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Ein Befreiungsschlag, ein neues Leben - souverän und sprachgewaltig erzählt von Frankreichs neuem literarischen Star Édouard Louis
"Ich rannte weg, ganz auf einmal. Gerade hörte ich meine Mutter noch sagen 'Was soll der Scheiß jetzt wieder?'. Aber ich wollte nicht bei ihnen bleiben, ich weigerte mich, diesen Moment mit ihnen zu teilen. Ich war schon weit weg, ich gehörte nicht mehr zu ihrer Welt, der Brief besagte es. Ich kam zu den Feldern und wanderte einen Großteil der Nacht herum, auf den Feldwegen, in der Kühle Nordfrankreichs, in dem zu dieser Jahreszeit so intensiven Geruch der…mehr

Produktbeschreibung
Ein Befreiungsschlag, ein neues Leben - souverän und sprachgewaltig erzählt von Frankreichs neuem literarischen Star Édouard Louis

"Ich rannte weg, ganz auf einmal. Gerade hörte ich meine Mutter noch sagen 'Was soll der Scheiß jetzt wieder?'. Aber ich wollte nicht bei ihnen bleiben, ich weigerte mich, diesen Moment mit ihnen zu teilen. Ich war schon weit weg, ich gehörte nicht mehr zu ihrer Welt, der Brief besagte es. Ich kam zu den Feldern und wanderte einen Großteil der Nacht herum, auf den Feldwegen, in der Kühle Nordfrankreichs, in dem zu dieser Jahreszeit so intensiven Geruch der Rapsfelder. Die ganze Nacht über entwarf ich mein neues Leben fern von hier."

Mit unglaublicher Sprachgewalt erzählt der junge französische Autor Édouard Louis die Geschichte einer Befreiung aus einer unerträglichen Kindheit: inspiriert von seiner eigenen.
Autorenporträt
Louis, Édouard
Édouard Louis wurde 1991 geboren. Sein autobiographischer Debütroman »Das Ende von Eddy«, in dem er von seiner Kindheit und Flucht aus prekärsten Verhältnissen in einem nordfranzösischen Dorf erzählt, sorgte 2015 für großes Aufsehen. Das Buch wurde zu einem internationalen Bestseller und machte Louis zum literarischen Shootingstar. Sein zweiter Roman »Im Herzen der Gewalt« erschien 2016 und wird verfilmt. Édouard Louis' Bücher erscheinen in 30 Ländern. Im Sommer 2018 war er Samuel Fischer-Gastprofessor an der Freie Universität Berlin, wo er den Begriff der »konfrontativen Literatur« prägte. Zur selben Zeit adaptierte Thomas Ostermeier den Roman »Im Herzen der Gewalt« für die Schaubühne Berlin. Édouard Louis lebt in Paris.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.03.2015

Es gibt Dinge, die man nicht wollen darf

Édouard Louis hat einen Roman über den schwulen Sohn einer Arbeiterfamilie geschrieben, der den Ausstieg wagt und den Aufstieg schafft. Es ist seine eigene Geschichte.

Was ist "ein echter Kerl"? Das ist die Frage, die Eddy seit Kindertagen beschäftigt und auf die er, anders als seine Umgebung, keine Antwort zu geben weiß. Ein echter Kerl, sagt seine Familie, säuft und prügelt sich durch die Jugend, spielt Fußball und beleidigt seine Lehrer. Ein echter Kerl verlässt die Schule so früh wie möglich und schwängert seine Freundin. Er ist stolz auf den kargen Fabrikarbeiterlohn, mit dem er seine Familie ernährt, auch wenn das Geld nur bis zum zwanzigsten eines Monats reicht. Später schaut er gerne fern, isst Pommes und will bei beidem von seinen Kindern nicht gestört werden. Vielleicht ahnt der echte Kerl, in welcher Misere er steckt, aber er hat gelernt, dass es leichter ist, die anderen zu verachten als sich selbst. Die anderen, dass sind die, die nicht so sind wie er.

