B Die Folgen nationalsozialistischer Prägung über drei Generationen S Die "Napola" - wie die gebräuchliche Abkürzung für "Nationalpolitische Erziehungsanstalt" lautete - war eine Schlüsselinstitution des "Dritten Reiches": die pädagogische Zuchtstätte des Nationalsozialismus schlechthin. Hier sollte die künftige "Führergeneration" des Staates systematisch herangezogen werden. Die pädagogische Methodik der Napola beruhte auf dem Wechselspiel von Verführung und Zerstörung: Zerstörung der Individualität der Schüler durch die konsequente Entfernung aus dem zivilen Leben, durch extremen körperlichen Drill und ideologische Abrichtung. Verführung durch außergewöhnliche - und für Jugendliche attraktive - Angebote (vom Reiten bis zum Segelfliegen) und das Karriereversprechen einer künftigen Eliteposition. Keiner, der eine dieser Schulen durchlaufen hat, ist davon unberührt geblieben. Viele haben ihren dort erteilten "Auftrag" erfüllt. Sie haben führende Positionen in Wirtschaft un d Gesellschaft erreicht - freilich nicht mehr im totalitären Staat des Nationalsozialismus, sondern, nach 1945, in der jungen bundesrepublikanischen Demokratie. Wenn das Konzept der Eliteerziehung weitgehend aufgegangen ist, was ist dann aus dem "anderen" Teil der Erziehung, der Bindung an Führer und Vaterland, dem injizierten Glauben an rassische Überlegenheit und historische Sendung des deutschen Volkes geworden? Wie wirkt sich die "nationalsozialistische Imprägnierung" nach dem als traumatisch erfahrenen Bruch von 1945 aus? Das Buch geht den unbewussten Identifikationen und Prägungen nach, die das historische Ende des Nationalsozialismus überdauert haben. Die Autoren haben in Tiefeninterviews nicht nur ehemalige Napolaschüler befragt, sondern auch ihre Nachkommen, um die Frage zu beantworten, ob es eine Erbschaft dieser Zeit gibt, die unbewusst auch in den Folgegenerationen weiterwirkt. Mit diesem Buch liegt die erste psychoanalytisch fundierte "Generationengeschichte" zu der im mer wieder geforderten "Psychohistorie der Deutschen" vor.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.10.1996Kinder als NS-Akteure?
Die "Napolas" als interdisziplinäre Generationengeschichte
Christian Schneider, Cordelia Stillke, Bernd Leineweber: Das Erbe der Napola. Versuch einer Generationengeschichte des Nationalsozialismus. Hamburger Edition, Hamburg 1996. 394 Seiten, 58,- Mark.
Napolas hießen im Volksmund jene Nationalpolitischen Erziehungsanstalten der Nationalsozialisten, deren offizielles Kürzel eigentlich NPEA war. Sie sollten Hitler mit "gutem Führernachwuchs" versorgen. Es gab am Ende des Dritten Reiches mehr als dreißig Napolas. Sie alle sind 1945 mit dem Nationalsozialismus untergegangen. Über ihre Entstehungsgeschichte und ihre pädagogischen Ziele, über ihre Wandlungen und ihre Agonie sind die Arbeiten von Horst Überhorst (Elite für die Diktatur - Die Nationalpolitischen Erziehungsanstalten, Droste-Verlag 1969) und Harald Scholtz (Nationalsozialistische Eliteschulen - Internatsschulen als Herrschaftsmittel des Führerstaates, Vandenhoeck & Ruprecht 1973) nach wie vor Standardwerke. Über einzelne Napola-Zöglinge und ihre Prägung durch diese Anstalten hat es dagegen noch keine größeren Untersuchungen gegeben, sieht man einmal von dem ab, was dieser oder jener "Jungmann" (so hießen die Schüler seinerzeit) von sich aus mehr oder weniger ausführlich über seine Erlebnisse in einer NPEA berichtet hat.
