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Friedhelm Kemp verbindet die Vorzüge einer historischen Darstellung mit einer polyglotten Anthologie von Originaltexten samt Übersetzungen und eines Nachschlagewerks.
Friedhelm Kemps Buch spiegelt die Erfahrung einer lebenslangen Beschäftigung mit Poesie wider. Der erste Band gilt den Ursprüngen und der Ausformung des Sonetts in seinem Herkunftsland Italien sowie seiner Ausbreitung nach Frankreich, Spanien und England bis zum Barock. So beleuchten sich wechselseitig die berühmtesten und die entlegensten Sonette und lassen die Kontur einer bisher acht Jahrhunderte umspannenden…mehr

Produktbeschreibung
Friedhelm Kemp verbindet die Vorzüge einer historischen Darstellung mit einer polyglotten Anthologie von Originaltexten samt Übersetzungen und eines Nachschlagewerks.
Friedhelm Kemps Buch spiegelt die Erfahrung einer lebenslangen Beschäftigung mit Poesie wider. Der erste Band gilt den Ursprüngen und der Ausformung des Sonetts in seinem Herkunftsland Italien sowie seiner Ausbreitung nach Frankreich, Spanien und England bis zum Barock. So beleuchten sich wechselseitig die berühmtesten und die entlegensten Sonette und lassen die Kontur einer bisher acht Jahrhunderte umspannenden Gattungstradition deutlich werden. Der historisch anschließende zweite Band widmet sich etwa zur Hälfte der deutschen Sonett-Tradition vom Frühbarock bis in die Hälfte des 20. Jahrhunderts; ergänzt wird dies durch die wichtigsten Sonettdichter anderer europäischer Länder, denen auch für die Gegenwart das letzte Wort gegeben wird.
Es gibt bisher keine mit diesem opus magnum Friedhelm Kemps auch nur entfernt vergleichbare Darstellung der europäischen Sonett-Tradition.
Autorenporträt
Friedhelm Kemp, geb. 1914, Essayist und Übersetzer vor allem aus dem Französischen (u.a. Werke von Maurice Sceve, Charles Baudelaire, Simone Weil, Saint-John Perse, Marcel Jouhandeau, Yves Bonnefoy, Philippe Jaccottet); er erhielt 1998 den Joseph Breitbach-Preis. Friedhelm Kemp lebt in München.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Ein wahrlich anregendes "Abenteuer" hat ein zunächst noch etwas skeptischer Hanno Helbling auf diesen 900 Seiten erlebt, die er unbedingt zur Lektüre empfiehlt. Denn Friedhelm Kemp sei ganz bewusst nicht auf wissenschaftlichen Pfaden unterwegs, weshalb es trotz des Umfanges nichts über die zahlreichen "Paradigmenwechsel" der Sonett-Forschung zu lesen gebe. Stattdessen presche der Autor weg von allen Wegen und hinein in die unüberschaubare Landschaft des Jahrhunderte überdauernden - aber auch, so Helbling mit angehaltenem Atem, konstant gefährdeten - formstrengen Genres. Wer ihm folgt, "begegnet Texten, auf die er sonst vielleicht nie gestoßen wäre, und findet sie eingebettet in historische, biografische, anekdotische Kontexte". Nur Mut also, ruft Helbling - und am besten nach dem Lustprinzip auf Entdeckungstour gehen!

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.10.2002

In vierzehn Zeilen das Chaos einfangen
Friedhelm Kemps große Sonett-Studie / Von Harald Hartung

"Ewigen Ruhm" wünschte Paul Valéry dem Erfinder des Sonetts. Er hatte allen Grund dazu. Denn das Merkwürdige ist, daß der Mann, den man für den Erfinder des Sonetts hält, nämlich Giacomo da Lentino, Notar am Hof Friedrichs II. zu Palermo, ein Schattendasein in den Anthologien führt. Wie so oft bei bedeutenden Erfindungen haben erst Spätere ihr Potential erkannt. Das geniale Design des Sonetts, die scheinbar simple Koppelung einer Oktave und eines Sextetts, hat eine enorme, in der Poesie einzigartige Karriere gemacht.

