des Lubjanka-Gefängnisses überlebt hat."

Auch Furet sieht in den beiden Totalitarismen den größten Angriff, der je gegen die bürgerlichen Gesellschaften ausgeführt wurde. Anders als Nolte in der nationalsozialistischen Ideologie sucht er in der kommunistischen aber nicht das, was ihr unter prinzipiellen Gesichtspunkten Legitimität verschaffen könnte. Statt dessen fragt er nach den Gründen, die die massenmordende Theologie des Kommunismus moralisch bis in ihre letzten Tage immunisiert haben. Anders gesagt: Furet untersucht im ersten Teil seines Werkes nicht die rationalen Teile des Kommunismus, sondern die irrationalen Bewußtseinsinhalte der bürgerlichen Gesellschaften, aus deren Mitte die kommunistische Illusion überhaupt erst erwuchs. "Das Unglück des Bürgers", so schreibt er, "besteht nicht nur darin, innerlich gespalten zu sein, sondern vielmehr darin, daß er die eine Hälfte seiner selbst der Kritik der anderen überantwortet. . . Daher rührt das Charakteristikum der modernen Demokratie, die sicherlich einzigartig in der Weltgeschichte ist: die unbegrenzte Fähigkeit, Menschen hervorzubringen, die das soziale und politische System verabscheuen, in das sie hineingeboren sind; die die Luft hassen, die sie atmen, obwohl sie die Grundlage ihres Lebens ist, und sie nie etwas anderes kennengelernt haben."

Nein, in diesem Buch spricht kein historischer Materialist, und nichts wäre verfehlter, als seinen Thesen mit vorgeblich empirischer Soziologie zu antworten, wie es der aufgebrachte Erich Hobsbawm in einer ersten Antwort getan hat. In einer der seltenen polemischen Passagen des Buchs attackiert Furet die sozialwissenschaftliche Empirie, sofern sie sich in den Dienst eines geschichtsphilosophischen Konzepts stellt.

Seiner Ablehnung jeder Geschichtsteleologie verdankt das Buch seine interessantesten Partien. Furet erwägt nicht einmal die Frage, ob mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs der geschichtsnotwendige Untergang einer Klasse und einer Gesellschaftsform eingeläutet wird. Er ist vielmehr überzeugt, daß der Erste Weltkrieg bis 1917 überhaupt keinen ideologischen Kern hatte. Erst mit Beginn der Oktoberrevolution und dem Frieden von Brest-Litowsk wird dem Krieg seine ideologische Rechtfertigung nachgetragen. Durch das Ausscheiden des zaristischen Rußland erst können die Westmächte die allgemeinen Menschenrechte, Demokratie und freie Selbstbestimmung auf ihre Fahnen schreiben. Wilsons Vierzehn Punkte, so Furet, hätten noch ein Jahr zuvor keine Chance auf Durchsetzung gehabt. Während Thomas Mann in München in fast rührender Verspätung den Krieg als einen Kampf zwischen Kultur und Zivilisation verteidigt, ist er längst von den großen Demokratien zu einer Schlacht um ihre ewigen Werte umgedeutet worden. In diesem Augenblick manifestiert sich der Wahnsinn, der die Menschen die Allmacht der Geschichte an die Stelle Gottes rücken ließ. Der bürgerliche Universalismus, der in Wahrheit zur Verteidigung eines nationalen Partikularismus ausgerufen wird, bringt in der Schlußphase des Ersten Weltkriegs paradoxerweise dem bürgerlichen Selbstbewußtsein die größte Verwundung seiner Geschichte bei.

Diese Wunde öffnet sich für annähernd achtzig Jahre an der Ostflanke der Zivilisation: in Rußland. Und für einige gefährliche Augenblicke infiziert sie 1918 fast ganz Ost- und Mitteleuropa. Wie Nolte ist Furet von der Vorläuferfunktion des Bolschewismus für die europäischen Faschismen überzeugt. Er zitiert Sinowjew, den ersten Vorsitzenden der Komintern, der im Frühjahr 1919 in der ersten Nummer der Zeitschrift "Die kommunistische Internationale" schreibt: "Zur Stunde, da wir diese Zeilen niederschreiben, zählt die Dritte Kommunistische Internationale drei Sowjetrepubliken, Rußland, Ungarn und Bayern. Doch es würde niemanden verwundern, wenn es zu dem Zeitpunkt, da diese Zeilen veröffentlicht werden, bereits sechs Sowjetrepubliken oder gar mehr gäbe. Das alte Europa geht in rasender Geschwindigkeit der proletarischen Revolution entgegen".