Das empfand eine Gruppe junger Soziologen offenbar als einen dringend der Abhilfe bedürftigen Mangel. Die Wissenschaftler fragten sich, was wohl über die Jahre geblieben sei von dem, was den "Jungmannen" damals auf den Napolas eingetrichtert wurde, und nahmen sich vor, in einer Reihe von ausführlichen Interviews mit noch lebenden und aussagebereiten ehemaligen "Napolanern" dem "Erbe" nationalsozialistischer "Zurichtung" in den Köpfen und Seelen der Betroffenen nachzuspüren. Die Hamburger "Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur" sorgte für die "großzügige Finanzierung" ihres Projekts, wie sie in der Einleitung des Buches dankbar vermerken, welches aus dem Forschungsvorhaben schließlich nach langwieriger Vorarbeit entstand.
Die Gruppe nennt ihr Werk den "Versuch einer Generationengeschichte des Nationalsozialismus, die drei Generationen umfaßt". Beraten wurde sie dabei von "psychoanalytischen Supervisoren", vom Arbeitskreis Sozialpsychologie des Hamburger Instituts für Sozialforschung, von der Arbeitsgruppe "Folgen der Naziverfolgung" und vom "Dienstags-Jour fixe des Sigmund-Freud-Instituts". Ihr "besonderer Dank" aber gilt "Kathrin Scheerer und Jan Philipp Reemtsma dafür, daß sie, während des gesamten Projektverlaufs, unnachgiebig die Schwachstellen unseres Vorhabens kritisiert und zugleich hinter ihm gestanden haben".
Die Aufzählung all dieser Namen und Institutionen ist leider unerläßlich, damit der Leser von Anfang an hellhörig wird. Er wird sich dann seinen Teil denken. Aber auch bei denen, die arglos sind und nichts wissen von der ideologischen Fixiertheit einer sich streng wissenschaftlich gebenden, aber politisch argumentierenden Forschungsrichtung, muß schon die Anlage des Projekts "Generationengeschichte des Nationalsozialismus" Widerspruch hervorrufen: Ist es zulässig, aus einer ohnehin schon relativ kleinen Gruppe möglicher Interview-Kandidaten lediglich ein halbes Dutzend Gesprächspartner auszuwählen und aus deren Aussagen dann bestimmte verallgemeinernde Schlüsse zu ziehen?
Selbst Fachkollegen der Wissenschaftler-Gruppe dürften gegen die Methode eines solchen beschränkten Samples Bedenken äußern, zu schweigen von ehemaligen NPEA-Zöglingen und den Interviewten selbst, von denen einer bereits heftig gegen die Interpretation seiner Aussagen protestiert und sogar "juristische Schritte" gegen die Autoren des hier vorgestellten Buches angekündigt hat. Immerhin gab es bei Kriegsende in den fast vierzig Napolas in Deutschland mehrere tausend Schüler. Wieviel Gewicht kommt angesichts solcher Zahlen den Berichten von einem halben Dutzend ehemaliger Napolaner zu? Besteht nicht schon ein gewaltiger Unterschied zwischen solchen "Jungmannen", die vor dem Krieg viele Jahre eine Anstalt besuchten, und anderen, die erst während des Krieges dorthin kamen und vielleicht nur zwei oder drei Jahre die nationalsozialistische "Zurichtung" erfuhren? Und war das Klima von Anstalt zu Anstalt nicht oftmals sehr verschieden?
