Alexander Demandt gibt dieses Gemeinschaftswerk von zehn international renommierten Historikern heraus, die in spannenden und gut verständlichen Beiträgen die Gründe für den Untergang der Weltreiche aufzeigen. Den Leser erwart eine fesselnde Zeitreise, die am Hof des persischen Großkönigs beginnt und im Moskauer Kreml endet.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 25.03.1997Stummer Gast unter toten Imperien
Alexander Demandt trägt die Großreiche zu Grabe / Von Eberhard Straub
Der Raum ist das Bild der Macht. In ihm breiten sich die großen Reiche aus. Die Zeit ist das Bild der Ohnmacht. Denn in ihr findet alles ein Ende. Nicht ohne Ironie gab deshalb der hellenistische Sophist Karneades den Römern zu bedenken, daß alle Völker, die herrisch in die Welt ausgriffen, wieder zu den Hütten ihrer Vorfahren zurückkehrten, um in Armut und Dürftigkeit weiter zu leben. So ging es den Babyloniern, den Persern oder den Makedonen. Das klassische Epos antiker Bildung, die Ilias, handelte vom Untergang Trojas. Den hatte auch der jüngere Scipio Africanus im Sinn, als ihn 146 vor Christus mitten in den Ruinen Karthagos eine Vorahnung vom unvermeidlichen Untergang Roms überwältigte, das sich gerade anschickte, Herrin der Welt zu werden.
Vergil, der Künder des Reiches, dem im Raum keine Grenzen gesetzt und dem die Zeit nichts anzuhaben vermag, ließ in anderen Zusammenhängen keinen Zweifel daran, daß alle Reiche vorübergehende Erscheinung sind, regna peritura. Über solche Vorstellungen brauchte der Römer und Christ, der Kirchenvater Augustinus, nur das Kreuz zu schlagen: "Habent mutationes terrena regna", die Reiche in dieser Welt sind ständigen Wandlungen unterworfen. Das Licht der Welt ist nicht eine Stadt, die urbs imperiosa, sondern Christus. Dies Licht kann nicht verlöschen, selbst wenn Rom, das scheinbare Licht der Welt von den Barbaren, wie 410 nach Christus geschehen, verwüstet und geplündert wird.
Eine mutatio muß allerdings keineswegs schon das Ende bedeuten. Darin lag ein Trost für die christlichen cives Romani, die vielleicht verzweifeln wollten. Sie ermöglicht eine Metamorphose, eine Verwandlung, eine "vitale Umgestaltung", wie Jakob Burckhardt "die wahre Krises" auffaßte, "die keiner anderen uns näher bekannten gleicht und einzig in ihrer Art ist", den Zerfall des Römischen Reiches. Im Anfang liegt das Ende, wie Scipio tränen- und trümmerschwer vermutete. Aber das Ende kann auch ein Übergang sein zu neuen Formen oder zur generellen Erneuerung, zur Regeneration, zur Wiedergeburt, zur Renaissance verwirkter Möglichkeiten.
"Das Ende der Weltreiche", wie der von Alexander Demandt herausgegebene Band heißt, beschäftigte unausgesetzt die Einbildungskraft der Erben Roms, der Europäer. Rom hatte ihnen eine große Idee hinterlassen, die Pax Romana, die, um sich wohltätig auswirken zu können, ein Reich voraussetzt, das den Frieden ermöglicht und ihn gegen jeden Einspruch erhält. Die Christen, die das Vaterunser beteten - adveniat regnum tuum, Dein Reich komme -, versöhnten sich alsbald mit dem Römischen Reich, in dem sie lebten.
Prophezeiungen Daniels versicherten ihnen, daß Gott den vier Reichen, die hintereinander mächtig sind, Zeit und Stunde bestimmt, wie lange ein jegliches währen solle. Das vierte und letzte aber könne die Herrschaft des Antichristen verzögern, nach der Gott vom Himmel ein Königreich aufrichte, das ewig währt. Das Reich, schon für die Römer ein religiöser Auftrag, weil von den Göttern gegeben, wurde zu einer theologischen oder politisch-theologischen Herausforderung. Sein Zweck war: Pax et Iustitia, Friede und Gerechtigkeit gegen alle Widersacher durchzusetzen.
