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Der Nachlaß des 1998 verstorbenen Soziologen und Systemtheoretikers Niklas Luhmann enthielt eine Reihe nahezu fertiggestellter Buchmanuskripte, darunter auch Das Erziehungssystem der Gesellschaft. Es gehört in die vielbeachtete Reihe von Abhandlungen, die sich unterschiedlichen Bereichen der Gesellschaft zuwenden, wie Wissenschaft, Recht, Kunst, Wirtschaft und - zuletzt erschienen - Religion und Politik. Mit Das Erziehungssystem der Gesellschaft liegt dieser zentrale Komplex von Luhmanns Werk nun vollständig vor. Gleichzeitig stellt diese Monographie eine Erweiterung und teilweise Revision des…mehr

Produktbeschreibung
Der Nachlaß des 1998 verstorbenen Soziologen und Systemtheoretikers Niklas Luhmann enthielt eine Reihe nahezu fertiggestellter Buchmanuskripte, darunter auch Das Erziehungssystem der Gesellschaft. Es gehört in die vielbeachtete Reihe von Abhandlungen, die sich unterschiedlichen Bereichen der Gesellschaft zuwenden, wie Wissenschaft, Recht, Kunst, Wirtschaft und - zuletzt erschienen - Religion und Politik. Mit Das Erziehungssystem der Gesellschaft liegt dieser zentrale Komplex von Luhmanns Werk nun vollständig vor. Gleichzeitig stellt diese Monographie eine Erweiterung und teilweise Revision des bereits 1979 gemeinsam mit Karl Eberhard Schorr verfaßten Textes "Reflexionsprobleme im Erziehungssystem" dar. Dieser hatte in der Erziehungswissenschaft eine langanhaltende, z. T. heftige Debatte ausgelöst, innerhalb deren einer systemtheoretischen Soziologie die Zuständigkeit und Qualifikation für eine Analyse des Erziehungssystems abgesprochen wurde.
Autorenporträt
Niklas Luhmann wurde am 8. Dezember 1927 als Sohn eines Brauereibesitzers in Lüneburg geboren und starb am 6. November 1998 in Oerlinghausen bei Bielefeld. Im Alter von 17 Jahren wurde er als Luftwaffenhelfer eingezogen und war 1945 in amerikanischer Kriegsgefangenschaft. Von 1946 bis 1949 studierte er Rechtswissenschaften in Freiburg und absolvierte seine Referendarausbildung. 1952 begann er mit dem Aufbau seiner berühmten Zettelkästen. Von 1954 bis1962 war er Verwaltungsbeamter in Lüneburg, zunächst am Oberverwaltungsgericht Lüneburg, danach als Landtagsreferent im niedersächsischen Kultusministerium. 1960 heiratete er Ursula von Walter. Aus der Ehe gingen drei Kinder hervor. Seine Ehefrau verstarb 1977. Luhmann erhielt 1960/1961 ein Fortbildungs-Stipendium für die Harvard-Universität. Dort kam er in Kontakt mit Talcott Parsons und dessen strukturfunktionaler Systemtheorie. 1964 veröffentlichte er sein erstes Buch Funktionen und Folgen formaler Organisation. 1965 wird Luhmann von Helmut Schelsky als Abteilungsleiter an die Sozialforschungsstelle Dortmund geholt. 1966 wurden Funktionen und Folgen formaler Organisation sowie Recht und Automation in der öffentlichen Verwaltung als Dissertation und Habilitation an der Universität Münster angenommen. Von 1968 bis 1993 lehrte er als Professor für Soziologie an der Universität Bielefeld. 1997 erschien sein Hauptwerk, das Resultat dreißigjähriger Forschung: Die Gesellschaft der Gesellschaft.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 17.05.2002

Von Schülern und Molekülen
Menschen werden geboren, Personen werden sozialisiert: Niklas Luhmanns Idee von Erziehung
Nun ist unwiderruflich das letzte Buch aus Niklas Luhmanns Nachlass erschienen. Sein Gegenstand: das Erziehungssystem. Darüber hatte Luhmann zusammen mit namhaften Pädagogen – unter anderem mit Dieter Lenzen, dem Herausgeber des vorliegenden Bandes – bereits so viel publiziert, dass sich die Frage aufdrängt, ob überhaupt etwas Neues in dem Buch zu finden ist. Ja, das ist der Fall. Hat Luhmann seine Position zur Leistungsfähigkeit des Erziehungssystems geändert? Ja und Nein.
