Europa kommt aus Asien! Sie ist eine hübsche Prinzessin, die vom lüsternen Göttervater Zeus übers Meer entführt und an der Küste Kretas abgesetzt wird. Im übrigen hat die Antike keinen Europa-Begriff. Sie erlebt sich selbst als einen zusammenhängenden Kulturraum, zu dem Griechen und Römer, die Bewohner Vorderasiens, Ägypter, Karthager und noch viele andere Völker gehören. In diesem kulturell unendlich reichen Völkergemisch schießen so viele Impulse auf, dass die damals frei werdenden politischen, geistigen, kulturellen und religiösen Kräfte das sich erst langsam herausbildende Europa nachhaltig prägen. Hartmut Leppin spürt diesem Entstehungsprozess nach, erzählt die Geschichte der Anfänge Europas, erhellt ihre wichtigsten Weg- und Wendemarken. Dabei erläutert er in diesem Zusammenhang bedeutsame Schlüsselbegriffe wie Freiheit, Imperium und Religion. So entsteht ein anschauliches Bild des antiken Erbes, von dem Europa bis auf den heutigen Tag zehrt und das nicht nur Europa prägte.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.12.2010Was hier vorher geschah
Geschichten von Europa, der launischen Prinzessin
Beim Historikertag wurde jedem Referenten eine Tasche mit Werbematerial ausgehändigt. Zu den wenigen Stücken, die das rasche Aussortieren überlebten, gehörte ein Beck-Band, der vom Verlag vollmundig als das "künftige Standardwerk" angepriesen wird. Es handelt sich um Hartmut Leppins "Das Erbe der Antike", und der eigentliche Grund, warum es in jeder Werbetasche steckte, war, dass Beck zwei neue Reihen populärer Einführungswerke zu lancieren hatte: eine "C. H. Beck Geschichte Europas" mit Leppins Buch als erstem von zehn Bänden und eine ebenfalls zehnbändige "Europäische Geschichte im 20. Jahrhundert".
Erst vor wenigen Jahren hat der Verlag mit der ambitionierten Reihe "Europa bauen", einem Gemeinschaftsunternehmen mit vier anderen europäischen Verlagen, spektakulär Schiffbruch erlitten. Als Luigi Canfora eine Geschichte der Demokratie aus kommunistischer Perspektive vorlegte, verweigerte Beck als einziger der fünf Verlage eine Publikation und brach damit das europäische Kooperationsabkommen.
Dass Canforas Rundumschlag gegen das liberaldemokratische Europa im Hause Beck für derart rote Köpfe sorgen konnte, hatte direkt mit dem Programm von "Europa bauen" zu tun. Dieses nämlich war ganz der politischen Sinnstiftung für eine vermeintlich alte, endlich zu sich selbst findende Gemeinschaft verpflichtet und stellte die Reihe damit just in jene geschichtswissenschaftliche Tradition, die sie zu überwinden vorgab: Würde man im pompösen Geleitwort von Jacques le Goff "Europa" durch "unsere Nation" ersetzen, wäre man schon dem Klang jener wissenschaftlichen Predigten nahe, die nationalistische Historiker um 1900 gerne gehalten haben. Das Fundament von "Europa bauen" war ein affirmativer Geist, der sich von Canfora mit Leichtigkeit erschüttern ließ.
Sind die jüngsten beckschen Europa-Reihen vor einem ähnlichen Schicksal gefeit? Grund zur Zuversicht gibt, dass die Ansprüche konzeptionell wie inhaltlich heruntergefahren wurden. Die "Geschichte Europas" ist nach Epochen gegliedert und wird nicht mehr explizit als Beitrag zum europäischen Einigungsprozess verkauft, während die "Europäische Geschichte des 20. Jahrhunderts" sogar in nationalgeschichtliche Monographien unterteilt ist, womit sie sich schon fast wieder dem Vorwurf aussetzt, ein vorgestriges Bild der politischen Geschichte zu reproduzieren.
Allerdings: von der Betrachtung der europäischen Geschichte als Heilsweg in den Schoß der politischen Union hat sich der Verlag noch nicht ganz verabschiedet. Betroffen davon ist vor allem die "Geschichte Europas". Die Reihe solle zeigen, "was ,Europa' in den unterschiedlichen Epochen seiner langen Geschichte ausmachte und was für Vorstellungen jeweils mit dem Begriff verbunden wurden". Das klingt nach einer Vereinigung des Unvereinbaren, einer Paarung von Essentialismus und Konstruktivismus: Einerseits geht es um das Wesen Europas in seinen historischen Erscheinungsformen, andererseits um den Aufbau und Umbau von Europakonzepten.