Nach den Franken beanspruchten die Deutschen, zur Renovatio Imperii berufen zu sein. Das empfanden alsbald die französischen Könige als Anmaßung, da der Reichsauftrag auf sie übergegangen sei, was wiederum englischen oder kastilianischen Reichsgedanken widersprach. Dynastien, die sich ins Große dachten, entwickelten subtile Spekulationen über ihre hegemoniale oder imperiale Sendung, die sich schließlich über die Tradition des Imperiums, die zumindest dem Titel nach die Deutschen im Sacrum Imperium wahrten, zur Idee der "Weltmonarchie" oder des "Universalsdominates" erweiterte. Der moderne Staat, der sich in der Auseinandersetzung mit dem Reich der Staufer herausbildete, war dann eine mystische Monarchie auf rationaler Basis. Zur Königsmystik gehört unmittelbar die Reichsmystik, wie sie sich im siebzehnten Jahrhundert in der ideologischen Auseinandersetzung zwischen Spanien und Frankreich vollendete.
Königsmythen, Reichsmystik - die beziehungsreichen Variationen politischer Theologien, zuletzt auch noch konfessioneller Prägung, stimmen die meisten Historiker heute recht bedenklich, gerade in Deutschland. Denn während der zwanziger Jahre kreisten mannigfachste Kombinationen noch einmal um Reichsideen mit verschiedensten Inhalten, in der Hoffnung auf ein "Drittes Reich". Sie machten nach den Erfahrungen mit dem Reich der Nationalsozialisten, deren Führer übrigens 1939 die weitere Verwendung des Begriffes "Drittes Reiches" verbot, selbst die verlegen, die ganz andere Reichsvorstellungen einst entworfen hatten. Das Reich war als Idee diskreditiert.
Wahrscheinlich ist das der Grund, warum in diesem Sammelband das Ende des Heiligen Römischen Reiches nicht behandelt wird und damit die vielfältigen Kontroversen in Europa über Reich und Reichsendungen unerwähnt bleiben. Denn der Hinweis, das Heilige Römische Reich sei nur ein deutsches Reich gewesen, wie sein Zusatz "Deutscher Nation" bestätige, entbehrt nicht einer gewissen Hilflosigkeit. Schließlich meinte diese Bestimmung, daß die Deutschen als führendes Reichsvolk, beziehungsweise deren sieben wichtigste Fürsten, das Vorrecht besaßen, den Römischen Kaiser zu wählen. Noch 1648, nach dem Frieden in Münster und Osnabrück, gehörten die Franche Comte, das heutige Belgien, Savoyen, Mailand, Slowenien und andere zumindest nominell noch zu diesem Reich, in dem das Regnum teutonicum als Teilreich seinen Platz fand.
Eine gewisse Reserviertheit gegenüber imperialen und hegemonialen Ideen mag der Grund sein, warum es in diesem Sammelband um das Ende der Reiche geht. Versichert der mehrdeutige Titel doch ausdrücklich, daß wir mit dem Zusammenbruch der UdSSR in die Epoche nach den Weltreichen eingetreten sind. Das Ende der Weltreiche, obschon nicht das Ende der Geschichte, das unlängst etwas verfrüht wieder einmal ausgerufen wurde, ist erreicht. Das hat insofern etwas Beruhigendes, als Imperien grundsätzlich undemokratische Einrichtungen gewesen sind, verbunden mit Monarchien oder - wie das sowjetische Beispiel veranschaulicht - mit Diktaturen. Die Reiche der Perser, der Makedonen, der Römer, der Merowinger, der Byzantiner, der Spanier, der Engländer, der Habsburg-Lothringer und der Japaner, deren Ende hier geschildert wird, wurden von Monarchen geleitet. Die monarchische Idee ist das historische Vermächtnis des Hellenismus, der griechischen Umschmelzung orientalischer Vorstellungen, die mit Weltreichsgedanken unmittelbar verknüpft waren. Sie sind nicht mehr zeitgemäß.