Fragen über Fragen. Die Autoren haben sich mit allerlei einschränkenden, selbstkritischen Bemerkungen gegen solche Einwände zu wappnen versucht und im Epilog Leser zum Widerspruch ausdrücklich aufgefordert. Gleichwohl schrecken sie nicht vor ziemlich weitreichenden Behauptungen zurück, die nun erst einmal in der Welt sind und bei einem ahnungslosen Publikum nachhaltige Wirkung erzeugen können. Der Versuch, Geschichte aus der biographischen Perspektive von Akteuren zu rekonstruieren, um so "das heroische Abstraktum Geschichte zu entmystifizieren", ist sicher legitim, bedarf aber wohl einer breiteren Basis als der hier gebotenen. Außerdem ist zu fragen, ob man Kinder und Jugendliche als "Akteure" des NS-Regimes bezeichnen darf. Aus dem, was die Forscher über sich, ihren Werdegang, ihre politische Einstellung bewußt oder unbewußt preisgeben und was sie über das Ziel ihres Forschungsvorhabens erzählen, entsteht überdies der Verdacht, daß sie, geprägt von Erlebnissen und Erfahrungen während der Studentenrevolten Ende der sechziger und Anfang der siebziger Jahre, mit vielen Vorurteilen an ihr Projekt herangegangen sind. Das drückt sich zum Beispiel in dem Satz aus: "Seit dem Zivilisationsbruch gibt es keine unschuldigen deutschen Biographien mehr: Wer vor 1930 geboren ist, steht unter einem meist unausgesprochenen Verdacht. Was hat er damals getan?"
Wer so argumentiert, darf sich nicht wundern, wenn er auch in sich den "heimlichen Selbstverdacht" bohren spürt, "irgend etwas vom Nazi-Erbe sei auch in einem selbst noch wirksam". Insofern stimmt die These der Autoren: "Es gibt keine Gnade der späten Geburt." - "Die vielleicht wichtigste deutsche Frage für die Gegenwart" lautet folglich nach Ansicht der Forschergruppe vor dem Hintergrund einer "Selbstreflexion, die notwendig die eigene Lebensgeschichte retrospektiv erweitert": "Was hätte ich damals getan?" Die Antwort liegt angeblich "in der Perspektive einer ,unmöglichen' Konfrontation von historischer Vergangenheit und biographischer Aktualität". Was diese Perspektive betrifft, so ging es den Autoren nicht etwa nur darum, in Gesprächen mit ehemaligen Absolventen der Napolas "Wirkung und Folgen einer Erziehungspraxis zu untersuchen, die das erklärte Ziel hatte, einen neuen Menschentyp nach dem Rasse- und Verhaltensideal des Nationalsozialismus zu formen", sondern auch Konsequenzen einer pädagogischen "Zurichtung" nachzugehen, die über die eigene Lebensgeschichte hinausweisen; mithin "Konsequenzen, die sich noch in den Biographien ihrer Nachkommen abbilden?"
Das von den Autoren hinter die letzten Worte gesetzte Fragezeichen mildert ein wenig das Erschrecken über ihren Wunsch, Antwort auch auf die Frage zu finden, "wieweit die Napola-Erziehung für die ihr Unterworfenen, vor allem aber in ihrer Weiterwirkung auf die zweite Generation, traumatischen Charakter hatte". Spätestens an dieser Stelle muß gefragt werden, ob sich die Forschergruppe hier nicht doch etwas zu weit auf unsicheres Terrain vorwagt. Wohl nicht ganz zu Unrecht hat einer der Interviewten den Autoren vorgeworfen, sie trieben einen Keil zwischen die Generationen, wenn sie Kinder und sogar Enkelkinder über die "Nazi-Vergangenheit" ihrer Väter und Großväter ausfragten; das röche fast schon nach einer neuen Spielart von Sippenhaftung. Tatsächlich war für die meisten NPEA-"Jungmannen" ihre Napola-Zeit keineswegs so traumatisch, wie die Autoren herausgefunden zu haben glauben. Einer der "Ehemaligen" hat es nach einem Treffen mit früheren Mitschülern auf die Formel gebracht: "Ja, also das Erstaunliche war, daß alle sehr normal geworden sind." So ist es, und es fehlt im Buch jeder konkrete Beweis für die Behauptung, daß "ein nicht geringer Teil der ehemaligen Napola-Schüler" nach dem Krieg "tatsächlich Elite-Positionen einnehmen konnte". Mit dem Satz, daß "alle sehr normal geworden sind", fällt