Während die Unzufriedenheit mit Politikern und Parteien zunimmt, bleibt die Beliebtheit des Bundesverfassungsgerichts ungebrochen. Urteile wie zum Lissabon-Vertrag, zur Onlinedurchsuchung oder zur Höhe der Hartz-IV-Sätze werfen jedoch die Frage auf, inwiefern die Karlsruher Richter bisweilen die Grenzen ihrer institutionellen Zuständigkeit überschreiten. Anläßlich des 60. Jahrestags der Eröffnung des Bundesverfassungsgerichts unternehmen vier renommierte Juristen daher den Versuch einer wissenschaftlichen Kritik an Deutschlands beliebtestem Verfassungsorgan.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.08.2011Eine juristische Brandschrift über das Zentrum des Rechts
Zart vergiftete Bonbons kitzeln die Zunge: Vier herausragende Staatsrechtslehrer der jungen Generation ziehen eine kritische Bilanz nach sechzig Jahren Bundesverfassungsgericht.
Nun also eine dicke Torte "dem Bundesverfassungsgericht zum Sechzigsten" - liederlich verpackt und versetzt mit Bonbons, die zu einem guten Teil leicht vergiftet sind. Vier Autoren werfen einen "frischen Blick", wie sie das nennen, auf das Gericht, bekennen sich zu ihren unterschiedlichen Vorverständnissen (ohne das im Einzelnen auszuführen) und berühmen sich weder einer gemeinsamen Methode noch einer gemeinsamen Haltung dem Gericht gegenüber. Die vier Überschriften (Christoph Schönberger: "Anmerkungen zu Karlsruhe"; Matthias Jestaedt: "Phänomen Bundesverfassungsgericht: Was das Gericht zu dem macht, was es ist"; Oliver Lepsius: "Die maßstabsetzende Gewalt"; Christoph Möllers: "Legalität, Legitimität und Legitimation des Bundesverfassungsgerichts") sind nicht gerade informativ und trennscharf, und das tertium comparationis, welches das Ganze zusammenhalten soll, nämlich die Entgrenzung, ist unter Juristen und Justizkritikern und speziell im Blick auf das Bundesverfassungsgericht eine abgegriffene Münze.
Die Autoren gliedern und zitieren unterschiedlich, Register, die bei der Entdeckung eines roten Fadens behilflich sein könnten, gibt es nicht, und eine Feinabstimmung unter den Autoren gab es offenbar auch nicht. Und deshalb kommen bestimmte Gegenstände, wie etwa das Lüth-Urteil, die Beliebtheit des Gerichts in Umfragen, sein Verhältnis zur Politik oder seine Probleme mit anderen Gerichten bei uns und in Europa, gleichsam naturwüchsig immer wieder vor, mal so und mal so. Von außen gesehen, sind das vier Monographien zwischen zwei Buchdeckeln.
Und doch: Das ist ein wunderbares, ein fesselndes, lehrreiches und anregendes Buch. Zum einen kann man der Liederlichkeit seiner Verpackung auch manches Positive abgewinnen, wie etwa die Möglichkeit, ohne Filter in die Werkstätten von vier Staatsrechtslehrern zu schauen, die sich über denselben Gegenstand hier unterschiedlich, dort übereinstimmend äußern und dabei unweigerlich ihre Vorverständnisse und Einstellungen kenntlich machen, die sie bei einer Feinabstimmung vermutlich geglättet oder wenigstens erklärt oder gerechtfertigt hätten.
So spielt beispielsweise "Europa" als ein Argument bei allen Autoren übereinstimmend eine zentrale Rolle bei der Vorhersage der bundesverfassungsgerichtlichen Zukunft. Wenn es dann aber um die Konsequenzen geht, nämlich um eine Einschätzung dieser Zukunft (und das ist heute eines der zentralen Probleme), finden wir zerklüftete Prognosen: bei Schönberger die entwaffnende Überschrift "Schwinden" (nachdem er zuvor die Entwicklung des Gerichts mit den Markierungen Aufstieg - Leistungen - Erfolg - Schwächen versehen hatte) und bei Jestaedt die letzten Worte: "Das Bundesverfassungsgericht also als Zukunftsmodell? Ja, sicher." Möllers zieht sich bei dieser Vorhersage in deliberative Konjunktive zurück, und Lepsius glaubt "vielleicht" an ein Weiterleben "in modifizierter und neu ausgerichteter Form", wenn dem Gericht zwei Strategien der Differenzierung gelingen, die sich freilich ihrerseits nicht gerade simpel anhören. So geht das oft, und wenn man die jeweiligen Herleitungen und Begründungen nachverfolgt, hat man etwas begriffen.