So wie jedes Reich seinen ganz eigenen Tod starb, wie es keine Typologie der Untergänge gibt, woran die Aufsätze eindringlich erinnern, unterscheiden sich auch der Aufstieg und der Charakter der jeweiligen Reiche. Das Römische Reich hatte einen Kaiser, doch alle Versuche, Dynastien zu gründen, scheiterten. Über den Thron verfügten Prätorianer, die nach ihrem Vermögen Kaiser "machten". Die spanischen Könige standen in der Erbfolge des königlichen Geschlechtes, und ihre königliche Herrschaft und Reichsherrschaft beruhte auf ganz anderen rechtlichen Grundlagen und Beschränkungen.
Lord Beaconsfield, ein britischer Imperialist, ernannte Königin Viktoria zur Kaiserin von Indien. Dieser schmückende Titel ändert jedoch nichts daran, daß sich die Herrschaft des Parlaments in England spätestens seit der Wahlreform von 1830 durchgesetzt hatte und das britische Empire, trotz aller möglichen Rechtskonstruktionen, ein Reich des Parlaments war. Vornehmlich die liberal-demokratischen Kräfte suchten im Imperialismus ein weites Betätigungsfeld.
Das sowjetische Reich kann gewiß als eine Mutation, eine Metamorphose des russischen Kaiserreiches verstanden werden, doch aus Protest gegen die feudal-bourgeoise Welt von Hegemonie und Imperium nannte es sich eine Union. Lenin wählte wohlüberlegt den zukunftsträchtigen Namen, der heute für alle übernationalen Vereinigungen bevorzugt wird. Die Partei schuf diese Union, und sie herrschte in allen Sowjetrepubliken. Eine Parteiherrschaft und eine Diktatur sind, wenn Begriffe noch irgend etwas bedeuten, nicht das gleiche wie eine Monarchie. Die Partei ist ein demokratisches Element. Parteifunktionär wird man nicht durch Geburt, sondern durch Leistung im Sinne der Partei.
Mit dem monarchischen Charakter der ehemaligen Weltreiche ist es hingegen nicht so einfach bestellt. China, von dem es heißt, es sei das einzige noch bestehende Weltreich, wird deshalb erst gar nicht berücksichtigt. Kaiserlich ist dessen Regierung nicht, auch wenn der eben verstorbene Deng als der "letzte Kaiser von China" apostrophiert wurde. Gibt es aber noch ein sich kräftig regendes Reich, dessen Untergang vorerst nicht zu erwarten ist, dann ist das Ende der Weltreiche vielleicht doch noch nicht erreicht.
Keiner vermag im übrigen zu sagen, ob und wann sich Rußland von dem Kollaps erholt, der es ihm im Augenblick verwehrt, imperial oder hegemonial wieder in dem Großraum aufzutreten, den es als seine besondere Interessenssphäre begreift. Vor dem Wort Großraum als politischem Begriff schrecken Deutsche sofort zurück, weil auch Carl Schmitt und die Nationalsozialisten diesen internationalen Topos aufgriffen. Weniger groß ist die Scheu, im Zuge der "Globalisierung" die Entstehung ökonomischer Großräume zu beobachten. Diese schulden sich der "sanften Gewalt des Geldes", wie Alexander Demandt bemerkt. Handel und Wandel, den eigenen Vorteil im Vorteil des anderen zu suchen, die wirtschaftliche Erschließung und Durchdringung, wechselseitige Abhängigkeiten also, verhinderten endlich, daß politische Irrationalität die Segnungen rein ökonomischer Vernunft aufhält.
Diese liberale Botschaft wird seit bald zweihundert Jahren mit wechselndem Erfolg vorgetragen. Auch sie kennt Mutationen, Metamorphosen, vielleicht auch Pseudometamorphosen, wie Spengler sagen würde. Die sanfte Gewalt des Geldes überredet dennoch die Störrischen zu Demokratie und Menschenrechten, den Ergebnissen konsequenter Marktwirtschaft und fröhlichen Wettbewerbs. Daß es aber möglich ist, auch ohne Demokratie eine monetäre potente Macht zu sein, bestätigt China - vielleicht vorübergehend - vorerst noch eindrucksvoll.