eigentlich das ganze Forschungsprojekt der Soziologen in sich zusammen. Doch das wollten seine Initiatoren natürlich nicht wahrhaben. Wie sie es von Psychologen gelernt haben und wie sie dabei von Psychiatern kräftig unterstützt werden, geheimnissen sie selbst in die trivialsten Vorkommnisse alles Mögliche und Unmögliche hinein, noch dazu in einem schwer verdaulichen Deutsch. Mitunter fragt man sich: Ist dies nun ein politisches, ein soziologisches oder ein medizinisches Buch? Alles drei, sagen die Autoren: "Generationengeschichte ist im Schnittpunkt von Geschichte, Soziologie und Psychologie angesiedelt." Nach wie vor und insbesondere halten die Autoren "die Verbindung von Psychoanalyse und Soziologie für einen paradigmatischen Ansatz interdisziplinärer Forschung". So muten sie dem Leser allerhand zu. Wer einen Widerwillen hat gegen den in diesen Kreisen üblichen Jargon, der lasse besser die Finger von diesem Buch. Dafür ein Beispiel nur. Einmal stellt nach der Aussage einer der drei Wissenschaftler ein Gesprächspartner "eindrucksvoll" einen "Übergangstraum" dar. Das ist "eine psychische Bildung, die lebensbegleitend die Vermittlung von Ichideal und Überich-Normen mit den realen Ichleistungen bewirkt und zugleich dieses Leben ist. Das, was wir ,Übergangstraum' nennen, ist die Summe aller der phantasmatischen Gebilde zwischen Latenz und Erwachsenenleben, die als mögliche ,Lebenskonstruktionen' dienen: Ergebnis einer Arbeit, die versucht, Wunsch und Wirklichkeit so gegeneinander zu führen, daß nicht automatisch schon der Sieg dieser über jene verbürgt ist." Alles klar?
Die namentlich genannten Psychiater, denen für ihre "psychoanalytische Supervision", wie anfangs schon erwähnt, in der Einleitung ausdrücklich gedankt wird, sollen offenbar solchen Sätzen den Stempel strenger Wissenschaftlichkeit aufdrücken. Doch wenn das Buch nicht nur Fachkollegen interessieren, sondern auch ein größeres Laienpublikum fesseln soll, wäre es wahrscheinlich sinnvoller gewesen, die erste "psychoanalytisch fundierte Generationengeschichte" zu der angeblich immer wieder geforderten "Psychohistorie der Deutschen" in einem Stil abzufassen, den der Normalleser auch ohne ein Fachwörterbuch verstehen kann. Wie sagte doch einer der ehemaligen "Napolaner" nach einem Treffen mit früheren Mitschülern? "Ja, also das Erstaunliche war, daß alle sehr normal geworden sind." Die Frage nach der "Normalität" der Verfasser dieses Buches und ihrer "psychoanalytischen Supervisoren" liegt in der Luft. KLAUS NATORP
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die "Napolas" als interdisziplinäre Generationengeschichte
Christian Schneider, Cordelia Stillke, Bernd Leineweber: Das Erbe der Napola. Versuch einer Generationengeschichte des Nationalsozialismus. Hamburger Edition, Hamburg 1996. 394 Seiten, 58,- Mark.
Napolas hießen im Volksmund jene Nationalpolitischen Erziehungsanstalten der Nationalsozialisten, deren offizielles Kürzel eigentlich NPEA war. Sie sollten Hitler mit "gutem Führernachwuchs" versorgen. Es gab am Ende des Dritten Reiches mehr als dreißig Napolas. Sie alle sind 1945 mit dem Nationalsozialismus untergegangen. Über ihre Entstehungsgeschichte und ihre pädagogischen Ziele, über ihre Wandlungen und ihre Agonie sind die Arbeiten von Horst Überhorst (Elite für die Diktatur - Die Nationalpolitischen Erziehungsanstalten, Droste-Verlag 1969) und Harald Scholtz (Nationalsozialistische Eliteschulen - Internatsschulen als Herrschaftsmittel des Führerstaates, Vandenhoeck & Ruprecht 1973) nach wie vor Standardwerke. Über einzelne Napola-Zöglinge und ihre Prägung durch diese Anstalten hat es dagegen noch keine größeren Untersuchungen gegeben, sieht man einmal von dem ab, was dieser oder jener "Jungmann" (so hießen die Schüler seinerzeit) von sich aus mehr oder weniger ausführlich über seine Erlebnisse in einer NPEA berichtet hat.
