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Gestützt auf mehr als 500 Abbildungen entwirft der Autor in einer brillanten Analyse das europäische Profil des Zeitalters der Revolutionen. Jenseits der herkömmlichen Ismen und Stilkategorien erschließt er das Doppelgesicht dieser innovativen und wohl widersprüchlichsten und folgenreichsten Epoche der europäischen Kunst.

Produktbeschreibung
Gestützt auf mehr als 500 Abbildungen entwirft der Autor in einer brillanten Analyse das europäische Profil des Zeitalters der Revolutionen. Jenseits der herkömmlichen Ismen und Stilkategorien erschließt er das Doppelgesicht dieser innovativen und wohl widersprüchlichsten und folgenreichsten Epoche der europäischen Kunst.
Autorenporträt
Dr. phil. Werner Hofmann, geb. 1928, Professor der Kunstgeschichte, wirkte von 1960-69 in Wien als Gründungsdirektor des Museums des 20. Jahrhunderts, bis 1990 war er Direktor der Hamburger Kunsthalle. Neben seiner Vortrags- und Lehrtätigkeit, ist er vor allem durch seine Veröffentlichungen zur Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts sowie durch zahlreiche bedeutende Ausstellungen, darunter die Hamburger Ausstellungsreihe 'Kunst um 1800'. bekannt geworden.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.04.1996

Du sollst verlernen
Werner Hofmanns entzweites Jahrhundert · Von Eduard Beaucamp

Die Debatte um die Moderne führt Werner Hofmann, den produktivsten Erben der "Wiener Schule" der Kunstgeschichte, seit Jahrzehnten zurück in ihr Quellgebiet, in ein widersprüchliches, ambivalentes, nach einem Wort Hegels "entzweites" und pluralistisches neunzehntes Jahrhundert. Hofmann legte 1960 mit dem "Irdischen Paradies" ein Epochenpanorama in zwölf Abschnitten vor und befragte in den siebziger Jahren, als Direktor der Hamburger Kunsthalle, in einem berühmt gewordenen neunteiligen Ausstellungszyklus die "Kunst um 1800". Dabei ging es nicht um die Apologie einzelner Ideen, Künstler und Positionen, um Schulbegriffe oder Stilphänomene, sondern gerade um das, was Kritiker ungern akzeptieren und Historiker zu bereinigen versuchen: um die Anerkennung und methodische Durchleuchtung eines Geflechts von Gegensätzen, Widersprüchen, Mehrdeutigkeiten, von scheinbar unvereinbaren Möglichkeiten, "Wahlfreiheiten" und einer fast grenzenlosen Verfügbarkeit der Kunstmittel.

Aufreizend und unvermittelt stehen sich in der Kunst um 1800 Flaxman und Füßli, Blake und Friedrich, Goya und Runge, David und Constable, Cornelius und Turner und - in der Architektur - Puristen wie Ledoux und Eklektizisten wie Soane gegenüber. Die Gegensätze sind womöglich noch schroffer als im zwanzigsten Jahrhundert. Einzelgänger betreten die Szene und fordern einen neuen Gesellschaftsvertrag: das Recht auf Autonomie. Anders als ihre Nachfahren sind diese Künstler noch nicht in kollektive avantgardistische Ideologien und Schulen eingebettet, auch wenn Protagonisten wie Flaxman, David oder Cornelius später in einer der zahlreichen Umkehrbewegungen, die auch zum Signum der Epoche gehören, neue akademische Schulbildungen anstreben. Hofmann möchte das Bewußtsein für den Antagonismus schärfen und fordert seine Anerkennung auch für unser Jahrhundert: für die esoterische wie für die realistische, für die autonome wie für die gesellschaftlich verwickelte und "dienende" Kunst.

Hofmann holt jetzt noch einmal und noch weiter aus und legt eine umfassende Epochenanalyse der Zeit zwischen 1750 und 1830 vor. Der monumentale Essay in 24 Kapiteln ist zunächst ein optisches Ereignis. Das Buch ist mit Illustrationen verschwenderisch ausgestattet und inszeniert das Drama der Bilder mit Beispielen auch aus entlegenen Quellen. Hofmann verlegt jetzt die Umbrüche in die Jahrhundertmitte. Um 1750 erscheinen die Programmschriften von Rousseau, Hogarth, Burke und Winckelmann, Wende-Werke wie Piranesis "Grotteschi" und "Carceri" oder Reynolds' Parodie der "Schule von Athen". Mit dem Bau von Strawberry Hill wird damals begonnen. Als Gradmesser des Umbruchs dient Hofmann das Regelwerk, das Diderot auch für die Malerei aufgestellt hat: die Forderung des eindeutigen Blickpunkts, das Gebot der drei Einheiten in der Darstellung (Einheit von Raum, Zeit und Handlung), das Verbot der Stil- und Realitätsmischung. Diese Gesetzestafeln beginnen die Künstler zu zerbrechen. Sie lösen den illusionistischen Erfahrungsraum und das einheitliche Raumkontinuum der Bilderzählung auf, montieren verschiedene Realitätsschichten, verspiegeln Zeiten und Bedeutungen und setzen das Nacheinander in Gleichzeitigkeit um. Die Künstler stiften Zusammenhänge des Zusammenhanglosen, entwickeln - etwa mit den zwischen Tiepolo, Piranesi und Goya aufblühenden "Caprichi" - neue Bild- und Erzählformen, die subjektiven Impulsen, Phantasien und Assoziationen folgen, aber auch zum Träger moderner Weltbilder und Ideologien werden. Schließlich widersprechen sie der Stilreinheit durch Stilmischungen, der Norm und Konvention durch "Wahlfreiheit". Hofmann bringt diese Umschichtungen, den Zerfall des homogenen und eindeutigen Werks, des "monofokalen Fensterbildes" in der Nachfolge Albertis auf zwei Leitbegriffe - "Desintegration" und "Polyfokalität". Beide Stichworte begleiten auf der verschlungenen Wanderung durch das "entzweite Jahrhundert".