Aber man muß nicht einmal Karl Marx bemühen, um einige Zweifel an der sanften Überredungskraft des Kapitals und seiner Vernunft zu hegen. Auch Wirtschaftsräume, wie die Debatten um die Wettbewerbsfähigkeit überall zeigen, laden sich unvermeidlicherweise mit politischen Erwartungen auf. Die globalen Verteilungskämpfe lassen sich nicht mit der vertrauten Spielmaxime beruhigen: Mensch ärgere dich nicht. Die Menschen haben es nun einmal so an sich, sich zu ärgern, zumal wenn sie fürchten, zu kurz zu kommen.
Der stumme Gast bei dieser beschaulichen Sezierung der Reichsleichen sind die Vereinigten Staaten. Sie stehen offenbar teilnahmslos im Hintergrund. Sie werden nicht erwähnt und beachtet, als wären sie als Supermacht kein Reich und nicht einmal der Versuchung ausgesetzt, imperialen oder hegemonialen Anwandlungen zu erliegen. Die Monroe-Doktrin, Amerika den Amerikanern, ist eine der folgenreichsten völkerrechtlichen Bestimmungen. Wann sie verletzt wird, bestimmen die Vereinigten Staaten, wie Kennedy während der Kuba-Krise unmißverständlich bewies. Die Vereinigten Staaten sind die Verkünder aller demokratisch-humanitärer und ökonomischer Ideen, die mit dem Anspruch allgemeiner Gültigkeit vorgetragen werden - gerade so wie die untergegangenen Reiche es von ihren Überzeugungen erwarteten. Habent mutationes regna terrena. Die sanfte Macht des Geldes hält auch ihre überraschenden Metamorphosen bereit. Pluto mag ein Knabe sein, aber sein Geschenk, der Reichtum, verleiht Einfluß. So sind die Reichen allemal die Mächtigen und legen die Regeln fest, die ihnen selbstverständlich als sanft erscheinen, selbst wenn das in der gemütlichen Bundesrepublik als ungemütliches Vorurteil gilt.
Alexander Demandt: "Das Ende der Weltreiche". Vom Perserreich bis zur Sowjetunion. Verlag C. H. Beck, München 1997. 282 S., geb., 48,- DM.
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Alexander Demandt trägt die Großreiche zu Grabe / Von Eberhard Straub
Der Raum ist das Bild der Macht. In ihm breiten sich die großen Reiche aus. Die Zeit ist das Bild der Ohnmacht. Denn in ihr findet alles ein Ende. Nicht ohne Ironie gab deshalb der hellenistische Sophist Karneades den Römern zu bedenken, daß alle Völker, die herrisch in die Welt ausgriffen, wieder zu den Hütten ihrer Vorfahren zurückkehrten, um in Armut und Dürftigkeit weiter zu leben. So ging es den Babyloniern, den Persern oder den Makedonen. Das klassische Epos antiker Bildung, die Ilias, handelte vom Untergang Trojas. Den hatte auch der jüngere Scipio Africanus im Sinn, als ihn 146 vor Christus mitten in den Ruinen Karthagos eine Vorahnung vom unvermeidlichen Untergang Roms überwältigte, das sich gerade anschickte, Herrin der Welt zu werden.
Vergil, der Künder des Reiches, dem im Raum keine Grenzen gesetzt und dem die Zeit nichts anzuhaben vermag, ließ in anderen Zusammenhängen keinen Zweifel daran, daß alle Reiche vorübergehende Erscheinung sind, regna peritura. Über solche Vorstellungen brauchte der Römer und Christ, der Kirchenvater Augustinus, nur das Kreuz zu schlagen: "Habent mutationes terrena regna", die Reiche in dieser Welt sind ständigen Wandlungen unterworfen. Das Licht der Welt ist nicht eine Stadt, die urbs imperiosa, sondern Christus. Dies Licht kann nicht verlöschen, selbst wenn Rom, das scheinbare Licht der Welt von den Barbaren, wie 410 nach Christus geschehen, verwüstet und geplündert wird.