Das empfand eine Gruppe junger Soziologen offenbar als einen dringend der Abhilfe bedürftigen Mangel. Die Wissenschaftler fragten sich, was wohl über die Jahre geblieben sei von dem, was den "Jungmannen" damals auf den Napolas eingetrichtert wurde, und nahmen sich vor, in einer Reihe von ausführlichen Interviews mit noch lebenden und aussagebereiten ehemaligen "Napolanern" dem "Erbe" nationalsozialistischer "Zurichtung" in den Köpfen und Seelen der Betroffenen nachzuspüren. Die Hamburger "Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur" sorgte für die "großzügige Finanzierung" ihres Projekts, wie sie in der Einleitung des Buches dankbar vermerken, welches aus dem Forschungsvorhaben schließlich nach langwieriger Vorarbeit entstand.
Die Gruppe nennt ihr Werk den "Versuch einer Generationengeschichte des Nationalsozialismus, die drei Generationen umfaßt". Beraten wurde sie dabei von "psychoanalytischen Supervisoren", vom Arbeitskreis Sozialpsychologie des Hamburger Instituts für Sozialforschung, von der Arbeitsgruppe "Folgen der Naziverfolgung" und vom "Dienstags-Jour fixe des Sigmund-Freud-Instituts". Ihr "besonderer Dank" aber gilt "Kathrin Scheerer und Jan Philipp Reemtsma dafür, daß sie, während des gesamten Projektverlaufs, unnachgiebig die Schwachstellen unseres Vorhabens kritisiert und zugleich hinter ihm gestanden haben".
Die Aufzählung all dieser Namen und Institutionen ist leider unerläßlich, damit der Leser von Anfang an hellhörig wird. Er wird sich dann seinen Teil denken. Aber auch bei denen, die arglos sind und nichts wissen von der ideologischen Fixiertheit einer sich streng wissenschaftlich gebenden, aber politisch argumentierenden Forschungsrichtung, muß schon die Anlage des Projekts "Generationengeschichte des Nationalsozialismus" Widerspruch hervorrufen: Ist es zulässig, aus einer ohnehin schon relativ kleinen Gruppe möglicher Interview-Kandidaten lediglich ein halbes Dutzend Gesprächspartner auszuwählen und aus deren Aussagen dann bestimmte verallgemeinernde Schlüsse zu ziehen?
Selbst Fachkollegen der Wissenschaftler-Gruppe dürften gegen die Methode eines solchen beschränkten Samples Bedenken äußern, zu schweigen von ehemaligen NPEA-Zöglingen und den Interviewten selbst, von denen einer bereits heftig gegen die Interpretation seiner Aussagen protestiert und sogar "juristische Schritte" gegen die Autoren des hier vorgestellten Buches angekündigt hat. Immerhin gab es bei Kriegsende in den fast vierzig Napolas in Deutschland mehrere tausend Schüler. Wieviel Gewicht kommt angesichts solcher Zahlen den Berichten von einem halben Dutzend ehemaliger Napolaner zu? Besteht nicht schon ein gewaltiger Unterschied zwischen solchen "Jungmannen", die vor dem Krieg viele Jahre eine Anstalt besuchten, und anderen, die erst während des Krieges dorthin kamen und vielleicht nur zwei oder drei Jahre die nationalsozialistische "Zurichtung" erfuhren? Und war das Klima von Anstalt zu Anstalt nicht oftmals sehr verschieden?