Diese Herausforderung zu meistern dürfte für alle Autoren ein Kraftakt sein. Für den Althistoriker Leppin ist es ein Ding der Unmöglichkeit, und er ist sich dessen wohlbewusst. Er nennt die "Rede von einem antiken Europa" anachronistisch, "denn die Vorstellung eines Europa in einem emphatischen Sinne ist, wann immer sie entstanden sein mag, nicht antik. Europa war für die Antike eine Frauengestalt der Mythologie, die ironischerweise gar nicht aus Europa stammte, sondern aus dem vorderasiatischen Phönizien." Zudem bilde nicht der Kontinent, sondern der Mittelmeerraum das Zentrum der antiken Welt.
Um den Band dennoch für die Reihe zu retten, verschreibt sich Leppin ganz der Teleologie und wird damit dem missverständlichen Buchtitel vom "Erbe der Antike", bei dem man eine Wirkungsgeschichte der alten Griechen und Römer erwarten würde, auf indirektem Weg gerecht. Leppin erzählt zwar eine Geschichte der Antike, gliedert diese aber nach drei für die spätere Geschichte Europas wegweisenden Leitthemen: "Freiheit", "Reichsgedanke" und "Wahrer Glaube". So erfährt man zum Beispiel viel über die Organisation und Mission des frühen Christentums, kaum aber etwas über die heidnischen Riten von Griechen und Römern. Obwohl das Büchlein klar gegliedert und gut geschrieben ist, vermag es damit keinen ausgewogenen Überblick über die antike Geschichte zu geben, wie ihn Leppin selbst vor ein paar Jahren mit seiner (ebenfalls bei Beck erschienenen) "Einführung in die Alte Geschichte" vorgelegt hat.
Wie funktioniert das Programm der "C. H. Beck Geschichte Europas" in späteren Epochen? Erste Anhaltspunkte gibt unter anderem der Band von Hartmut Leppins Frankfurter Kollegin Luise Schorn-Schütte über "Konfessionskriege und europäische Expansion" zwischen 1500 und 1648. Wie Leppin bietet Luise Schorn-Schütte eine Abhandlung mit einer übersichtlichen Gesamtstruktur, anders als er versucht sie aber, das von ihr behandelte Zeitalter in seiner Totalität zu erfassen. Von der Staats- und Verfassungsgeschichte über die Religions- und Bildungsgeschichte bis zur Sozial- und Kolonialgeschichte wird nahezu alles abgedeckt. Luise Schorn-Schütte lässt sich dabei vom Anspruch leiten, "den in sich abgeschlossenen Charakter der Frühen Neuzeit zu beschreiben". Klarer kann man sich kaum gegen eine teleologische Geschichtsbetrachtung aussprechen.
Noch erstaunlicher an diesem Buch ist aber, dass sie den frühneuzeitlichen Vorstellungen über Europa bloß ein paar allgemeine Sätze widmet. Im Unterschied zu Leppin hätte sie hier aus dem Vollen schöpfen können, zumal sich nach 1500 das Nachdenken über Europa im Zeichen der Türkenbedrohung und der Expansion nach Übersee intensiviert und transformiert hat - wenn auch nicht in einer Weise, die sich als Vorleistung zur europäischen Einigung darstellen ließe. So gelungen der Epochenüberblick der Autorin auch ist, in die Beck-Reihe zur "Geschichte Europas" könnte man ebenso gut irgendeine andere der vielen Einführungen in die Frühneuzeitliche Geschichte aufnehmen.
Wie jene identifiziert Luise Schorn-Schütte "Europa" unausgesprochen mit der katholisch-protestantischen Christenheit. Bei allem Bemühen um eine Beschreibung der Frühen Neuzeit aus ihrer eigenen historischen Bedingtheit heraus bleibt auch hier das teleologische Fundament stehen.
CASPAR HIRSCHI.
Luise Schorn-Schütte: "Konfessionskriege und europäische Expansion". Europa 1500 - 1648.
Verlag C. H. Beck, München 2010. 276 S., br., 14,95 [Euro].