Eine mutatio muß allerdings keineswegs schon das Ende bedeuten. Darin lag ein Trost für die christlichen cives Romani, die vielleicht verzweifeln wollten. Sie ermöglicht eine Metamorphose, eine Verwandlung, eine "vitale Umgestaltung", wie Jakob Burckhardt "die wahre Krises" auffaßte, "die keiner anderen uns näher bekannten gleicht und einzig in ihrer Art ist", den Zerfall des Römischen Reiches. Im Anfang liegt das Ende, wie Scipio tränen- und trümmerschwer vermutete. Aber das Ende kann auch ein Übergang sein zu neuen Formen oder zur generellen Erneuerung, zur Regeneration, zur Wiedergeburt, zur Renaissance verwirkter Möglichkeiten.
"Das Ende der Weltreiche", wie der von Alexander Demandt herausgegebene Band heißt, beschäftigte unausgesetzt die Einbildungskraft der Erben Roms, der Europäer. Rom hatte ihnen eine große Idee hinterlassen, die Pax Romana, die, um sich wohltätig auswirken zu können, ein Reich voraussetzt, das den Frieden ermöglicht und ihn gegen jeden Einspruch erhält. Die Christen, die das Vaterunser beteten - adveniat regnum tuum, Dein Reich komme -, versöhnten sich alsbald mit dem Römischen Reich, in dem sie lebten.
Prophezeiungen Daniels versicherten ihnen, daß Gott den vier Reichen, die hintereinander mächtig sind, Zeit und Stunde bestimmt, wie lange ein jegliches währen solle. Das vierte und letzte aber könne die Herrschaft des Antichristen verzögern, nach der Gott vom Himmel ein Königreich aufrichte, das ewig währt. Das Reich, schon für die Römer ein religiöser Auftrag, weil von den Göttern gegeben, wurde zu einer theologischen oder politisch-theologischen Herausforderung. Sein Zweck war: Pax et Iustitia, Friede und Gerechtigkeit gegen alle Widersacher durchzusetzen.
Nach den Franken beanspruchten die Deutschen, zur Renovatio Imperii berufen zu sein. Das empfanden alsbald die französischen Könige als Anmaßung, da der Reichsauftrag auf sie übergegangen sei, was wiederum englischen oder kastilianischen Reichsgedanken widersprach. Dynastien, die sich ins Große dachten, entwickelten subtile Spekulationen über ihre hegemoniale oder imperiale Sendung, die sich schließlich über die Tradition des Imperiums, die zumindest dem Titel nach die Deutschen im Sacrum Imperium wahrten, zur Idee der "Weltmonarchie" oder des "Universalsdominates" erweiterte. Der moderne Staat, der sich in der Auseinandersetzung mit dem Reich der Staufer herausbildete, war dann eine mystische Monarchie auf rationaler Basis. Zur Königsmystik gehört unmittelbar die Reichsmystik, wie sie sich im siebzehnten Jahrhundert in der ideologischen Auseinandersetzung zwischen Spanien und Frankreich vollendete.
Königsmythen, Reichsmystik - die beziehungsreichen Variationen politischer Theologien, zuletzt auch noch konfessioneller Prägung, stimmen die meisten Historiker heute recht bedenklich, gerade in Deutschland. Denn während der zwanziger Jahre kreisten mannigfachste Kombinationen noch einmal um Reichsideen mit verschiedensten Inhalten, in der Hoffnung auf ein "Drittes Reich". Sie machten nach den Erfahrungen mit dem Reich der Nationalsozialisten, deren Führer übrigens 1939 die weitere Verwendung des Begriffes "Drittes Reiches" verbot, selbst die verlegen, die ganz andere Reichsvorstellungen einst entworfen hatten. Das Reich war als Idee diskreditiert.