Fragen über Fragen. Die Autoren haben sich mit allerlei einschränkenden, selbstkritischen Bemerkungen gegen solche Einwände zu wappnen versucht und im Epilog Leser zum Widerspruch ausdrücklich aufgefordert. Gleichwohl schrecken sie nicht vor ziemlich weitreichenden Behauptungen zurück, die nun erst einmal in der Welt sind und bei einem ahnungslosen Publikum nachhaltige Wirkung erzeugen können. Der Versuch, Geschichte aus der biographischen Perspektive von Akteuren zu rekonstruieren, um so "das heroische Abstraktum Geschichte zu entmystifizieren", ist sicher legitim, bedarf aber wohl einer breiteren Basis als der hier gebotenen. Außerdem ist zu fragen, ob man Kinder und Jugendliche als "Akteure" des NS-Regimes bezeichnen darf. Aus dem, was die Forscher über sich, ihren Werdegang, ihre politische Einstellung bewußt oder unbewußt preisgeben und was sie über das Ziel ihres Forschungsvorhabens erzählen, entsteht überdies der Verdacht, daß sie, geprägt von Erlebnissen und Erfahrungen während der Studentenrevolten Ende der sechziger und Anfang der siebziger Jahre, mit vielen Vorurteilen an ihr Projekt herangegangen sind. Das drückt sich zum Beispiel in dem Satz aus: "Seit dem Zivilisationsbruch gibt es keine unschuldigen deutschen Biographien mehr: Wer vor 1930 geboren ist, steht unter einem meist unausgesprochenen Verdacht. Was hat er damals getan?"
Wer so argumentiert, darf sich nicht wundern, wenn er auch in sich den "heimlichen Selbstverdacht" bohren spürt, "irgend etwas vom Nazi-Erbe sei auch in einem selbst noch wirksam". Insofern stimmt die These der Autoren: "Es gibt keine Gnade der späten Geburt." - "Die vielleicht wichtigste deutsche Frage für die Gegenwart" lautet folglich nach Ansicht der Forschergruppe vor dem Hintergrund einer "Selbstreflexion, die notwendig die eigene Lebensgeschichte retrospektiv erweitert": "Was hätte ich damals getan?" Die Antwort liegt angeblich "in der Perspektive einer ,unmöglichen' Konfrontation von historischer Vergangenheit und biographischer Aktualität". Was diese Perspektive betrifft, so ging es den Autoren nicht etwa nur darum, in Gesprächen mit ehemaligen Absolventen der Napolas "Wirkung und Folgen einer Erziehungspraxis zu untersuchen, die das erklärte Ziel hatte, einen neuen Menschentyp nach dem Rasse- und Verhaltensideal des Nationalsozialismus zu formen", sondern auch Konsequenzen einer pädagogischen "Zurichtung" nachzugehen, die über die eigene Lebensgeschichte hinausweisen; mithin "Konsequenzen, die sich noch in den Biographien ihrer Nachkommen abbilden?"