Es ist hier nicht der Ort, all die Überwältigungs- und Entmächtigungsängste zu beschreiben, die das europäische Bürgertum im Anschluß an diese Prophezeiung erfassen. Furet nennt sie, aber der Gedanke, der ihn beschäftigt, ist anderer Natur: Er fragt, wieso trotz der bolschewistischen Bürgerkriegserklärung große Teile der westlichen Gesellschaften einer wachsenden und nie gänzlich zerbrochenen Faszination unterliegen. Die bürgerlichen Demokratien, so Furets Antwort, haben mit der Oktoberrevolution die Gottheit der Geschichte gleichsam einem anderen, wilden und gefährlichen Stamm überlassen, der nun im Begriff ist einen Kreuzzug zu beginnen.

In zahllosen biographischen Skizzen beschreibt er den Verrat der Intellektuellen, ihre heimliche Neigung und Liebe zum Kommunismus und ihre Versuche, noch für die grausigsten seiner Verbrechen eine Rechtfertigung zu finden. Nicht im Zusammenprall von Nationalsozialismus und Kommunismus, sondern von beiden Totalitarismen mit der Demokratie sieht er "den unvermeidlichen Krieg zweier Weltanschauungen" und er weist nach, wie die europäischen Faschismen bis 1945 auch unter den demokratischen Intellektuellen Zuspruch und den Rang einer historisch notwendigen Tatsache erhielten.

Furet, so erkennt man, hat den Vorzug historischer Unbefangenheit auf seiner Seite. Frankreich hat zwar die Revolution in die Welt gebracht, sich aber an den beiden totalitären Entwürfen nicht erfindend beteiligt. Und unter den Stimmen des antidemokratischen und antibürgerlichen Affekts finden sich auch solche, die schon frühzeitig den Weg erkennen, den die Heilslehrer beschritten haben. Gide gehört dazu, der, nach anfänglichem Enthusiasmus für das Moskauer Modell, bereits im August 1937 die Frage stellt, "wann und wie der Geist des Kommunismus aufgehört habe, sich vom Geist des Faschismus zu unterscheiden".

Furet geht von der Überzeugung aus, daß von dem kommunistischen Experiment nichts, keine Idee, keine Hoffnung und nicht einmal eine gedankliche Methode übriggeblieben ist. Das ermöglicht ihm, die Geschichte des Jahrhunderts mit erfrischender Schärfe zu beschreiben. Nicht der frühe Leninismus, nicht der Spanische Bürgerkrieg, nicht der Antifaschismus und auch nicht die Spätformen des Eurokommunismus können das Geringste zu ihrer Verteidigung sagen. Der Kommunismus hätte ohne den Nationalsozialismus nicht überlebt, und als er bereits all seine Prinzipien verraten und schätzungsweise 21 Millionen Menschen ermordet hatte, wurde er durch die Ideologie des Antifaschismus noch einmal für ein halbes Jahrhundert immunisiert.