Wahrscheinlich ist das der Grund, warum in diesem Sammelband das Ende des Heiligen Römischen Reiches nicht behandelt wird und damit die vielfältigen Kontroversen in Europa über Reich und Reichsendungen unerwähnt bleiben. Denn der Hinweis, das Heilige Römische Reich sei nur ein deutsches Reich gewesen, wie sein Zusatz "Deutscher Nation" bestätige, entbehrt nicht einer gewissen Hilflosigkeit. Schließlich meinte diese Bestimmung, daß die Deutschen als führendes Reichsvolk, beziehungsweise deren sieben wichtigste Fürsten, das Vorrecht besaßen, den Römischen Kaiser zu wählen. Noch 1648, nach dem Frieden in Münster und Osnabrück, gehörten die Franche Comte, das heutige Belgien, Savoyen, Mailand, Slowenien und andere zumindest nominell noch zu diesem Reich, in dem das Regnum teutonicum als Teilreich seinen Platz fand.
Eine gewisse Reserviertheit gegenüber imperialen und hegemonialen Ideen mag der Grund sein, warum es in diesem Sammelband um das Ende der Reiche geht. Versichert der mehrdeutige Titel doch ausdrücklich, daß wir mit dem Zusammenbruch der UdSSR in die Epoche nach den Weltreichen eingetreten sind. Das Ende der Weltreiche, obschon nicht das Ende der Geschichte, das unlängst etwas verfrüht wieder einmal ausgerufen wurde, ist erreicht. Das hat insofern etwas Beruhigendes, als Imperien grundsätzlich undemokratische Einrichtungen gewesen sind, verbunden mit Monarchien oder - wie das sowjetische Beispiel veranschaulicht - mit Diktaturen. Die Reiche der Perser, der Makedonen, der Römer, der Merowinger, der Byzantiner, der Spanier, der Engländer, der Habsburg-Lothringer und der Japaner, deren Ende hier geschildert wird, wurden von Monarchen geleitet. Die monarchische Idee ist das historische Vermächtnis des Hellenismus, der griechischen Umschmelzung orientalischer Vorstellungen, die mit Weltreichsgedanken unmittelbar verknüpft waren. Sie sind nicht mehr zeitgemäß.
So wie jedes Reich seinen ganz eigenen Tod starb, wie es keine Typologie der Untergänge gibt, woran die Aufsätze eindringlich erinnern, unterscheiden sich auch der Aufstieg und der Charakter der jeweiligen Reiche. Das Römische Reich hatte einen Kaiser, doch alle Versuche, Dynastien zu gründen, scheiterten. Über den Thron verfügten Prätorianer, die nach ihrem Vermögen Kaiser "machten". Die spanischen Könige standen in der Erbfolge des königlichen Geschlechtes, und ihre königliche Herrschaft und Reichsherrschaft beruhte auf ganz anderen rechtlichen Grundlagen und Beschränkungen.
Lord Beaconsfield, ein britischer Imperialist, ernannte Königin Viktoria zur Kaiserin von Indien. Dieser schmückende Titel ändert jedoch nichts daran, daß sich die Herrschaft des Parlaments in England spätestens seit der Wahlreform von 1830 durchgesetzt hatte und das britische Empire, trotz aller möglichen Rechtskonstruktionen, ein Reich des Parlaments war. Vornehmlich die liberal-demokratischen Kräfte suchten im Imperialismus ein weites Betätigungsfeld.
Das sowjetische Reich kann gewiß als eine Mutation, eine Metamorphose des russischen Kaiserreiches verstanden werden, doch aus Protest gegen die feudal-bourgeoise Welt von Hegemonie und Imperium nannte es sich eine Union. Lenin wählte wohlüberlegt den zukunftsträchtigen Namen, der heute für alle übernationalen Vereinigungen bevorzugt wird. Die Partei schuf diese Union, und sie herrschte in allen Sowjetrepubliken. Eine Parteiherrschaft und eine Diktatur sind, wenn Begriffe noch irgend etwas bedeuten, nicht das gleiche wie eine Monarchie. Die Partei ist ein demokratisches Element. Parteifunktionär wird man nicht durch Geburt, sondern durch Leistung im Sinne der Partei.
Mit dem monarchischen Charakter der ehemaligen Weltreiche ist es hingegen nicht so einfach bestellt. China, von dem es heißt, es sei das einzige noch bestehende Weltreich, wird deshalb erst gar nicht berücksichtigt. Kaiserlich ist dessen Regierung nicht, auch wenn der eben verstorbene Deng als der "letzte Kaiser von China" apostrophiert wurde. Gibt es aber noch ein sich kräftig regendes Reich, dessen Untergang vorerst nicht zu erwarten ist, dann ist das Ende der Weltreiche vielleicht doch noch nicht erreicht.
