Der Nachlaß des 1998 verstorbenen Soziologen und Systemtheoretikers Niklas Luhmann enthielt eine Reihe nahezu fertiggestellter Buchmanuskripte, darunter auch Das Erziehungssystem der Gesellschaft. Es gehört in die vielbeachtete Reihe von Abhandlungen, die sich unterschiedlichen Bereichen der Gesellschaft zuwenden, wie Wissenschaft, Recht, Kunst, Wirtschaft und - zuletzt erschienen - Religion und Politik. Mit Das Erziehungssystem der Gesellschaft liegt dieser zentrale Komplex von Luhmanns Werk nun vollständig vor. Gleichzeitig stellt diese Monographie eine Erweiterung und teilweise Revision des bereits 1979 gemeinsam mit Karl Eberhard Schorr verfaßten Textes "Reflexionsprobleme im Erziehungssystem" dar. Dieser hatte in der Erziehungswissenschaft eine langanhaltende, z. T. heftige Debatte ausgelöst, innerhalb deren einer systemtheoretischen Soziologie die Zuständigkeit und Qualifikation für eine Analyse des Erziehungssystems abgesprochen wurde.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.06.2002Der Lehrer stört den Unterricht
Herausgeberstolz mag es so sehen, aber die "summa seiner systemtheoretischen Reflexionen zum Erziehungssystem", wie Dieter Lenzen formuliert, enthält das soeben aus dem Nachlaß Niklas Luhmanns publizierte Manuskript ("Das Erziehungssystem der Gesellschaft". Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2002. 236 S., 21 Abb., geb., 24,90 [Euro]) gerade nicht. Eine solche Summe zu ziehen, haben Krankheit und Tod des Autors verhindert. Am weitesten ausgearbeitet liegen Luhmanns bildungssoziologische Gedanken darum noch immer in seinem gemeinsam mit Karl-Eberhard Schorr verfaßten Band "Reflexionsprobleme im Erziehungssystem" von 1979 vor (um ein Nachwort ergänzte Neuauflage, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1988). Ja, der Eingriff des Todes in das nachgelassene Konvolut fällt um so mehr auf, als er gerade das Zentrum des geplanten Buches betraf, in dem es von der vorhergehenden Publikation abzuweichen vorhatte. Luhmanns Theorie der Erziehung ist vor allem eine Soziologie der Schule. In den "Reflexionsproblemen" hieß das: eine Soziologie ihrer humanistischen Ideale, des Lehrplans, der Didaktik und ihrer Mechanismen zur Erzeugung von Ungleichheit wie Zensuren und Prüfungen. Dies alles wird auch im Nachlaßband behandelt, aber seiner Anlage nach sind die Gewichte der Schulsoziologie in Richtung eines anderen Sachverhalts verschoben. Im Zentrum von Luhmanns Interesse steht jetzt die Unterrichtssituation, das Gegenüber von Lehrer und Schülern, "die Klasse". Denn hier, in der Interaktion unter Anwesenden, werden jene Ideale zu gutgemeinten Absichten, hier wird erprobt, was an einem Lehrplan bloßer Plan ist und wieviel an Didaktik bloß auf dem Papier steht. Die Gesellschaft hat staatliche Anstalten eingerichtet, sie leistet sich Erziehungswissenschaftler, und diese leisten sich "Methoden" oder gar "allgemeine Pädagogiken" - und im Herzen des Ganzen herrscht in Zweierbänken oder Hufeisenform gruppierte Anarchie. Jede Fabrikhalle, jedes Krankenhaus und jeder Gottesdienst wirken dagegen als Muster an Kontrollausübung. Hier, in der Schulstunde, heißt Erziehung, daß die Schüler den Lehrer auf eine Weise wahrnehmen, gegen die er sich nicht wehren, die er jedenfalls kaum steuern kann. Hier müssen die Lehrer taktvollen Umgang, der die Selbstachtung des Zöglings schont, mit taktloser Benotung verbinden. Hier müssen den Schülern "karnevalistische" Distanzierungschancen gegenüber den Erziehern zugestanden werden, was klare Rollenverteilungen erforderlich macht und vereinnahmende, kumpelhafte Gesten ebenso unratsam erscheinen läßt wie "partizipativen Unterricht". Was das Ministerium für einen Kanon hält, kommt in der Klasse als erpreßte Langeweile an, für die der Lehrer haftbar gemacht wird. Was der Lehrer für Toleranz oder Strenge hält, wird ihm aufgrund kleiner Stilbeobachtungen und situativer Einschätzungen als Schwäche oder Stärke ausgelegt. "Unterrichten ist ein opportunistischer Prozeß, und je mehr er sich nach den Gelegenheiten richtet", also nicht nach Programmen, Didaktiken, Methoden, "desto besser ist er." Das mündet bei Luhmann nicht in die Aufforderung an das Personal, alle Theorie zu vergessen. Aber Reflexion und Fachkenntnis des Lehrers werden in dieser Soziologie vorrangig als Ressourcen für Umgangsgeschick, die Lenkung und Nutzung von Aufmerksamkeit sowie die Markierung dessen, was verlangt werden kann, behandelt. Und weil alles in dieser Gesellschaftstheorie der Erziehung auf die Schulstunde zuläuft, ist sie ein Fragment. Denn von allen Kapiteln des Buches ist ausgerechnet das vierte über das "Interaktionssystem Unterricht" in seinem Zentrum das unvollständigste, wurde gerade eben nur begonnen und dann liegengelassen. Sosehr man es sich anders wünschen mag, die Frage "Welche Schule haben wir?" bleibt darum an entscheidender Stelle unbeantwortet oder doch jedenfalls nur in einer Skizze umrissen.