Hartmut Leppin: "Das Erbe der Antike". Verlag C. H. Beck, München 2010. 288 S., br., 14,95 [Euro].
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Geschichten von Europa, der launischen Prinzessin
Beim Historikertag wurde jedem Referenten eine Tasche mit Werbematerial ausgehändigt. Zu den wenigen Stücken, die das rasche Aussortieren überlebten, gehörte ein Beck-Band, der vom Verlag vollmundig als das "künftige Standardwerk" angepriesen wird. Es handelt sich um Hartmut Leppins "Das Erbe der Antike", und der eigentliche Grund, warum es in jeder Werbetasche steckte, war, dass Beck zwei neue Reihen populärer Einführungswerke zu lancieren hatte: eine "C. H. Beck Geschichte Europas" mit Leppins Buch als erstem von zehn Bänden und eine ebenfalls zehnbändige "Europäische Geschichte im 20. Jahrhundert".
Erst vor wenigen Jahren hat der Verlag mit der ambitionierten Reihe "Europa bauen", einem Gemeinschaftsunternehmen mit vier anderen europäischen Verlagen, spektakulär Schiffbruch erlitten. Als Luigi Canfora eine Geschichte der Demokratie aus kommunistischer Perspektive vorlegte, verweigerte Beck als einziger der fünf Verlage eine Publikation und brach damit das europäische Kooperationsabkommen.
Dass Canforas Rundumschlag gegen das liberaldemokratische Europa im Hause Beck für derart rote Köpfe sorgen konnte, hatte direkt mit dem Programm von "Europa bauen" zu tun. Dieses nämlich war ganz der politischen Sinnstiftung für eine vermeintlich alte, endlich zu sich selbst findende Gemeinschaft verpflichtet und stellte die Reihe damit just in jene geschichtswissenschaftliche Tradition, die sie zu überwinden vorgab: Würde man im pompösen Geleitwort von Jacques le Goff "Europa" durch "unsere Nation" ersetzen, wäre man schon dem Klang jener wissenschaftlichen Predigten nahe, die nationalistische Historiker um 1900 gerne gehalten haben. Das Fundament von "Europa bauen" war ein affirmativer Geist, der sich von Canfora mit Leichtigkeit erschüttern ließ.
Sind die jüngsten beckschen Europa-Reihen vor einem ähnlichen Schicksal gefeit? Grund zur Zuversicht gibt, dass die Ansprüche konzeptionell wie inhaltlich heruntergefahren wurden. Die "Geschichte Europas" ist nach Epochen gegliedert und wird nicht mehr explizit als Beitrag zum europäischen Einigungsprozess verkauft, während die "Europäische Geschichte des 20. Jahrhunderts" sogar in nationalgeschichtliche Monographien unterteilt ist, womit sie sich schon fast wieder dem Vorwurf aussetzt, ein vorgestriges Bild der politischen Geschichte zu reproduzieren.
Allerdings: von der Betrachtung der europäischen Geschichte als Heilsweg in den Schoß der politischen Union hat sich der Verlag noch nicht ganz verabschiedet. Betroffen davon ist vor allem die "Geschichte Europas". Die Reihe solle zeigen, "was ,Europa' in den unterschiedlichen Epochen seiner langen Geschichte ausmachte und was für Vorstellungen jeweils mit dem Begriff verbunden wurden". Das klingt nach einer Vereinigung des Unvereinbaren, einer Paarung von Essentialismus und Konstruktivismus: Einerseits geht es um das Wesen Europas in seinen historischen Erscheinungsformen, andererseits um den Aufbau und Umbau von Europakonzepten.
Diese Herausforderung zu meistern dürfte für alle Autoren ein Kraftakt sein. Für den Althistoriker Leppin ist es ein Ding der Unmöglichkeit, und er ist sich dessen wohlbewusst. Er nennt die "Rede von einem antiken Europa" anachronistisch, "denn die Vorstellung eines Europa in einem emphatischen Sinne ist, wann immer sie entstanden sein mag, nicht antik. Europa war für die Antike eine Frauengestalt der Mythologie, die ironischerweise gar nicht aus Europa stammte, sondern aus dem vorderasiatischen Phönizien." Zudem bilde nicht der Kontinent, sondern der Mittelmeerraum das Zentrum der antiken Welt.