Das Beste: Hier schreiben herausragende Staatsrechtslehrer der jungen Generation, die einander in Geist, Betrachtungsweise und Sprache vielfach verwandt sind, über einen Gegenstand, der ihnen am Herzen liegt. Das zeigt sich auch und gerade bei kritischen Passagen. Die vermitteln nicht Distanz oder gar beckmesserische Genugtuung, sondern Bedauern oder gar staatsbürgerliches Mitleiden. Das liegt wohl daran, dass den Autoren die Überzeugung gemeinsam ist, das Schicksal dieses Gerichts entscheide auch über das Schicksal der Rechtlichkeit in unserer Kultur, über das Maß unserer Freiheit und über die Stabilität unserer staatlichen Ordnung. Historisch und rechtsvergleichend wird der Leser gut bedient, und die Verbindungen zwischen Gericht, Politik und Gesellschaft gelingen diesen Autoren in Schwerpunkten und Einschätzungen unterschiedlich, aber mit leichter Hand.
Das Schönste: Mir jedenfalls hat nichts gefehlt. In den Externa des Gerichts kennen sich die Autoren sowohl in der Tiefe als auch in der Fläche gut aus, und der eine oder andere weiß Interna und schreibt sie hin, etwa zu Absichten der Senate, die sich auf eine mündliche Verhandlung richten, zu Kompromissen im Dienst einer Mehrheitsbeschaffung, zu Anlass und Inhalt von Sondervoten oder zu der Flucht in bestimmte Formen des Zitierens. Alle führen kundige, nicht selten spitze, bisweilen elegante Federn. Und zart vergiftete Bonbons kitzeln die Zunge: Dass die räumliche Entfernung des Gerichts vom politischen Machtzentrum der Berliner Republik schlicht bedauert und dabei schlankweg gerügt wird, den deutschen Verfassungsrichtern fehle, anders als ihren Kollegen in Rom, Paris, Wien oder Washington, "eine zwanglose gesellschaftliche Vertrautheit mit der politischen Elite", belegt zwar eher Übermut als Überlegung; ich jedenfalls erinnere mich mit Freude an ein gedankenreiches informelles Plenum vor vielen Jahren, als wir uns darüber gestritten und am Ende verständigt haben, dass gerade eine Vertrautheit mit der politischen Elite ihre Probleme habe. Dass aber die allseitige Beliebtheit des Gerichts auch etwas mit Politikvergessenheit, mit "Sehnsucht nach konfliktfreien Formen politischen Entscheidens" (wenn das mit der Konfliktfreiheit mal stimmt!), zu tun haben könnte, ist des Nachdenkens ebenso wert wie die Einsicht: "Manche Innovation in den politischen Wissenschaften verdankt sich der Unkenntnis des Rechts."
Das Wichtigste: Gerade der Umstand, dass wir es hier mit nichts anderem als mit vier Monographien zum Bundesverfassungsgericht zu tun haben, macht den Wert dieses Buches aus. Gewiss kann man überall, bis hin zu den Zitationen, mit Händen greifen, dass sich hier vier Autoren zusammengetan haben, denen es untereinander nicht um Streit geht, und gewiss hätten andere Autoren anderes anders dargestellt; es geht ja um Wissenschaft. Gleichwohl ist auch vor diesem Hintergrund die - offensichtlich nicht bis in Einzelheiten organisierte - Nähe der vier Beiträge für einen aufmerksamen Leser verblüffend und ein Anlass zum Weiterfragen.
Auch und gerade in den Passagen, die unterschiedliche Ergebnisse entwickeln, zeigt sich eine stupende Übereinstimmung im Corpus der Darstellung: in den Gegenständen, die besprochen werden, in deren Gewichtung und Anordnung. Was eine einzige durchgearbeitete Monographie lege artis vermieden hätte: Die iterative Betrachtung derselben Fragen belegt und beglaubigt hier die Einheitlichkeit des Gegenstands Bundesverfassungsgericht. Es sind nur ein Dutzend Entscheidungen, die immer wieder vorgezeigt, analysiert und bewertet werden, und es sind eher noch weniger Komplexe, die im Mittelpunkt stehen: Gericht und Verfassungsorgan; Verhältnis zur Fachgerichtsbarkeit und zum Gesetzgeber; Recht und Politik; Verfassungsbeschwerde; Grundrechte und Staatsorganisation; Dogmatik und Maßstäbe; Öffentlichkeit und Gesellschaft. So erscheint dasselbe in immer neuem Licht und gewinnt das Gericht Gestalt.
