Wo hat das ethische Problembewusstsein der modernen Medizin seine Wurzeln? Anhand exemplarischer "moderner" Konflikte (Schwangerschaftsabbruch und Eugenik, Euthanasie und Sterbehilfe, Arzt-Patienten-Beziehung) wird deutlich, dass die Grundlagen im Umgang mit diesen Konflikten in der Antike zu suchen und zu finden sind. Der Titel "Das Erbe des Hippokrates" ist insofern Programm, als die häufigste Bezugstelle moderner medizinethischer Diskussionen der hippokratische Eid und dessen Tradition ist - der Eid und sein Verfasser bieten somit nicht nur einen idealen Zugang zur Problemstellung, sondern kommen selbst "zu Wort".
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.10.2008Wo tut es uns denn heute weh?
Aber bitte mit Platon: Florian Steger lässt den Patienten im Krankenhausflur stehen
Das Buch verfolgt ein doppeltes Anliegen. Einerseits beansprucht es, "die antiken Grundlagen der modernen Diskussion über eine Ethik in der Medizin aufzuzeigen". Florian Steger, der Autor, preist in diesem Sinne die "Anschlussfähigkeit der Antike" für das heutige medizinethische Denken. Andererseits bekennt Steger sich zu der Überzeugung, "dass Medizin im Allgemeinen und Ethik im Besonderen stets nur kontextgebunden funktionieren kann". Keine Ethik könne die Last ihrer historischen Entstehungsbedingungen abschütteln. Der Glaube, "dass Ethik für alle und überall gleich statthat oder stattzuhaben hat", führe in die Irre. Die Schranken der unterschiedlichen Lebensformen seien unübersteigbar. Nicht einmal ein ethischer Minimalkonsens von globaler Gültigkeit lasse sich finden.
Beide Annahmen sind gegenläufig. Stegers These von der Aktualität der Antike für die heutige medizinethische Debatte lässt sich nur unter der Voraussetzung aufrechterhalten, dass die damals entwickelten Argumentationsmuster auch unabhängig von ihrem ursprünglichen historisch-politischen Kontext Gültigkeit oder doch jedenfalls Beachtlichkeit beanspruchen können. Dieser Annahme aber steht Stegers kulturrelativistische Überzeugung von der unentrinnbaren Kontextgebundenheit ethischer Erwägungen entgegen. Steger selbst scheint diesen Konflikt nicht einmal zu bemerken. Die Umsetzung seiner ehrgeizigen Ankündigungen erschöpft sich vielmehr darin, dass er griechische Philosophen- und Dichterzitate zu Themen wie der Rolle des Arztes, der Abtreibung und der Sterbehilfe aneinanderreiht, sie kurz zusammenfasst und die Ergebnisse dann zur gefälligen Bedienung in den Raum stellt.
So erfährt der Leser, dass Platon und Aristoteles in der Abtreibung ein Mittel der Bevölkerungspolitik gesehen haben und dass Platon sich gegen die ärztliche Behandlung unheilbar Kranker aussprach, weil solche Personen weder sich noch dem Staat nützten. Worin aber liegt die Anschlussfähigkeit derartiger Erwägungen für die heutige Diskussion? Nicht genug, dass Steger diese Frage nicht beantwortet - er stellt sie nicht einmal. Die Aktualität der Antike ist für ihn offenbar schon dadurch erwiesen, dass damals über die gleichen Themen nachgedacht wurde wie heute.
Eines hat diese Erkenntnis den von Steger behandelten Texten immerhin voraus: Sie kommentiert sich selbst. Vermittelt Steger zum Ausgleich wenigstens jenes "historische, soziale sowie kulturelle Rahmenwissen", das für ihn unverzichtbar ist, um eine "historisch kontextualisierte Ethikdiskussion" führen zu können? Davon kann auch nicht die Rede sein. So verliert Steger kein Wort der Erläuterung über die politische Philosophie platonisch-aristotelischer Provenienz und das ihr eigentümliche Bürgerideal.
Wenn er dessen ungeachtet gegen Ende seines Buches in bester Verfassungsvertragsrhetorik daran erinnert, dass die "Grundsätze staatlichen Zusammenlebens, wie nicht zuletzt die Demokratie", ihre Wurzeln im antiken Griechenland hätten, so bleibt dieses Bekenntnis so unverbindlich und fragmentarisch wie der ganze Rest seiner Ausführungen. Steger hat ein schönes Thema banalisiert. Möge Asklep ihm verzeihen!