Von Nietzsche stammt die Prophezeiung, im zwanzigsten Jahrhundert würden Kriege im Zeichen rivalisierender Ideologien geführt. Furets größtes Verdienst ist gewiß, daß er die Geschichte des Kommunismus gleichsam aus der Sicht eines Religionshistorikers schreibt, der in glaubenslosen Zeiten nach dem Sinn all dieser ungeheuren Opfer fragt. Tatsächlich ist die europäische Kollaboration mit dem Kommunismus nur zu verstehen, wenn man in ihr den verzweifelten Impuls erkennt, Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen zu begreifen. Der Antifaschismus der Jahre 1945 bis 1989 "gewinnt seine Kraft weniger aus einer Analyse des Krieges als vielmehr aus dem Sinn, den er ihm verleiht". Dazu ist es notwendig, dem untergegangenen Nationalsozialismus die Qualität des "absolut Bösen" zuzusprechen, gegen dessen Mordwut sich die kommunistischen Greuel wie Ableitungen eines letztlich absolut Guten lesen. Natürlich übersieht Furet nicht, daß sich die Demokratien des Westens letztlich zu ihren Prinzipien bekannt und die kommunistische Religion politisch, zumindest bis 1968, zurückgewiesen haben. Aber er glaubt, daß dieses Bekenntnis aus der europäischen Tradition allein niemals mehr hätte formuliert werden können. Ohne die zivilen Traditionen Amerikas, das den bürgerlichen Selbstzweifel und Selbsthaß nie gekannt hat, wäre, so Furets Andeutung, Europa nach 1945, ja noch in den siebziger Jahren auf die andere Seite übergelaufen.

Furets Buch ist ein Abriß der großen Phasen des europäischen Kommunismus, aber auch eine Anklageschrift gegen die Eliten des alten Europa. Nicht die "Tugend der Vernunft", sondern allein der realpolitische Lauf der Dinge hat die letzte politische Theologie Europas zu Fall gebracht. Das Rechtfertigungs- und Entschuldungsvokabular der europäischen Intelligenz, das noch in der unvergessenen Nachrüstungsdebatte Triumphe feierte, hätte voraussichtlich noch für Jahrhunderte jede neue Wendung der alten Ideologie vorauseilend in einen emanzipatorischen Zusammenhang gebracht. Man lese, wie Furet die westeuropäische Apotheose der Gorbatschowschen Reformen analysiert, die buchstäblich erst in dem Augenblick in fassungslose Ernüchterung übergeht, als die KPdSU ihren Herrschaftsanspruch aufgibt. In dieser Zeit, zwischen dem Herbst 1989 und dem Sommer 1990, erlebten die europäischen Metropolen die Debatten um den "Dritten Weg", eine kurze Phase der Lehre vom "reinen Leninismus", die Wiederauferstehung Dubceks, die Erinnerung an Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg, kurzum die letzten Versuche, eine nachdemokratische Gesellschaft an den Horizont der bürgerlichen Demokratien zu zeichnen.

Dies alles ist überaus spannend, weil es plötzlich den aufgeklärten und modernen Gesellschaften Europas jenen Stich finsteren Mittelalters versetzt, der die Selbstherrlichkeit ihrer Rationallität seit jeher verdunkelt. Thomas Manns mit Blick auf den Nationalsozialismus gefundenes Wort, der Teufel sei immer schon da, "wo der Hochmut des Intellekts sich mit seelischer Altertümlichkeit und Gebundenheit gattet", erhält einen neuen, hintergründigen Sinn.

Man wird sich fragen, worin Furets Versuch sich von den umstrittenen Thesen Ernst Noltes unterscheidet. Tatsächlich ist die Nähe beträchtlich, und in einer Anmerkung zählt der Historiker Noltes Werk wohl mit Recht zu den "tiefschürfendsten Arbeiten der letzten fünfzig Jahre". Anders als Nolte bemüht sich Furet aber nicht, den "reinen Kern" der totalitären Lehre zu erfassen, und diese Weigerung schützt ihn vor jener mißverständlichen Identifikation, die Nolte so viele Feinde eingetragen hat. Vor allen Dingen käme er nie auf die Idee, aus dem konstruktiven Kern der diskreditierten Idee ein quasipolitisches Programm zu entwickeln. Für Furet ist die "ewige Linke" offensichtlich in ein gedankliches Nichts zerfallen. Nolte aber möchte gewissen vom Nationalsozialismus pervertierten Traditionssträngen des Nationalkonservativismus wieder ein historisches Recht einräumen. In diesem Widerspruch erkennt man noch einmal deutlich die Herkunft der beiden Historiker. Furet, aus der Linken kommend, bleibt seinem nunmehr demokratischen Universalismus treu. Nolte, von konservativen Traditionen ausgehend, weist den Weg des nationalen Partikularismus, der ihn folgerichtig zu der Überzeugung eines abstrakten historischen Notwehrrechts des Nationalsozialismus führt. Furet vermutet, daß sich Nolte aufgerufen fühlt, dem gedemütigten deutschen Nationalismus Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Nur diese Suggestion kann ihn zu Thesen wie derjenigen führen, daß die Juden Deutschland den Krieg erklärt hätten. Auf merkwürdig verkehrte Weise erinnert der späte und verstiegene Nolte an die Antifa-Rhetoren, denen Furet einen großen Teil seines Werkes widmet. Furet hingegen zertrümmert mit dem Mythos der Großen Französischen Revolution den Nukleus des intellektuellen westlichen Selbstbewußtseins.