Ähnlich wie das Schachspiel ermöglicht das Sonett Kombinationen und Möglichkeiten in unbegrenzter Zahl. Auch die Tüftler und Theoretiker, die vom Goldenen Schnitt bis zur Hegelschen Dialektik alles bemühen, was geistreich klingt, kommen auf ihre Kosten. Nicht minder die Polemiker, die der Sonettform Künstlichkeit und Starrheit vorwerfen - unter ihnen viele verkappte Liebhaber. Oder halb Bekehrte wie Goethe: Er spottete über die modische "Sonettenwut", fürchtete, beim Sonetteschreiben "leimen" zu müssen, und hat doch einige sehr schöne Exemplare geschrieben.

Natürlich ist die Karriere des Sonetts nicht ohne jene großen Dichter zu denken, die es als ein bevorzugtes Medium ihrer Poesie benutzten. Die Linie führt von Dante, Petrarca und Shakespeare bis zu Baudelaire und Rilke. Unverkennbar ist die aktuelle Renaissance des Sonetts, etwa bei Joseph Brodsky und Seamus Heaney, um nur zwei Nobelpreisträger zu nennen. Anders als die antiken Lyrikformen wie Ode und Elegie, die in den europäischen Sprachen selten blühten, ist das Sonett bis heute ein fortwährendes Ereignis, eine Form von gesamteuropäischer Repräsentanz, ja von einer Ausstrahlung auf Sprachen und Literaturen, die sich der Übernahme europäischer Formen eher verschlossen haben. Es gibt auch arabische und japanische Sonette.

Um so erstaunlicher, daß es - abgesehen von nationalen Anthologien und Monographien - bisher keine Gesamtdarstellung des europäischen Sonetts gab. Das heißt: genaugenommen gar nicht erstaunlich. Denn wen hätte man sich als Verfasser denken können? Einer der wenigen, denen man es zutrauen mochte, hat es gewagt: Friedhelm Kemp. Der Editor der rühmlichen Baudelaire-Ausgabe, der Übersetzer großer Franzosen von Saint-John Perse bis Philippe Jaccottet, Kenner auch der weiteren Romania sowie der großen angelsächsischen Poesie, und natürlich der Mann, der sich für vergessene oder unterschätzte Autoren wie Rudolf Borchardt, Peter Gan oder Konrad Weiß eingesetzt hat - Kemp also hat eben eine große, zweibändige Darstellung vorgelegt: "Das europäische Sonett". Er spricht von einem "Altersabenteuer", das sich aus einem Seminar und einer Vorlesung an der Münchner Universität entwickelt habe. Mit einigem Understatement erwähnt er die Unterschiede seiner Sprachenkenntnis und mit echter Bescheidenheit die Lücken, die auch er nicht zu schließen vermochte. Er nennt Portugal, die Niederlande und Rußland, die in seiner Darstellung fehlen. Dezidiert weist er einen im engeren Sinne wissenschaftlichen Anspruch zurück. Kemp sieht sich vor allem als Anthologist und Essayist und nennt sein Werk eine "Texteversammlung, eine Anthologie mit fortlaufendem Kommentar".

Der Leser tut gut daran, diese Hinweise ernst zu nehmen, vor allem Kemps ausdrücklichen Verzicht auf eine wissenschaftliche Theorie des Sonetts. Wer sie sucht, mag sich an die einschlägigen Monographien halten. Er wird jedoch kaum mehr als formale Schemata finden. Kemp wendet sich gegen die normative Vorstellung, es gebe so etwas wie eine "Idee" des Sonetts, die im Lauf der Geschichte zu sich selbst komme. Noch weniger ist es ihm darum zu tun, einen fixen Formbegriff der Entwicklung aufzudrücken. Ihm geht es um das Leben des Sonetts, um das, was bei aller historischen Veränderung seinen Kern ausmacht. Er findet dafür den glücklichen Begriff des "virtuellen Feldes": "Meinen Erfahrungen im Umgang mit Sonetten nach ist diese Gedichtform weniger eine Struktur oder eine Textur als ein virtuelles Feld, in dem jeder Dichter, der einer ist, sich immer wieder anders bewegt und benimmt."