Der Autor diagnostiziert die gleichen Befunde quer durch die Gattungen, Architektur und die neuen Gebrauchs- und Dekorationskünste eingeschlossen. Er verfolgt sie von Fragen der Bildform, der Komposition, der Ikonographie und gesellschaftlichen Repräsentation bis zu komplizierten seelischen Dispositionen. So stellt sich für Hofmann Persönlichkeit und Werk des labilen, "zwischen Bindungsangst und Bindungslosigkeit schwankenden" Füßli "in den Dimensionen der Wahlfreiheit und Verfügbarkeit" dar.

Jeder Künstler, jedes Land versucht, auch je nach der gesellschaftlichen Verfassung, mit diesen Labilitäten zurechtzukommen. Die einen passen sich den Veränderungen geschmeidig an; andere werden in Depressionen und Verzweiflungen gestürzt. Die Engländer, voran der Satiriker Hogarth, richten sich in einem bühnenhaften Weltbild mit schnell wechselnden Szenarien und Charakteren ein; sie schwanken zwischen Karikierung und Idealisierung. Neben der epidemischen Nervosität und Krisenanfälligkeit in Malerei und Zeichnung geben sich Architektur und Plastik stabiler. Hier ist die Wahlfreiheit Ausweis aufklärerischer Souveränität, enzyklopädischer Geschichtskenntnis und Weltläufigkeit - wenn Walpole Gotisches, Griechisches, Maurisches und Chinesisches nebeneinanderstellt, wenn Laugier schon 1765 für eine Kirche ein klassisches Äußeres und ein gotisches Inneres vorschlägt und Schinkel die Stilwahl an die Funktion der Bauten knüpft. In der stets statiösen, offiziellen Skulptur mischen sich Idealismus und Realismus, Poesie und Prosa, Zeitlosigkeit und Zeitkostüm, ikonische Stilisierung und historische Treue. In Hofmanns Slalom durch die Stilgeschichte, die Psychologie, die Gesellschaft und Geschichte werden die Prinzipien und Begriffe bisweilen überstrapaziert: Bifokal präsentiert sich am Ende noch das Krönungszeremoniell Napoleons in Notre-Dame.

Zwischendurch fragt man sich, ob das Repoussoir einer monolithisch-heilen Vorgeschichte richtig ist und ob dafür Theoretiker von Alberti bis Diderot die geeigneten Kronzeugen sind. Wir wissen heute, daß der Blick der "alten Meister" keineswegs monofokal eingeschränkt war, daß schon die Epoche van Eycks Erkenntniskritik ins Bild setzte und verschiedene Realitäten gegeneinander ausspielte und kombinierte. Im Manierismus wurde die Welt auf den Kopf gestellt und aus den Angeln gehoben. Die Historienbilder der Renaissance überblendeten Zeiten und Räume. Die idealistischen Prospekte Claude Lorrains waren imaginär und synthetisch, die "naturalistischen" Landschaften der barocken Niederländer, auf die sich der in Bildern philosophierende C.D.Friedrich stützen konnte, waren gleichzeitig symbolistisch verschlüsselt und konnten wie die Bibel gelesen werden. Hier hob der angeblich monofokale "Blick aus dem Fenster" auf eine andere Realität ab. Hinzuweisen ist auch auf die Ahnen einer abgründigen, nachtschwarzen und verzweifelten Romantik, auf Bosch, Callot und Bellange, auf Salvator Rosa, Magnasco und Crespi.

Werner Hofmann weist selber auf Schritt und Tritt nach, daß sich die "Revolution" - der Begriff meint ja die Rückkehr in eine ursprüngliche historische Konstellation - auf Leitbilder aus der Geschichte berief und das Neue aus Rückgriffen hervorging, Fortschritt und Regression sich dabei unlösbar verknäueln. So verlief die französische Geschichte von der Revolution bis zur Herrschaft Napoleons nach dem Vorbild und in ziemlich genauer Parallele zur römischen Geschichte zwischen Republik und Kaiserzeit. Die neue Historienmalerei stützt sich auf Vorbilder aus Renaissance und Barock. Die Nazarener wollen mit der Wiedererweckung vorraffaelischer und mittelalterlicher Inhalte, Formen und Techniken christliche Kunst neu begründen. Bei der Montage vielschichtiger Realitäten im Bild half der Rückgriff auf die mittelalterlichen Mehrfeldbilder, auf das Triptychon und die alten Bild-Rahmen-Dialoge. "Desintegration", so Hofmann, schlägt auch in "Reintegration" um, die aber bei Friedrich und Runge weit über die alten ikonographischen Zusammenhänge auf Vorstellungen von einem modernen "Gesamtkunstwerk" zielt.