Dennoch werden der rationale Kern des Nolteschen Werks zusammen mit Furets großem Buch Marksteine der Ideengeschichte bilden. Furets harter und oft böser Pragmatismus ist auch eine Therapie gegen die weitreichenden Kombinationen der Nolteschen Metaphysik. In beiden Fällen ist der Prospekt der Zukunft unsicher und düster wie nie. Wird, wie Nolte vermutet, die Vision der multikulturellen Gesellschaft die letzte Attacke der "ewigen Linken" gegen die bürgerlichen Gesellschaften sein? Oder wird, wie Furet glaubt, der Entzug der nachdemokratischen Vision eine Wiederkehr des alten bürgerlichen Selbsthasses, seiner Ängste und Vernichtungsphantasien provozieren?

Man hat gesagt, daß Deutschland und Rußland die beiden Nationen seien, denen es in diesem Jahrhundert nicht gelingen wird, einen Sinn in ihrer Geschichte zu finden. Folgt man Furet, so gilt das auch für die bürgerlichen, westlichen Demokratien, die nur aus der Dialektik ihrer gefürchteten und doch erwünschten Bedrohung die Selbsterhaltungskräfte der modernen Gesellschaft entwickeln konnten. Sie haben, mit Ausnahme Amerikas, den Totalitarismus aus eigener Kraft, aber nicht aus eigenem Denken in die Schranken gewiesen. Ihre Bewährungsprobe beginnt jetzt, da ihr Universalismus an die Grenzen der modernen und gleichzeitig an die einer fundamentalistisch geprägten Welt stößt.

Große Werke der Ideengeschichte sind immer Nacherzählungen. Sie erzählen, was man schon weiß, aber in einer Art, die der längst bekannten Geschichte neue Farben und neuen Fabeln verleiht. Das ist François Furet gelungen. Er träumt zwischen den Zeilen seines Buches den Traum eines Bürgers, der mehr ist als ein Don Quixote; ein Bürger, der sich mit dem Alltag seiner Welt und den Widersprüchen seiner Existenz versöhnt. Das ist nach einem sinnlosen Jahrhundert eine letzte Rechtfertigung der Geschichtsschreibung. Durch sie lernt man mehr als das, was war, und durch den Zwang zur Komposition schafft sie Erkenntnisse und Pointen, wo nie welche waren. Don Quixote lebte in einer Welt, die nicht war. Seine Taten und Werke aber, so hat Kafka einmal bemerkt, wurden aufgeschrieben und in einem Buch verwahrt von Sancho Pansa. Sancho Pansa, das ist das Bild, in dem sich der Chronist der Ideen selber begegnet.

François Furet: "Das Ende der Illusion". Der Kommunismus im 20. Jahrhundert. Aus dem Französischen von Karola Bartsch, Eliane Hagedorn, Christiane Krieger, Barbara Reitz. Piper Verlag, München, Zürich 1996. 724 S., geb., 88,- DM.

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Der renommierte französische Historiker Francois Furet gibt eine Analyse des Kommunismus im 20. Jahrhundert, beschreibt Ideen, Wirkungen und untersucht die Gründe des Scheiterns."Kein Zweifel, über dieses brisante Buch wird man noch lange diskutieren. Zumal es sich keineswegs um ein Pamphlet mit überspitzten Thesen handelt, sondern um eine erstaunlich durchkomponierte, elegant formulierte Analyse..." (Die Zeit.)