So kommt es Kemp nicht auf die Einhaltung des Reimschemas an, sondern auf die Spannungsverhältnisse zwischen Metrik und Syntax, Bild- und Gedankenführung - auf all das, was den Dichter bei seiner Arbeit bewußt oder halbbewußt bewegt. Die Vorstellung des "virtuellen Feldes" entbindet ihn davon, allgemeine Reflexionen über die Formproblematik anzustellen. Kemps leitendes Motiv ist Erfahrung im Goetheschen Sinne. Von Fall zu Fall entscheidet sich, was ein Sonett ist und worin seine Qualität besteht.

Glücklich daher der Einfall, zusammen mit Sonetten oder kontrastiv dazu jene lyrischen Formen zu behandeln, die eine technische oder historische Affinität zum Sonett haben. Es sind dies der französische Zehnzeiler (Dixain), vor allem aber Stanze, Siziliane und Madrigal, selbst Ghasel und Haiku. Dazu kommen die Schwund- und Erweiterungsformen des Sonetts selbst; etwa das reimlose Sonett, das nicht etwa eine Masche der Moderne ist, sondern schon bei Du Bellay und Christian Gryphius vorkommt. Oder das verlängerte, um ein oder mehr Terzette erweiterte Schweifsonett. Hier - im erweiterten virtuellen Feld - ist der Kenner in seinem Element. Jeder Liebhaber des Sonetts kann von seiner Kenntnis und Sensibilität profitieren. Und jeder Dichter, der noch etwas lernen will.

In einem Fall habe ich freilich passen müssen, weil mir der Formbegriff doch überdehnt scheint. Kemp legt uns den Romancier und Lyriker George Meredith (1828 bis 1909) ans Herz und rühmt dessen Zyklus "Modern Love" (1862), der in fünfzig Sechzehnzeilern den Verfall einer Ehe schildert, als ein Werk, das modern geblieben sei. Das ist einer von Kemps verführerischen Hinweisen, die aus stupender Kenntnis und engagierter Liebhaberei kommen. Man geniert sich fast, nach der Lektüre der schönen und überzeugenden Proben die Frage zu stellen, ob man Meredith' Gebilde aus vier vierzeiligen Strophen als Sonette bezeichnen sollte. Meredith selbst und sein Freund Swinburne taten es. Und der Rezensent zieht sich auf eine Formulierung zurück, wie sie Kemp selbst an heiklen Stellen verwendet: Vielleicht müßte man sich darüber näher unterhalten.

Gibt es nicht doch Grenzen im virtuellen Feld des Sonetts? Für den Leser von Kemps Werk ist das so lange eine sekundäre Frage, als er dem Cicerone durch die Galerien seiner Epochen, durch die Kabinette von über hundert Sonettisten und durch fünfhundert Sonette in fünf Sprachen folgt. Rühmenswert ist die Klarheit der Gliederung. Kemp faßt die großen Epochen, die nationalen Sonett-Schulen zu deutlichen Einheiten zusammen. Er führt uns von den italienischen Sonettisten vor Dante getreulich bis ins zwanzigste Jahrhundert. Neben den großen Einzelfiguren stehen Gruppen wie "Scherz- und Scheltsonette" oder "Vier Neapolitaner" oder etwa "Deutsche Sonettisten des Zweiten Weltkriegs". Gerade diese Sammelkabinette bringen selbst dem halbwegs versierten Liebhaber des Sonetts soviel an wenig oder kaum Bekanntem, daß man seitenweise zitieren möchte.

Kemp bekennt sich zu Petrarca als Begleiter seines Lebens. Er rechnet ihn zu den großen Schutzgeistern wie Erasmus, Montaigne, Goethe und zu den Korrektiven "mancher kurzfristiger Angebote des Neuen und Allerneuesten". Freimütig gesteht Kemp, er habe sich nicht entschließen können, auf den sogenannten Anti-Petrarkismus einzugehen. Und fährt fort: "Was ich verdrießlicher finde: überschwenglich leeres Lob oder serienweise Verunglimpfungen der Angedichteten als einer garstigen Vettel." Er haßt ebendie Monotonie des Seriellen. Aber wer vielleicht doch etwas von den antipetrarkistischen Diatriben vermißt, dem präsentiert er ein einschlägiges satirisches Bravourstück Giordano Brunos.