Um den Band dennoch für die Reihe zu retten, verschreibt sich Leppin ganz der Teleologie und wird damit dem missverständlichen Buchtitel vom "Erbe der Antike", bei dem man eine Wirkungsgeschichte der alten Griechen und Römer erwarten würde, auf indirektem Weg gerecht. Leppin erzählt zwar eine Geschichte der Antike, gliedert diese aber nach drei für die spätere Geschichte Europas wegweisenden Leitthemen: "Freiheit", "Reichsgedanke" und "Wahrer Glaube". So erfährt man zum Beispiel viel über die Organisation und Mission des frühen Christentums, kaum aber etwas über die heidnischen Riten von Griechen und Römern. Obwohl das Büchlein klar gegliedert und gut geschrieben ist, vermag es damit keinen ausgewogenen Überblick über die antike Geschichte zu geben, wie ihn Leppin selbst vor ein paar Jahren mit seiner (ebenfalls bei Beck erschienenen) "Einführung in die Alte Geschichte" vorgelegt hat.
Wie funktioniert das Programm der "C. H. Beck Geschichte Europas" in späteren Epochen? Erste Anhaltspunkte gibt unter anderem der Band von Hartmut Leppins Frankfurter Kollegin Luise Schorn-Schütte über "Konfessionskriege und europäische Expansion" zwischen 1500 und 1648. Wie Leppin bietet Luise Schorn-Schütte eine Abhandlung mit einer übersichtlichen Gesamtstruktur, anders als er versucht sie aber, das von ihr behandelte Zeitalter in seiner Totalität zu erfassen. Von der Staats- und Verfassungsgeschichte über die Religions- und Bildungsgeschichte bis zur Sozial- und Kolonialgeschichte wird nahezu alles abgedeckt. Luise Schorn-Schütte lässt sich dabei vom Anspruch leiten, "den in sich abgeschlossenen Charakter der Frühen Neuzeit zu beschreiben". Klarer kann man sich kaum gegen eine teleologische Geschichtsbetrachtung aussprechen.
Noch erstaunlicher an diesem Buch ist aber, dass sie den frühneuzeitlichen Vorstellungen über Europa bloß ein paar allgemeine Sätze widmet. Im Unterschied zu Leppin hätte sie hier aus dem Vollen schöpfen können, zumal sich nach 1500 das Nachdenken über Europa im Zeichen der Türkenbedrohung und der Expansion nach Übersee intensiviert und transformiert hat - wenn auch nicht in einer Weise, die sich als Vorleistung zur europäischen Einigung darstellen ließe. So gelungen der Epochenüberblick der Autorin auch ist, in die Beck-Reihe zur "Geschichte Europas" könnte man ebenso gut irgendeine andere der vielen Einführungen in die Frühneuzeitliche Geschichte aufnehmen.
Wie jene identifiziert Luise Schorn-Schütte "Europa" unausgesprochen mit der katholisch-protestantischen Christenheit. Bei allem Bemühen um eine Beschreibung der Frühen Neuzeit aus ihrer eigenen historischen Bedingtheit heraus bleibt auch hier das teleologische Fundament stehen.
CASPAR HIRSCHI.
Luise Schorn-Schütte: "Konfessionskriege und europäische Expansion". Europa 1500 - 1648.
Verlag C. H. Beck, München 2010. 276 S., br., 14,95 [Euro].
Hartmut Leppin: "Das Erbe der Antike". Verlag C. H. Beck, München 2010. 288 S., br., 14,95 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Die Zurückhaltung, die sich die neue Beck-Reihe zur europäischen Geschichte bei geistes- und ideengeschichtlichen Überlegungen offenbar auferlegt hat, stößt bei Stephan Speicher auf Enttäuschung. Von den ersten drei Bänden überzeugt ihn deshalb nur Hartmut Leppins Buch über "Das Erbe der Antike" in seinem unter die Leitbegriffe "Freiheit", "Imperium" und "wahrer Glaube" geordneten Aufbau. Hier zeigt der Rezensent Bewunderung für die klaren Linien des Autors und seinen Mut, die Antike aus zeitgenössischer Sicht nach ihrer "Identität" zu befragen. Dabei blase Leppin dennoch nicht in die "Abendlandstrompete", betont Speicher, dem es aber wichtig ist, hier die antiken Wurzeln europäischen Selbstverständnisses umrissen zu sehen. Daher kann der Rezensent kann nur bedauern, dass dafür in der Reihe nur ein Band zur Verfügung steht.
© Perlentaucher Medien GmbH
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