Keiner vermag im übrigen zu sagen, ob und wann sich Rußland von dem Kollaps erholt, der es ihm im Augenblick verwehrt, imperial oder hegemonial wieder in dem Großraum aufzutreten, den es als seine besondere Interessenssphäre begreift. Vor dem Wort Großraum als politischem Begriff schrecken Deutsche sofort zurück, weil auch Carl Schmitt und die Nationalsozialisten diesen internationalen Topos aufgriffen. Weniger groß ist die Scheu, im Zuge der "Globalisierung" die Entstehung ökonomischer Großräume zu beobachten. Diese schulden sich der "sanften Gewalt des Geldes", wie Alexander Demandt bemerkt. Handel und Wandel, den eigenen Vorteil im Vorteil des anderen zu suchen, die wirtschaftliche Erschließung und Durchdringung, wechselseitige Abhängigkeiten also, verhinderten endlich, daß politische Irrationalität die Segnungen rein ökonomischer Vernunft aufhält.
Diese liberale Botschaft wird seit bald zweihundert Jahren mit wechselndem Erfolg vorgetragen. Auch sie kennt Mutationen, Metamorphosen, vielleicht auch Pseudometamorphosen, wie Spengler sagen würde. Die sanfte Gewalt des Geldes überredet dennoch die Störrischen zu Demokratie und Menschenrechten, den Ergebnissen konsequenter Marktwirtschaft und fröhlichen Wettbewerbs. Daß es aber möglich ist, auch ohne Demokratie eine monetäre potente Macht zu sein, bestätigt China - vielleicht vorübergehend - vorerst noch eindrucksvoll.
Aber man muß nicht einmal Karl Marx bemühen, um einige Zweifel an der sanften Überredungskraft des Kapitals und seiner Vernunft zu hegen. Auch Wirtschaftsräume, wie die Debatten um die Wettbewerbsfähigkeit überall zeigen, laden sich unvermeidlicherweise mit politischen Erwartungen auf. Die globalen Verteilungskämpfe lassen sich nicht mit der vertrauten Spielmaxime beruhigen: Mensch ärgere dich nicht. Die Menschen haben es nun einmal so an sich, sich zu ärgern, zumal wenn sie fürchten, zu kurz zu kommen.
Der stumme Gast bei dieser beschaulichen Sezierung der Reichsleichen sind die Vereinigten Staaten. Sie stehen offenbar teilnahmslos im Hintergrund. Sie werden nicht erwähnt und beachtet, als wären sie als Supermacht kein Reich und nicht einmal der Versuchung ausgesetzt, imperialen oder hegemonialen Anwandlungen zu erliegen. Die Monroe-Doktrin, Amerika den Amerikanern, ist eine der folgenreichsten völkerrechtlichen Bestimmungen. Wann sie verletzt wird, bestimmen die Vereinigten Staaten, wie Kennedy während der Kuba-Krise unmißverständlich bewies. Die Vereinigten Staaten sind die Verkünder aller demokratisch-humanitärer und ökonomischer Ideen, die mit dem Anspruch allgemeiner Gültigkeit vorgetragen werden - gerade so wie die untergegangenen Reiche es von ihren Überzeugungen erwarteten. Habent mutationes regna terrena. Die sanfte Macht des Geldes hält auch ihre überraschenden Metamorphosen bereit. Pluto mag ein Knabe sein, aber sein Geschenk, der Reichtum, verleiht Einfluß. So sind die Reichen allemal die Mächtigen und legen die Regeln fest, die ihnen selbstverständlich als sanft erscheinen, selbst wenn das in der gemütlichen Bundesrepublik als ungemütliches Vorurteil gilt.
Alexander Demandt: "Das Ende der Weltreiche". Vom Perserreich bis zur Sowjetunion. Verlag C. H. Beck, München 1997. 282 S., geb., 48,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main