In den früheren Publikationen schrieb Luhmann über die Probleme, die dadurch in der Pädagogik entstehen, dass Organisationen, wie die Landesregierung, das Ministerium, die Bezirksregierung oder die Schulleitung die Lehrer zu Handlungen zwingt, die ihren Erziehungsvorstellungen widersprechen. Indem er auf diese Schwierigkeiten hinwies, hatte Luhmann mit seinen früheren Büchern zur Pädagogik einen Sturm der Entrüstung entfacht. Die Pädagogik, sagte er, sei die Profession, der es am schwersten falle, zu akzeptieren, dass die Erziehung sich mit dieser und anderen unauflöslichen Paradoxien abfinden muss. Es liegt im Begriff der Paradoxie, dass sie sich nicht lösen lässt. Welche Paradoxien meinte er?
Verantwortung der Väter
Luhmann beantwortete die Frage – wie stets – im historischem Rekurs. Noch im 18. Jahrhundert war Erziehung ein Privileg der Reichen, die es sich leisten konnten, einen Hauslehrer für ihre Kinder zu beschäftigen. Das Privileg der Herkunft entwickelte sich im 19. Jahrhundert zur Erziehung für alle, ohne Rücksicht auf die Abstammung. „Am Anfang des Jahrhunderts denkt man bei Erziehung zunächst an die Verantwortung der Väter, gegen Ende des Jahrhunderts wird dagegen öffentliche Erziehung betont und als allgemeines Gebot behandelt”, schreibt Luhmann. Schulbehörden sollten seitdem die Erziehung und Bildung aller verbessern. Doch stellten sich diese Organisationen als fehlerhaft heraus. So ist folgende Begebenheit bedauerlicherweise kein Einzelfall: Eine Schulleiterin wollte in ihrer Schule für die bessere berufliche Zukunft ihrer Schüler bilingualen Unterricht einführen. Sie stellte diese Absicht der Bezirksregierung vor. Die reagierte so: Wie sie sich das denn vorstelle, da könne ja jeder kommen, aber man würde darüber nachdenken. Nach drei Monaten fragte sie in der Bezirksregierung erneut an. Nach vier Wochen bekam sie die Antwort, dass über die Sache weiter nachgedacht werde. Sie hat dann nie mehr etwas davon gehört.
Seit dem 19. Jahrhundert sollte staatlich organisierte Pädagogik soziale Selektion verhindern, die zuvor durch die Herkunft gegeben war. Aber durch Zensuren und Prüfungen wurde letztlich doch ein Selektionsverfahren eingeführt, so dass sich die Schule zur zentralen Dirigierungsstelle für den künftigen sozialen Rang von Kindern und Jugendlichen entwickelte. „Die gute Absicht”, so lesen wir in Luhmanns neuem Buch, „gebärt aus sich selbst heraus zwei recht unglei-che Kinder, nämlich Erziehung und Selektion. Die Pädagogik hat beide Sprösslinge ungleich beurteilt. Sie hat Erziehung als ihr eigenstes Anliegen geliebt, Selektion dagegen als staatlich aufgezwungenes Amt abgelehnt. ”
Dies alles sind Befunde, die Luhmann nicht verwirft, doch in dem neuen Buch wechselt er die Blickrichtung. Man könne das Erziehungssystem auch anders ansehen, sagt Luhmann vor dem Hintergrund seiner kontextbezogenen Episte- mologie. In ähnlicher Weise zeigte einst Thomas Kuhn, dass ein und dieselbe Sache anders gesehen wird, wenn man die Blickrichtung ändert. Kuhn fragte einen Physiker und einen Chemiker, ob ein Heliumatom ein Molekül sei oder nicht. Für den Chemiker war das Heliumatom ein Molekül, da es sich in bezug auf die kinetische Theorie der Gase wie ein solches verhielt. Für den Physiker war das Heliumatom jedoch kein Molekül, weil es kein Molekularspektrum zeigte. Entsprechend ändert sich die Auffassung vom Erziehungssystem, je nachdem, aus welcher Perspektive man es betrachtet.