Warum das gelingt, ist schwer zu sagen. Es widerlegt jedenfalls das Urteil, die deutsche Debatte zur Verfassungsgerichtsbarkeit sei bislang "disziplinär und vergleichend introvertiert, theoretisch bescheiden". Das Gegenteil ist richtig: Bei uns trifft die Verfassungsgerichtsbarkeit auf eine sorgfältige und wohlwollende öffentliche Begleitung, eine Vor- und Nachbereitung, was man von anderen Gerichtsbarkeiten nicht sagen kann. Es stützt sich in meinen Augen eher auf das, was Jestaedt "Symbiose mit der Staatsrechtslehre" nennt und in hymnischen Formeln vorstellt: "gemeinsamer Kommunikationsraum", "nahezu symbiotische Verbindung von Bundesverfassungsgericht und Staatsrechtslehre", Verfassungsrechtswissenschaft als "natürliche Verbündete der Verfassungsrechtsprechung", ja als "juridische Königsdisziplin", die - über den Weg einer "Verfassungsorientierung" auch des sonstigen rechtswissenschaftlichen Räsonnements - "belohnt" wird "mit einer zuvor ungekannten Steigerung ihrer Bedeutung, ihrer Wirksamkeit und ihres Renommees im Kreise der übrigen rechtswissenschaftlichen Disziplinen".
Starke Worte, die an Joseph und seine Brüder erinnern. Und daran, dass es am Ende nicht die Brüder waren, auf denen Gottes Segen ruhte. Und deshalb sollten auch diese Brüder dieses Buch zur Hand nehmen.
WINFRIED HASSEMER
Der Autor war von 2002 bis 2008 Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts.
Matthias Jestaedt u.a. (Hrsg.): "Das entgrenzte Gericht". Eine kritische Bilanz nach sechzig Jahren Bundesverfassungsgericht.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2011. 420 S., br., 18,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Zart vergiftete Bonbons kitzeln die Zunge: Vier herausragende Staatsrechtslehrer der jungen Generation ziehen eine kritische Bilanz nach sechzig Jahren Bundesverfassungsgericht.
Nun also eine dicke Torte "dem Bundesverfassungsgericht zum Sechzigsten" - liederlich verpackt und versetzt mit Bonbons, die zu einem guten Teil leicht vergiftet sind. Vier Autoren werfen einen "frischen Blick", wie sie das nennen, auf das Gericht, bekennen sich zu ihren unterschiedlichen Vorverständnissen (ohne das im Einzelnen auszuführen) und berühmen sich weder einer gemeinsamen Methode noch einer gemeinsamen Haltung dem Gericht gegenüber. Die vier Überschriften (Christoph Schönberger: "Anmerkungen zu Karlsruhe"; Matthias Jestaedt: "Phänomen Bundesverfassungsgericht: Was das Gericht zu dem macht, was es ist"; Oliver Lepsius: "Die maßstabsetzende Gewalt"; Christoph Möllers: "Legalität, Legitimität und Legitimation des Bundesverfassungsgerichts") sind nicht gerade informativ und trennscharf, und das tertium comparationis, welches das Ganze zusammenhalten soll, nämlich die Entgrenzung, ist unter Juristen und Justizkritikern und speziell im Blick auf das Bundesverfassungsgericht eine abgegriffene Münze.
Die Autoren gliedern und zitieren unterschiedlich, Register, die bei der Entdeckung eines roten Fadens behilflich sein könnten, gibt es nicht, und eine Feinabstimmung unter den Autoren gab es offenbar auch nicht. Und deshalb kommen bestimmte Gegenstände, wie etwa das Lüth-Urteil, die Beliebtheit des Gerichts in Umfragen, sein Verhältnis zur Politik oder seine Probleme mit anderen Gerichten bei uns und in Europa, gleichsam naturwüchsig immer wieder vor, mal so und mal so. Von außen gesehen, sind das vier Monographien zwischen zwei Buchdeckeln.
Und doch: Das ist ein wunderbares, ein fesselndes, lehrreiches und anregendes Buch. Zum einen kann man der Liederlichkeit seiner Verpackung auch manches Positive abgewinnen, wie etwa die Möglichkeit, ohne Filter in die Werkstätten von vier Staatsrechtslehrern zu schauen, die sich über denselben Gegenstand hier unterschiedlich, dort übereinstimmend äußern und dabei unweigerlich ihre Vorverständnisse und Einstellungen kenntlich machen, die sie bei einer Feinabstimmung vermutlich geglättet oder wenigstens erklärt oder gerechtfertigt hätten.