JÜRGEN KAUBE
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Herausgeberstolz mag es so sehen, aber die "summa seiner systemtheoretischen Reflexionen zum Erziehungssystem", wie Dieter Lenzen formuliert, enthält das soeben aus dem Nachlaß Niklas Luhmanns publizierte Manuskript ("Das Erziehungssystem der Gesellschaft". Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2002. 236 S., 21 Abb., geb., 24,90 [Euro]) gerade nicht. Eine solche Summe zu ziehen, haben Krankheit und Tod des Autors verhindert. Am weitesten ausgearbeitet liegen Luhmanns bildungssoziologische Gedanken darum noch immer in seinem gemeinsam mit Karl-Eberhard Schorr verfaßten Band "Reflexionsprobleme im Erziehungssystem" von 1979 vor (um ein Nachwort ergänzte Neuauflage, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1988). Ja, der Eingriff des Todes in das nachgelassene Konvolut fällt um so mehr auf, als er gerade das Zentrum des geplanten Buches betraf, in dem es von der vorhergehenden Publikation abzuweichen vorhatte. Luhmanns Theorie der Erziehung ist vor allem eine Soziologie der Schule. In den "Reflexionsproblemen" hieß das: eine Soziologie ihrer humanistischen Ideale, des Lehrplans, der Didaktik und ihrer Mechanismen zur Erzeugung von Ungleichheit wie Zensuren und Prüfungen. Dies alles wird auch im Nachlaßband behandelt, aber seiner Anlage nach sind die Gewichte der Schulsoziologie in Richtung eines anderen Sachverhalts verschoben. Im Zentrum von Luhmanns Interesse steht jetzt die Unterrichtssituation, das Gegenüber von Lehrer und Schülern, "die Klasse". Denn hier, in der Interaktion unter Anwesenden, werden jene Ideale zu gutgemeinten Absichten, hier wird erprobt, was an einem Lehrplan bloßer Plan ist und wieviel an Didaktik bloß auf dem Papier steht. Die Gesellschaft hat staatliche Anstalten eingerichtet, sie leistet sich Erziehungswissenschaftler, und diese leisten sich "Methoden" oder gar "allgemeine Pädagogiken" - und im Herzen des Ganzen herrscht in Zweierbänken oder Hufeisenform gruppierte Anarchie. Jede Fabrikhalle, jedes Krankenhaus und jeder Gottesdienst wirken dagegen als Muster an Kontrollausübung. Hier, in der Schulstunde, heißt Erziehung, daß die Schüler den Lehrer auf eine Weise wahrnehmen, gegen die er sich nicht wehren, die er jedenfalls kaum steuern kann. Hier müssen die Lehrer taktvollen Umgang, der die Selbstachtung des Zöglings schont, mit taktloser Benotung verbinden. Hier müssen den Schülern "karnevalistische" Distanzierungschancen gegenüber den Erziehern zugestanden werden, was klare Rollenverteilungen erforderlich macht und vereinnahmende, kumpelhafte Gesten ebenso unratsam erscheinen läßt wie "partizipativen Unterricht". Was das Ministerium für einen Kanon hält, kommt in der Klasse als erpreßte Langeweile an, für die der Lehrer haftbar gemacht wird. Was der Lehrer für Toleranz oder Strenge hält, wird ihm aufgrund kleiner Stilbeobachtungen und situativer Einschätzungen als Schwäche oder Stärke ausgelegt. "Unterrichten ist ein opportunistischer Prozeß, und je mehr er sich nach den Gelegenheiten richtet", also nicht nach Programmen, Didaktiken, Methoden, "desto besser ist er." Das mündet bei Luhmann nicht in die Aufforderung an das Personal, alle Theorie zu vergessen. Aber Reflexion und Fachkenntnis des Lehrers werden in dieser Soziologie vorrangig als Ressourcen für Umgangsgeschick, die Lenkung und Nutzung von Aufmerksamkeit sowie die Markierung dessen, was verlangt werden kann, behandelt. Und weil alles in dieser Gesellschaftstheorie der Erziehung auf die Schulstunde zuläuft, ist sie ein Fragment. Denn von allen Kapiteln des Buches ist ausgerechnet das vierte über das "Interaktionssystem Unterricht" in seinem Zentrum das unvollständigste, wurde gerade eben nur begonnen und dann liegengelassen. Sosehr man es sich anders wünschen mag, die Frage "Welche Schule haben wir?" bleibt darum an entscheidender Stelle unbeantwortet oder doch jedenfalls nur in einer Skizze umrissen.
JÜRGEN KAUBE
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