Luhmann fragt nun nicht mehr in erster Linie nach den eben genannten paradoxalen Problemen, sondern nach der gesellschaftlichen Funktion von Erziehung. Das Erziehungssystem trägt, wie viele andere gesellschaftliche Subsysteme, wie das Wirtschafts-, Rechts- oder Gesundheitssystem, zur Erhaltung des gesellschaftlichen Gesamtsystems bei. Das tut es durch die Erziehung der Menschen zu Personen. Menschen werden geboren. Personen entstehen durch Sozialisation und Erziehung. Person ist der Name für Eigenschaften, die für die Erfüllung von Aufgaben, von Pflichten und für das Ausfindigmachen des eigenen Status im sozialen Leben notwendig sind. Als Person ist man fähig, an der sozialen Interaktion teilzunehmen. Macht das Erziehungssystem aus Menschen Personen, so trägt es auf diese Weise zur Erhaltung des gesellschaftlichen Gesamt-systems bei. Innerhalb von Organisationen kann die Erziehung problemloser stattfinden als in anderer Weise. In Organisationen „braucht der Lehrer nicht auf den Fluren umherzuirren und zu versuchen, irgendwo mit seinen Ideen akzeptiert zu werden.” Erziehung findet im Unterricht statt, der zu einer bestimmten Zeit für eine bestimmte Klasse stattfindet. Stundenpläne macht die Organisation Schule, Lehrpläne macht die Organisation Kultusministerium, Ausführungsvorschriften dazu macht die Organisation Bezirksregierung. Organisationen anderer Art ermöglichen ein weiteres differenziertes Erziehen, etwa die Erwachsenenbildung oder die außerschulische Jugendbildung in Volkshochschulen, Heimvolkshochschulen, in Landerziehungsheimen oder Jugendfreizeiteinrichtungen.
Aufgabe des Staates
Ergänzt durch die früheren Schriften Luhmanns haben wir jetzt eine umfassende systemtheoretische Analyse des Erziehungssystems vorliegen. Der distanzierte Blick des Soziologen ermöglicht es den Lehrern, die an manchem in der Schule verzweifeln, Abstand zu gewinnen und bisher Undurchsichtiges überhaupt erst einmal zu erblicken, um dann sine ira et studio dazu Stellung nehmen zu können.
Dazu muss man die erstaunlicherweise immer noch vorhandene Aversion gegen die Systemtheorie überwinden. Und man muss sich durch das Buch durchbeißen, wie durch die anderen Büchern Niklas Luhmanns. Das wird hier noch erschwert dadurch, dass es im Gegensatz zu anderen Büchern aus dem Nachlass noch wenig ausgearbeitet ist und uns in recht vorläufiger Manuskriptform entgegenkommt. Trösten kann man sich mit Dietrich Schwanitz, der gesagt hat, es sei zwar schwierig, Luhmanns Schriften zu lesen, da es sich aber um eine komplett neue Theorie handle, sei es von Vorteil, dass man keinerlei Vorkenntnisse brauche.
DETLEF HORSTER
NIKLAS LUHMANN: Das Erziehungssystem der Gesellschaft. Hrsg. von Dieter Lenzen. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2002. 232 Seiten, 24,90 Euro.