MICHAEL PAWLIK
Florian Steger: "Das Erbe des Hippokrates". Medizinethische Konflikte und ihre Wurzeln. Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2008. 140 S., br., 29,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Aber bitte mit Platon: Florian Steger lässt den Patienten im Krankenhausflur stehen
Das Buch verfolgt ein doppeltes Anliegen. Einerseits beansprucht es, "die antiken Grundlagen der modernen Diskussion über eine Ethik in der Medizin aufzuzeigen". Florian Steger, der Autor, preist in diesem Sinne die "Anschlussfähigkeit der Antike" für das heutige medizinethische Denken. Andererseits bekennt Steger sich zu der Überzeugung, "dass Medizin im Allgemeinen und Ethik im Besonderen stets nur kontextgebunden funktionieren kann". Keine Ethik könne die Last ihrer historischen Entstehungsbedingungen abschütteln. Der Glaube, "dass Ethik für alle und überall gleich statthat oder stattzuhaben hat", führe in die Irre. Die Schranken der unterschiedlichen Lebensformen seien unübersteigbar. Nicht einmal ein ethischer Minimalkonsens von globaler Gültigkeit lasse sich finden.
Beide Annahmen sind gegenläufig. Stegers These von der Aktualität der Antike für die heutige medizinethische Debatte lässt sich nur unter der Voraussetzung aufrechterhalten, dass die damals entwickelten Argumentationsmuster auch unabhängig von ihrem ursprünglichen historisch-politischen Kontext Gültigkeit oder doch jedenfalls Beachtlichkeit beanspruchen können. Dieser Annahme aber steht Stegers kulturrelativistische Überzeugung von der unentrinnbaren Kontextgebundenheit ethischer Erwägungen entgegen. Steger selbst scheint diesen Konflikt nicht einmal zu bemerken. Die Umsetzung seiner ehrgeizigen Ankündigungen erschöpft sich vielmehr darin, dass er griechische Philosophen- und Dichterzitate zu Themen wie der Rolle des Arztes, der Abtreibung und der Sterbehilfe aneinanderreiht, sie kurz zusammenfasst und die Ergebnisse dann zur gefälligen Bedienung in den Raum stellt.
So erfährt der Leser, dass Platon und Aristoteles in der Abtreibung ein Mittel der Bevölkerungspolitik gesehen haben und dass Platon sich gegen die ärztliche Behandlung unheilbar Kranker aussprach, weil solche Personen weder sich noch dem Staat nützten. Worin aber liegt die Anschlussfähigkeit derartiger Erwägungen für die heutige Diskussion? Nicht genug, dass Steger diese Frage nicht beantwortet - er stellt sie nicht einmal. Die Aktualität der Antike ist für ihn offenbar schon dadurch erwiesen, dass damals über die gleichen Themen nachgedacht wurde wie heute.
Eines hat diese Erkenntnis den von Steger behandelten Texten immerhin voraus: Sie kommentiert sich selbst. Vermittelt Steger zum Ausgleich wenigstens jenes "historische, soziale sowie kulturelle Rahmenwissen", das für ihn unverzichtbar ist, um eine "historisch kontextualisierte Ethikdiskussion" führen zu können? Davon kann auch nicht die Rede sein. So verliert Steger kein Wort der Erläuterung über die politische Philosophie platonisch-aristotelischer Provenienz und das ihr eigentümliche Bürgerideal.
Wenn er dessen ungeachtet gegen Ende seines Buches in bester Verfassungsvertragsrhetorik daran erinnert, dass die "Grundsätze staatlichen Zusammenlebens, wie nicht zuletzt die Demokratie", ihre Wurzeln im antiken Griechenland hätten, so bleibt dieses Bekenntnis so unverbindlich und fragmentarisch wie der ganze Rest seiner Ausführungen. Steger hat ein schönes Thema banalisiert. Möge Asklep ihm verzeihen!
MICHAEL PAWLIK
Florian Steger: "Das Erbe des Hippokrates". Medizinethische Konflikte und ihre Wurzeln. Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2008. 140 S., br., 29,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Die Studie zum ethischen Problembewusstsein und seiner Relevanz für heutige medizinische Grundsatzfragen konnte Rezensenten Michael Pawlik nicht überzeugen. Er wirft Florian Steger vor, "ein schönes Thema banalisiert" zu haben und Implikationen seiner eigenen Studie vollkommen auszusparen. In dem Buch geht es um die Weichenstellung unserer aktuellen Medizinethik durch die Ethik in der platonisch- aristotelischen Antike. Stegers eigene These von der Aktualität der Antike widerspreche sich aber augenblicklich mit seiner kulturrelativistischen Position, die dafür plädiert, dass Ethik wie Medizin nur kontextgebunden funktionieren könne und sich kein "ethischer Minimalkonsens von globaler Gültigkeit" finden lassen könnte. Stegers Argumentation verlaufe laut Pawlik mit schwachen Aneinanderreihungen griechischer Dichterzitate über Themen wie Abtreibung oder Sterbehilfe im Sande. Der Autor reihe lediglich Fragmente aneinander und sei nicht imstande, zu einem Schluss zu kommen oder seinem eigenen Anliegen Kohärenz zu vermitteln, kritisiert Pawlik. Ebenfalls fehle eine Veranschaulichung der sozialen und politischen Beschaffenheit jener Epoche, die Steger zum Vergleich heranzieht.
© Perlentaucher Medien GmbH
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