Eddy, dessen Geschichte vor einem Jahr in Frankreich erschienen ist und eine unerwartet große Zahl von Lesern gefunden hat, ist nicht nur anders als die Männer in seinem Heimatdorf - er ist das Gegenteil von ihnen. "Als ich begann, mich zu äußern, geriet meine Stimme spontan in feminine Lagen, deutlich heller als die der anderen Jungen. Jedes Mal, wenn ich etwas sagte, flatterten meine Hände." Eddy interessiert sich für die Kleider seiner Schwester und sanftere Musik als den Hip-Hop seiner Brüder. Er ist offensichtlich mit der Liebe zu Männern geboren, aber bevor er seiner sexuellen Orientierung nachgehen und einfach sagen kann, dass er schwul ist - etwas, was sein Land und seine Zeit längst zu gewährleisten scheinen -, erlebt er eine Kindheit, die er als Ritt durch die Hölle beschreibt und die, eben weil sie in krassem Gegensatz zum Selbstverständnis seiner Leser stehen dürfte, viel von deren Interesse erklärt. Eddy Bellegueule trägt im Buch denselben Namen wie der Autor, bevor dieser sich in Édouard Louis umbenannte. Beide, der Autor und seine Figur, wurden Anfang der neunziger Jahre geboren und sind in der Picardie aufgewachsen.

Kann das, was Eddy alias Èdouard über seine Kindheit schreibt, also überhaupt ein Roman sein? Diese Frage spielte bei der Rezeption des Buches in Frankreich eine wichtige Rolle. Denn Èdouard Louis, der jetzt zweiundzwanzig Jahre alt ist, macht keinen Hehl daraus, dass die Geschichte von Eddy seine eigene und gerade keine autofiction ist, die sich der ein oder anderen wahren Begebenheit nur bedient, um eine fiktionale Erzählung zu grundieren. Er habe, sagte er in einem Interview, das Buch auch geschrieben, weil er glaubte, sein Studium an der Pariser Eliteschule École Normale erklären zu müssen - weil er also glaubte, erklären zu müssen, wie ausgerechnet er, der schwule Spross einer mittellosen Arbeiterfamilie aus der Provinz, an einen solch prestigeträchtigen Ort gelangen konnte. "Meine Existenz rechtfertigen" nannte er das.

Auch ohne dieses Bekenntnis versteht der Leser indes schnell, wie stark der Anspruch auf Wahrhaftigkeit ist, den "Das Ende von Eddy" erhebt. Denn die Erzählung ist immer wieder durchsetzt mit kursiv gedruckten Passagen, die jenseits des Fortgangs der Handlung dazu dienen, Überzeugungen, Werte und die zu ihnen gehörende Ausdrucksweise der Figuren zu vermitteln. "Ich reg mich eben leicht auf, ich lass mir nichts gefallen, und wenn ich mich aufreg, dann reg ich mich auf", pflegt etwa Eddys Vater zu sagen, wenn wieder einmal die Wut mit ihm durchgegangen ist. Zuweilen, wenn sich die Bedeutung dieses von ferne an Zola und Céline erinnernden Argot aus dem Kontext erschließt, hat der Übersetzer Hinrich Schmidt-Henkel die entsprechenden Absätze erfreulicherweise auch im französischen Original belassen. So lernt man etwa, wie viele Ausdrücke das Französische für Schwule bereithält, nämlich mehr als ein Dutzend.

Sie alle gehören zum Grundrauschen von Eddys Leben. Genauso wie die Schläge in der Schule, die Demütigungen auf dem Fußballplatz, das monatelang aus Geldmangel nur notdürftig mit Pappkarton zugeklebte Loch im Fenster seines Zimmers, durch das die Feuchtigkeit zieht. "Keine Sorge", sagt sein Vater, wieder in kursiv gesetzter Schrift, "nur bis ich eine neue Scheibe kaufe, nur so lange, das wird nicht lang dauern." Aber die Pappe bleibt kein Provisorium. Und zwar, wie die Leser zu diesem Zeitpunkt, also kurz vor Eddys Flucht aus seinen Verhältnissen, schon wissen, nicht nur, weil es an Geld fehlt. Sondern weil mit den mangelnden finanziellen Möglichkeiten ein Mangel an Phantasie, Ehrgeiz und Widerstandsvermögen einherzugehen scheint, den Èdouard Louis mit soziologisch anmutender Sorgfalt herausarbeitet. Auch dabei hilft ihm das grafische Absetzen der direkten Rede: Es macht die Figuren zu Studienobjekten, die er auf Distanz hält, um sie besser sezieren zu können.