Das von den Autoren hinter die letzten Worte gesetzte Fragezeichen mildert ein wenig das Erschrecken über ihren Wunsch, Antwort auch auf die Frage zu finden, "wieweit die Napola-Erziehung für die ihr Unterworfenen, vor allem aber in ihrer Weiterwirkung auf die zweite Generation, traumatischen Charakter hatte". Spätestens an dieser Stelle muß gefragt werden, ob sich die Forschergruppe hier nicht doch etwas zu weit auf unsicheres Terrain vorwagt. Wohl nicht ganz zu Unrecht hat einer der Interviewten den Autoren vorgeworfen, sie trieben einen Keil zwischen die Generationen, wenn sie Kinder und sogar Enkelkinder über die "Nazi-Vergangenheit" ihrer Väter und Großväter ausfragten; das röche fast schon nach einer neuen Spielart von Sippenhaftung. Tatsächlich war für die meisten NPEA-"Jungmannen" ihre Napola-Zeit keineswegs so traumatisch, wie die Autoren herausgefunden zu haben glauben. Einer der "Ehemaligen" hat es nach einem Treffen mit früheren Mitschülern auf die Formel gebracht: "Ja, also das Erstaunliche war, daß alle sehr normal geworden sind." So ist es, und es fehlt im Buch jeder konkrete Beweis für die Behauptung, daß "ein nicht geringer Teil der ehemaligen Napola-Schüler" nach dem Krieg "tatsächlich Elite-Positionen einnehmen konnte". Mit dem Satz, daß "alle sehr normal geworden sind", fällt eigentlich das ganze Forschungsprojekt der Soziologen in sich zusammen. Doch das wollten seine Initiatoren natürlich nicht wahrhaben. Wie sie es von Psychologen gelernt haben und wie sie dabei von Psychiatern kräftig unterstützt werden, geheimnissen sie selbst in die trivialsten Vorkommnisse alles Mögliche und Unmögliche hinein, noch dazu in einem schwer verdaulichen Deutsch. Mitunter fragt man sich: Ist dies nun ein politisches, ein soziologisches oder ein medizinisches Buch? Alles drei, sagen die Autoren: "Generationengeschichte ist im Schnittpunkt von Geschichte, Soziologie und Psychologie angesiedelt." Nach wie vor und insbesondere halten die Autoren "die Verbindung von Psychoanalyse und Soziologie für einen paradigmatischen Ansatz interdisziplinärer Forschung". So muten sie dem Leser allerhand zu. Wer einen Widerwillen hat gegen den in diesen Kreisen üblichen Jargon, der lasse besser die Finger von diesem Buch. Dafür ein Beispiel nur. Einmal stellt nach der Aussage einer der drei Wissenschaftler ein Gesprächspartner "eindrucksvoll" einen "Übergangstraum" dar. Das ist "eine psychische Bildung, die lebensbegleitend die Vermittlung von Ichideal und Überich-Normen mit den realen Ichleistungen bewirkt und zugleich dieses Leben ist. Das, was wir ,Übergangstraum' nennen, ist die Summe aller der phantasmatischen Gebilde zwischen Latenz und Erwachsenenleben, die als mögliche ,Lebenskonstruktionen' dienen: Ergebnis einer Arbeit, die versucht, Wunsch und Wirklichkeit so gegeneinander zu führen, daß nicht automatisch schon der Sieg dieser über jene verbürgt ist." Alles klar?
Die namentlich genannten Psychiater, denen für ihre "psychoanalytische Supervision", wie anfangs schon erwähnt, in der Einleitung ausdrücklich gedankt wird, sollen offenbar solchen Sätzen den Stempel strenger Wissenschaftlichkeit aufdrücken. Doch wenn das Buch nicht nur Fachkollegen interessieren, sondern auch ein größeres Laienpublikum fesseln soll, wäre es wahrscheinlich sinnvoller gewesen, die erste "psychoanalytisch fundierte Generationengeschichte" zu der angeblich immer wieder geforderten "Psychohistorie der Deutschen" in einem Stil abzufassen, den der Normalleser auch ohne ein Fachwörterbuch verstehen kann. Wie sagte doch einer der ehemaligen "Napolaner" nach einem Treffen mit früheren Mitschülern? "Ja, also das Erstaunliche war, daß alle sehr normal geworden sind." Die Frage nach der "Normalität" der Verfasser dieses Buches und ihrer "psychoanalytischen Supervisoren" liegt in der Luft. KLAUS NATORP
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Christian Schneider, Cordelia Stillke und Bernd Leineweber gelingt es vorzüglich, den Leser in die so absurd erscheinende Welt der Napola zu entführen, ihm Tatsachen, Erklärungen und Augenzeugenberichte zu unterbreiten, die geeignet sind, einen Mosaikstein des zumindest zeitweise durchaus funktionierenden nationalsozialistischen Staates vor Augen zu führen." (Das Parlament, Matthias von Hellfeld)