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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 18.04.1997

Verdorrte Blüten im Weinberg des Herrn
Von den europäischen Religionen, staatlicher Herrschaft und den Kalamitäten der Kirchen

In einer Zeit, da die Religion für die meisten im Westen zu einer unverfänglichen Privatsache geworden ist, muß sich Europa mit inneren Spannungen auseinandersetzen, die mit religiösen Argumenten ausgetragen werden und sich in konfessionellen Leidenschaften äußern. In den herkömmlich sich als christlich verstehenden Ländern löst die Zuwanderung von Muslimen Verunsicherung aus. Die Massaker des Balkankrieges wurden mit religiösen Parolen begründet. Der immer vielfältigere Markt der Glaubensangebote wirkt auf viele bedrohlich und identitätszerstörend, wie man insbesondere in den ehemals kommunistischen und traditionell orthodoxen Ländern Osteuropas beobachten kann.

In diesem stetig komplizierter werdenden Spannungsfeld Konfliktlinien aufzuzeichnen, widerstreitende Denkmuster und Wertvorstellungen historisch zu verorten, hat sich ein von Otto Kallscheuer herausgegebener Sammelband zur Aufgabe gemacht, der Beiträge von zwölf namhaften Religionsforschern, Historikern und Soziologen vereint. Die Autoren erinnern an das spezifisch abendländische Erbe im Umgang mit Glaubensfragen, das sich von den verschiedenen östlichen Traditionen unterscheidet. Im Mittelpunkt steht die prinzipielle Scheidung von geistlicher und weltlicher Herrschaft, die der Islam nicht kennt, aber auch nicht das orthodoxe Christentum, das ja am byzantinischen Cäsaropapismus festhielt.

In dieser Auffassung des Transzendenten, die jeglicher weltlichen Herrschaft die göttliche Weihe abspricht und die innere Freiheit des Menschen als Gottes Herrschaftsbezirk bestimmt, liegt für den französischen Arabisten Rémi Brague die vornehmste Leistung der europäischen Kultur und ihre einzige religiöse Zukunftsperspektive. Europa, das seine kulturellen Wurzeln in Griechenland sieht und seine Religion aus Vorderasien importiert hat, besitzt nach Bragues Definition eine exzentrische Identität. Das Vorbild für dieses Selbstverständnis sind für ihn die Römer. Sie fühlten sich den von ihnen beherrschten Völkern, vor allem den Griechen, kulturell unterlegen, reagierten darauf aber nicht mit einer Abwehrhaltung, sondern versuchten, sich diese Kultur anzueignen und sie sogar weiterzugeben.

Das frühe Christentum baute auf der Tradition des Judentums auf und erkannte das Alte Testament als Heilige Schrift an, während der Islam es zur Fälschung erklärte. Und während die byzantisch-orthodoxe Welt das klassische Erbe als seinen innigsten Besitz betrachtete und es nicht für nötig hielt, sich etwa der islamischen Philosophie zu öffnen, fühlte sich Europa von ihm entfremdet, was es in eine Serie von Renaissancen getrieben habe. Brague wendet sich gegen Klischees vom "Eurozentrismus" und gibt zu bedenken, daß keine Kultur weniger selbstbezogen gewesen sei, sich weniger als "Reich der Mitte" verstanden habe als die europäische. Keine habe mehr Interesse an anderen Kulturen gezeigt als sie.

Zumal mit Blick auf solche Traditionen wird ein Defizit verständlich, das die Autoren ziemlich einhellig beklagen: Um die Religiosität in Europa sei es, anders als in fast allen anderen Weltgegenden, heute nicht gut bestellt. Ob die Kirchen von antireligiösen Bewegungen angegriffen werden, wie in katholischen, oder von innen ausgehöhlt werden, wie in protestantischen Ländern, die traditionellen Konfessionen verzeichnen einen anhaltenden Gemeindeschwund. Dabei wäre es ein Fehler, diese Säkularisierung als notwendige Folge der Modernisierung anzusehen, erklärt der englische Soziologe David Martin und verweist auf die Vereinigten Staaten, wo auch wenig traditionsverhaftete Bevölkerungsgruppen wie Arbeiter und Großstädter religiös aktiv bleiben.

Den Grund dafür sieht Martin in der Verquickung der traditionellen Kirchen in Europa mit den Machthabern. In freien Gesellschaften mit ihrem prinzipiellen Mißtrauen gegen die politische Macht bewege sie viele Menschen dazu, die Religion anzugreifen oder sich von ihr zurückzuziehen. Diesen Umstand veranschaulicht der Soziologe anhand des Städtebaus: Während in Europa der historische Stadtkern von einem Dom beherrscht werde, finde man in der Mitte amerikanischer Städte einen leeren öffentlichen Platz, um welchen sich verschiedene Kirchengebäude als Symbole der rivalisierenden Konfessionen gruppieren. Nicht nur Martin ist davon überzeugt, daß eine religiöse Wiedererweckung nur in einem Europa der Freikirchen möglich sein werde. Solange die traditionellen Kirchen ihre offiziöse Vormachtstellung behalten, werden die Blüten des Glaubens weiter verdorren. KERSTIN HOLM

Otto Kallscheuer (Hrsg.): "Das Europa der Religionen". S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 1996. 365 S., br., 36,- DM.

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