Auf diese Weise macht Louis sichtbar, wie die sozialen Umstände eine Verhaltensweise hervorbringen, die letztlich dazu führt, dass sich die Umstände nicht ändern können. Man erkennt hier den Bourdieu-Schüler wieder, als der Èdouard Louis sich mit der von ihm herausgegebenen, noch vor diesem Buch erschienene Studie "Pierre Bourdieu: L'insoumission en héritage" (2013) hervorgetan hat. Bei den Verhaltensmustern, um die es ihm zu tun ist, geht die Scham über verpasste oder nicht wahrgenommene Chancen eine unselige Verbindung mit dem Stolz darüber ein, es doch, wenn auch nur im Rahmen des schon Vorgefundenen, zu etwas gebracht zu haben. Ein Beispiel liefert der Teppichboden, den die Familie sich im Haus nicht leisten kann und den die Mutter folglich mit der Begründung für überflüssig erklärt, er schade Eddy doch sowieso nur, weil er Asthmatiker ist: "Die Unmöglichkeit, es zu tun, verhinderte die Möglichkeit, es zu wollen, was wiederum das Mögliche verhinderte." Nach dieser Logik bleibt die Familie nicht nur arm, es bleiben Mütter und Väter, Töchter und Söhne auch in den Rollen gefangen, die das dörfliche Leben seit Jahrhunderten und bis heute für sie bereithält.

Diese Rollen und Muster hat Èdouard Louis in seinem Buch zu dem Porträt einer sozialen Klasse verdichtet, vor deren Hintergrund Eddys Identitätsfindung in umso hellerem Licht erscheint. Dieser Eindruck ist das Ergebnis einer präzisen und absolut literarisch zu nennenden Auseinandersetzung mit der Sprache - der vom Umfeld übernommenen, der im Bemühen um einen sozialen Aufstieg angelernten und natürlich auch jener, die der junge Eddy in den Romanen entdeckt hat, die er sich irgendwann beschaffen konnte. Deswegen lässt sich auch "Das Ende von Eddy" sehr wohl als Roman begreifen - und sei es auch einer, der einen Gutteil seiner schrecklichen Kraft aus der bleibenden Ungewissheit über seine genauen Anteile von Wahrheit und Dichtung zieht.

LENA BOPP

Èdouard Louis: "Das Ende von Eddy". Roman.

Aus dem Französischen von Hinrich Schmidt-Henkel. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2015. 206 S., geb., 18,99 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Matthias Hennig ist sehr beeindruckt von diesem Debüt des Franzosen Edouard Louis. Dass es dem jungen Autor gelingt, seine eigene Geschichte als homosexueller Jugendlicher in einer dörflichen Welt aus Gewalt und sozialer Not nur leicht verklausuliert in scharfer, für den Leser laut Hennig mitunter schmerzhafter Genauigkeit zu erzählen und die Wirksamkeit sozialer Rollen herauszuarbeiten, scheint ihm stark. Als Abrechnung mit der alltäglichen Gewalt und Aufbegehren gegen Heimat liest er den Text, an dessen Ende die sexuelle Befreiung der Hauptfigur steht. Dass einige Figuren im Buch ein wenig reißbrettartig geraten sind, kann der Rezensent verzeihen, zumal sie ihm "lebensfrisch" genug erscheinen. Die Sprache allerdings findet er außerordentlich: schneidend, hart und direkt.

© Perlentaucher Medien GmbH
Wie er seine Geschichte aufschreibt, wie er kühl und genau auf sein Unglück blickt, das nimmt einem tatsächlich den Atem. Die Welt 20150309