Zu den spannendsten Passagen des Buches gehört das vorletzte Kapitel, das sich der Kunstpolitik der Restauration und dem Umschlag vom Geniekult und dem Autonomiegehabe ins Verlangen nach neuen Bindungen widmet. Beispiele der "Reintegration", einer neuen Zusammenführung und Dienstwilligkeit der Künste, sind das Paris der Bourbonen, das München Ludwigs I. und das Berlin Friedrich Wilhelms III. Konservative Aufgaben sind nun Akademien als neuer Hort von Norm und Regel, Museen und Kirchen, Wandbilder und Denkmäler - lauter gesellschaftsstabilisierende und gemeinschaftsbildende, bald auch propagandistische und nationalistische Gesamtkunstwerke. Die radikale Moderne scheint sich zu vertagen, um in einem zweiten Schub und gestärkt im Kampf gegen die Restauration "um 1900" noch einmal durchzubrechen. Erst heute scheint sie mangels Zielen und Gegnern zu versanden.

Ins Zentrum des modernen Nervensystems trifft vor allem das quälende Leben und Denken in Widersprüchen. Viele Künstler treibt dies Stigma in die Zerrissenheit, ja in den Wahnsinn. Andere ermächtigt es zur Ironie und zu einem bisweilen zynisch getönten Relativismus. Wieder andere entwickeln daraus das Gefühl weltüberlegener Freiheit und der subjektiven Verfügbarkeit und Machbarkeit von Geschichte. Ein weiteres Stichwort läßt sich Hofmann vom englischen Akademiepräsidenten Joshua Reynolds geben, das Gebot des "Verlernens": die Empfehlung, die Regeln und Normen, aber auch das Können und die geschichtliche Erfahrung, ja die alte Kultur aufzugeben, um einen Neuanfang zu wagen, dabei das Regressive, Barbarische, Primitive, das Amorphe, Unbestimmte und Unentwickelte zu kultivieren und produktiv zu nutzen.

Die "Kunst des Verlernens" erschließt den vielleicht zukunftsmächtigsten Ausdrucksbereich einer geschichtsmüden Moderne. Sie führt schon im Zeitalter der Revolutionen zur puristischen Tugendlehre, ja zum Tugendterror des Klassizismus, zur frommen Einfalt der Nazarener und zu den regressiv-nostalgischen Geschichtskonstruktionen des Historismus. Die radikalste Tendenz manifestiert sich in der Suche nach einer geschichts- und weltüberwindenden Urform und Totalform, nach dem "Weltei" und der "Ersten Figur der Schöpfung" bei Blake und Runge. Goya hingegen stößt auf den Ursprung in einer animalischen Triebnatur, welche die Menschheit verbindet und die Motorik der Geschichte und der Gesellschaft steuert. So ist bei Runge die Regression positiv mit der Hoffnung auf einen neuen Menschheitsfrühling besetzt, bei dem Realisten Goya dagegen negativ mit der Ahnung einer neuen, die mühsam errungene Humanität, Aufklärung und Kultur aufsprengenden Barbarei.

Hofmanns Text ist so heterogen, so ungleichmäßig und collagenhaft wie sein Gegenstand, die Epoche, die er beschreibt. Das Rückgrat seiner Darstellung sind gleichsam filmische Röntgenbilder. Eine Epoche wird im Medium ihrer Bilder beschrieben und aus solcher Innensicht durchleuchtet. Der Blick fällt von den Künstlern auf politische und gesellschaftliche Vorgänge und von diesen wieder zurück auf die Werke und ihre Urheber. Den Protagonisten sind monographische Einlagen gewidmet. Einzelne Exkurse, etwa über den Ossian-Kult, bereichern das Panorama. Hofmanns Darstellung ist streckenweise dramatisch, besonders im Kapitel über die Verstrickungen Jacques-Louis Davids in die Revolution, den Napoleon-Kult und die Restauration. Andere Passagen wirken wie Collagen aus einem unerschöpflichen Zettelkasten. Hofmann beherrscht und inszeniert virtuos ein riesiges Geschichtsarchiv, läßt sich aber nicht in die Karten schauen: Das Buch erspart sich erstaunlicherweise den Anmerkungsapparat und den genauen Nachweis der Myriaden von Zitaten.

Werner Hofmann: "Das entzweite Jahrhundert. Kunst zwischen 1750 und 1830". C.H.Beck Verlag, München 1995. 720 S., 563Abb., geb., 298,- DM.

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