Der Mann mit den Zettelkästen
Foto: Detlef
Horster
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.06.2002

Der Lehrer stört den Unterricht

Herausgeberstolz mag es so sehen, aber die "summa seiner systemtheoretischen Reflexionen zum Erziehungssystem", wie Dieter Lenzen formuliert, enthält das soeben aus dem Nachlaß Niklas Luhmanns publizierte Manuskript ("Das Erziehungssystem der Gesellschaft". Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2002. 236 S., 21 Abb., geb., 24,90 [Euro]) gerade nicht. Eine solche Summe zu ziehen, haben Krankheit und Tod des Autors verhindert. Am weitesten ausgearbeitet liegen Luhmanns bildungssoziologische Gedanken darum noch immer in seinem gemeinsam mit Karl-Eberhard Schorr verfaßten Band "Reflexionsprobleme im Erziehungssystem" von 1979 vor (um ein Nachwort ergänzte Neuauflage, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1988). Ja, der Eingriff des Todes in das nachgelassene Konvolut fällt um so mehr auf, als er gerade das Zentrum des geplanten Buches betraf, in dem es von der vorhergehenden Publikation abzuweichen vorhatte. Luhmanns Theorie der Erziehung ist vor allem eine Soziologie der Schule. In den "Reflexionsproblemen" hieß das: eine Soziologie ihrer humanistischen Ideale, des Lehrplans, der Didaktik und ihrer Mechanismen zur Erzeugung von Ungleichheit wie Zensuren und Prüfungen. Dies alles wird auch im Nachlaßband behandelt, aber seiner Anlage nach sind die Gewichte der Schulsoziologie in Richtung eines anderen Sachverhalts verschoben. Im Zentrum von Luhmanns Interesse steht jetzt die Unterrichtssituation, das Gegenüber von Lehrer und Schülern, "die Klasse". Denn hier, in der Interaktion unter Anwesenden, werden jene Ideale zu gutgemeinten Absichten, hier wird erprobt, was an einem Lehrplan bloßer Plan ist und wieviel an Didaktik bloß auf dem Papier steht. Die Gesellschaft hat staatliche Anstalten eingerichtet, sie leistet sich Erziehungswissenschaftler, und diese leisten sich "Methoden" oder gar "allgemeine Pädagogiken" - und im Herzen des Ganzen herrscht in Zweierbänken oder Hufeisenform gruppierte Anarchie. Jede Fabrikhalle, jedes Krankenhaus und jeder Gottesdienst wirken dagegen als Muster an Kontrollausübung. Hier, in der Schulstunde, heißt Erziehung, daß die Schüler den Lehrer auf eine Weise wahrnehmen, gegen die er sich nicht wehren, die er jedenfalls kaum steuern kann. Hier müssen die Lehrer taktvollen Umgang, der die Selbstachtung des Zöglings schont, mit taktloser Benotung verbinden. Hier müssen den Schülern "karnevalistische" Distanzierungschancen gegenüber den Erziehern zugestanden werden, was klare Rollenverteilungen erforderlich macht und vereinnahmende, kumpelhafte Gesten ebenso unratsam erscheinen läßt wie "partizipativen Unterricht". Was das Ministerium für einen Kanon hält, kommt in der Klasse als erpreßte Langeweile an, für die der Lehrer haftbar gemacht wird. Was der Lehrer für Toleranz oder Strenge hält, wird ihm aufgrund kleiner Stilbeobachtungen und situativer Einschätzungen als Schwäche oder Stärke ausgelegt. "Unterrichten ist ein opportunistischer Prozeß, und je mehr er sich nach den Gelegenheiten richtet", also nicht nach Programmen, Didaktiken, Methoden, "desto besser ist er." Das mündet bei Luhmann nicht in die Aufforderung an das Personal, alle Theorie zu vergessen. Aber Reflexion und Fachkenntnis des Lehrers werden in dieser Soziologie vorrangig als Ressourcen für Umgangsgeschick, die Lenkung und Nutzung von Aufmerksamkeit sowie die Markierung dessen, was verlangt werden kann, behandelt. Und weil alles in dieser Gesellschaftstheorie der Erziehung auf die Schulstunde zuläuft, ist sie ein Fragment. Denn von allen Kapiteln des Buches ist ausgerechnet das vierte über das "Interaktionssystem Unterricht" in seinem Zentrum das unvollständigste, wurde gerade eben nur begonnen und dann liegengelassen. Sosehr man es sich anders wünschen mag, die Frage "Welche Schule haben wir?" bleibt darum an entscheidender Stelle unbeantwortet oder doch jedenfalls nur in einer Skizze umrissen.

JÜRGEN KAUBE

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