So spielt beispielsweise "Europa" als ein Argument bei allen Autoren übereinstimmend eine zentrale Rolle bei der Vorhersage der bundesverfassungsgerichtlichen Zukunft. Wenn es dann aber um die Konsequenzen geht, nämlich um eine Einschätzung dieser Zukunft (und das ist heute eines der zentralen Probleme), finden wir zerklüftete Prognosen: bei Schönberger die entwaffnende Überschrift "Schwinden" (nachdem er zuvor die Entwicklung des Gerichts mit den Markierungen Aufstieg - Leistungen - Erfolg - Schwächen versehen hatte) und bei Jestaedt die letzten Worte: "Das Bundesverfassungsgericht also als Zukunftsmodell? Ja, sicher." Möllers zieht sich bei dieser Vorhersage in deliberative Konjunktive zurück, und Lepsius glaubt "vielleicht" an ein Weiterleben "in modifizierter und neu ausgerichteter Form", wenn dem Gericht zwei Strategien der Differenzierung gelingen, die sich freilich ihrerseits nicht gerade simpel anhören. So geht das oft, und wenn man die jeweiligen Herleitungen und Begründungen nachverfolgt, hat man etwas begriffen.
Das Beste: Hier schreiben herausragende Staatsrechtslehrer der jungen Generation, die einander in Geist, Betrachtungsweise und Sprache vielfach verwandt sind, über einen Gegenstand, der ihnen am Herzen liegt. Das zeigt sich auch und gerade bei kritischen Passagen. Die vermitteln nicht Distanz oder gar beckmesserische Genugtuung, sondern Bedauern oder gar staatsbürgerliches Mitleiden. Das liegt wohl daran, dass den Autoren die Überzeugung gemeinsam ist, das Schicksal dieses Gerichts entscheide auch über das Schicksal der Rechtlichkeit in unserer Kultur, über das Maß unserer Freiheit und über die Stabilität unserer staatlichen Ordnung. Historisch und rechtsvergleichend wird der Leser gut bedient, und die Verbindungen zwischen Gericht, Politik und Gesellschaft gelingen diesen Autoren in Schwerpunkten und Einschätzungen unterschiedlich, aber mit leichter Hand.
Das Schönste: Mir jedenfalls hat nichts gefehlt. In den Externa des Gerichts kennen sich die Autoren sowohl in der Tiefe als auch in der Fläche gut aus, und der eine oder andere weiß Interna und schreibt sie hin, etwa zu Absichten der Senate, die sich auf eine mündliche Verhandlung richten, zu Kompromissen im Dienst einer Mehrheitsbeschaffung, zu Anlass und Inhalt von Sondervoten oder zu der Flucht in bestimmte Formen des Zitierens. Alle führen kundige, nicht selten spitze, bisweilen elegante Federn. Und zart vergiftete Bonbons kitzeln die Zunge: Dass die räumliche Entfernung des Gerichts vom politischen Machtzentrum der Berliner Republik schlicht bedauert und dabei schlankweg gerügt wird, den deutschen Verfassungsrichtern fehle, anders als ihren Kollegen in Rom, Paris, Wien oder Washington, "eine zwanglose gesellschaftliche Vertrautheit mit der politischen Elite", belegt zwar eher Übermut als Überlegung; ich jedenfalls erinnere mich mit Freude an ein gedankenreiches informelles Plenum vor vielen Jahren, als wir uns darüber gestritten und am Ende verständigt haben, dass gerade eine Vertrautheit mit der politischen Elite ihre Probleme habe. Dass aber die allseitige Beliebtheit des Gerichts auch etwas mit Politikvergessenheit, mit "Sehnsucht nach konfliktfreien Formen politischen Entscheidens" (wenn das mit der Konfliktfreiheit mal stimmt!), zu tun haben könnte, ist des Nachdenkens ebenso wert wie die Einsicht: "Manche Innovation in den politischen Wissenschaften verdankt sich der Unkenntnis des Rechts."
Das Wichtigste: Gerade der Umstand, dass wir es hier mit nichts anderem als mit vier Monographien zum Bundesverfassungsgericht zu tun haben, macht den Wert dieses Buches aus. Gewiss kann man überall, bis hin zu den Zitationen, mit Händen greifen, dass sich hier vier Autoren zusammengetan haben, denen es untereinander nicht um Streit geht, und gewiss hätten andere Autoren anderes anders dargestellt; es geht ja um Wissenschaft. Gleichwohl ist auch vor diesem Hintergrund die - offensichtlich nicht bis in Einzelheiten organisierte - Nähe der vier Beiträge für einen aufmerksamen Leser verblüffend und ein Anlass zum Weiterfragen.