"An Góngora wie an Mallarmé kann man ein halbes Leben verstudieren", heißt es einmal beiläufig, und man begreift, daß das für den Autor keine bloße Floskel ist. Auch an Shakespeare, hätte er hinzufügen können. Nur wäre hier, zu Shakespeares Sonetten, eine Monographie fällig, die selbst den großzügig bemessenen Rahmen sprengen würde. Kemp begnügt sich mit der deutschen Rezeption und mit einigen Hinweisen. Seine Zurückhaltung hat womöglich noch einen Grund: seine Skepsis gegen die deutschen Übertragungen. Er läßt vier Versionen eines Shakespeare-Sonetts von Gotthold Regis, Stefan George, Karl Kraus und Hanno Helbling kritisch Revue passieren.

Man würde Kemp jedoch mißverstehen mit der Annahme, er halte dichterische Äquivalente großer Sonette für unerreichbar. So rühmt er etwa Rilkes wenige Nachdichtungen aus Petrarcas "Canzoniere" und auch Rilkes Übertragung der Sonette Louise Labés, der ersten französischen Sonettistin von Rang. Hier freilich spricht er vom "Hybriden" der Übertragungen und hält Rilke für einen Sonderfall.

Kemps enormer Respekt vor dem Original dürfte mit seinen innersten Präferenzen zusammenhängen. Das Gedicht, so betont er zu Anfang seines Buches, ist im strengen Verstand kein Gegenstand, kein Objekt: "Wir müssen dem Gedicht nicht nur einen Mund, wir müssen ihm Augen einsetzen, von denen wir uns angeblickt fühlen." Woraus man folgern darf, daß uns auch aus einer Übersetzung, die lebt, ein Gesicht anblickt. Doch welche Ähnlichkeit besteht zum Original? Auch in dieser Frage ist Kemp alles andere als dogmatisch. Er läßt gelten, was anrührt und fasziniert, sei es Original, sei es Übersetzung. Er ist ein Connaisseur, der prüft, was er uns vorsetzt. Dabei verläßt er sich auf seinen Geschmack.

Immer wieder beschleicht den Leser das Gefühl, daß Kemp, indem er ihn belehrt, nur Vorschläge macht und zum Genießen einlädt. Vielleicht darf man deshalb den Begriff des virtuellen Feldes durch ein anderes Bild ergänzen. Es stammt ebenfalls von Kemp und erscheint gleichfalls zu Anfang seines Werkes. Da wird das Sonett mit einem "mehr oder minder festlichen Gedeck" verglichen. Das Urteil: "Letzten Endes kommt es darauf an, was wir zu essen bekommen. Beim Sonett nicht anders."

Wenn man also die beiden Bände als zwei lange und üppige Tafeln überblickt, dann ist für viele Abende gedeckt. Wenigstens aus dem zweiten Band will ich noch etwas hervorheben, nämlich Kemps Hinweis auf die Amerikanerin Edna St. Vincent Millay (1892 bis 1950), die er in den europäischen Kontext einschmuggelt. Er folgt dem bedeutenden wie folgenlosen Essay Rudolf Borchardts über die Dichterin und bringt eine Reihe von Proben, auch aus ihrem Spätwerk. Leider gibt es noch immer keine deutsche Ausgabe dieser großen Lyrikerin. Wird Kemps Porträt den Anstoß geben?

"I will put chaos into fourteen lines" beginnt eines der späten Sonette von Edna St. Vincent Millay; und Kemp rühmt es als ein Sonett über das Sonett, "das, wie mir vorkommt, seine sämtlichen Vorgänger überbietet". Dieses fruchtbare und gebändigte Chaos ist ein Element auch in Kemps eigener Darstellung. Sie zielt immer auf das Lebendige, gleich welcher Epoche. Und wer Sonette von deutschen Gegenwartsautoren vermißt, mag darin einen Wink des Gastgebers sehen, daß sein Enthusiasmus anderweitig mehr Nahrung findet. Er halte sich an das Schlußkapitel des üppigen Werks: "Drei Sonettisten unserer Zeit". Es sind - jedenfalls für mich - neue Namen: Jean Grosjean, Jacques Réda, Giovanni Raboni - zwei Franzosen und ein Italiener. Sie zeigen: Das europäische Sonett lebt.

Friedhelm Kemp: "Das europäische Sonett". Wallstein Verlag, Göttingen 2002. 2 Bde., zus. 934 S., geb., 99,- [Euro].

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