Auch und gerade in den Passagen, die unterschiedliche Ergebnisse entwickeln, zeigt sich eine stupende Übereinstimmung im Corpus der Darstellung: in den Gegenständen, die besprochen werden, in deren Gewichtung und Anordnung. Was eine einzige durchgearbeitete Monographie lege artis vermieden hätte: Die iterative Betrachtung derselben Fragen belegt und beglaubigt hier die Einheitlichkeit des Gegenstands Bundesverfassungsgericht. Es sind nur ein Dutzend Entscheidungen, die immer wieder vorgezeigt, analysiert und bewertet werden, und es sind eher noch weniger Komplexe, die im Mittelpunkt stehen: Gericht und Verfassungsorgan; Verhältnis zur Fachgerichtsbarkeit und zum Gesetzgeber; Recht und Politik; Verfassungsbeschwerde; Grundrechte und Staatsorganisation; Dogmatik und Maßstäbe; Öffentlichkeit und Gesellschaft. So erscheint dasselbe in immer neuem Licht und gewinnt das Gericht Gestalt.
Warum das gelingt, ist schwer zu sagen. Es widerlegt jedenfalls das Urteil, die deutsche Debatte zur Verfassungsgerichtsbarkeit sei bislang "disziplinär und vergleichend introvertiert, theoretisch bescheiden". Das Gegenteil ist richtig: Bei uns trifft die Verfassungsgerichtsbarkeit auf eine sorgfältige und wohlwollende öffentliche Begleitung, eine Vor- und Nachbereitung, was man von anderen Gerichtsbarkeiten nicht sagen kann. Es stützt sich in meinen Augen eher auf das, was Jestaedt "Symbiose mit der Staatsrechtslehre" nennt und in hymnischen Formeln vorstellt: "gemeinsamer Kommunikationsraum", "nahezu symbiotische Verbindung von Bundesverfassungsgericht und Staatsrechtslehre", Verfassungsrechtswissenschaft als "natürliche Verbündete der Verfassungsrechtsprechung", ja als "juridische Königsdisziplin", die - über den Weg einer "Verfassungsorientierung" auch des sonstigen rechtswissenschaftlichen Räsonnements - "belohnt" wird "mit einer zuvor ungekannten Steigerung ihrer Bedeutung, ihrer Wirksamkeit und ihres Renommees im Kreise der übrigen rechtswissenschaftlichen Disziplinen".
Starke Worte, die an Joseph und seine Brüder erinnern. Und daran, dass es am Ende nicht die Brüder waren, auf denen Gottes Segen ruhte. Und deshalb sollten auch diese Brüder dieses Buch zur Hand nehmen.
WINFRIED HASSEMER
Der Autor war von 2002 bis 2008 Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts.
Matthias Jestaedt u.a. (Hrsg.): "Das entgrenzte Gericht". Eine kritische Bilanz nach sechzig Jahren Bundesverfassungsgericht.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2011. 420 S., br., 18,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Der frühere Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts als Rezensent. Die Idee, vier Autoren vom Fach über die Entgrenzung eben dieses Gerichts nachdenken zu lassen, findet Winfried Hassemer nach dieser Lektüre absolut überzeugend. Anfängliche Bedenken angesichts der mangelnden Feinabstimmung der Autoren, was Wiederholungen begünstigt, aber eben auch den ungeschminkten Blick in die Werkstätten vier junger herausragender Staatsrechtslehrer, wischt er bald beiseite. Zu fesselnd, anregend und lehrreich erscheint ihm der Band, der ihn noch beim Nachvollzug der Herleitungen und Begründungen zu Themenkomplexen wie Gericht und Verfassungsorgan, Recht und Politik, Verfassungsbeschwerde, Grundrechte und Staatsorganisation überzeugt. Dass die vier Autoren dieselben Fragen und Entscheidungen behandeln, beglaubigt für ihn nur die Einheitlichkeit ihres Gegenstands. Für Hassemer steht nach der Lektüre fest: Die deutsche Verfassungsgerichtsbarkeit erfreut sich einer sorgfältigen und wohlwollenden öffentlichen Begleitung.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Insgesamt bietet der Band eine sehr lesenswerte, heutzutage viel zu seltene, weil grundsätzliche und im weitesten Sinne rechtspolitologische Erörterung von Bundesverfassungsgericht und Verfassungsgerichtsbarkeit, Ermächtigung zur Maßstabsetzung und Selbstermächtigung, Legalität und Legitimation, die über die alltägliche, bloße Kommentierung von Entscheidungen weit hinausreicht.«