Friedhelm Kemp verbindet die Vorzüge einer historischen Darstellung mit einer polyglotten Anthologie von Originaltexten samt Übersetzungen und eines Nachschlagewerks.
Friedhelm Kemps Buch spiegelt die Erfahrung einer lebenslangen Beschäftigung mit Poesie wider. Der erste Band gilt den Ursprüngen und der Ausformung des Sonetts in seinem Herkunftsland Italien sowie seiner Ausbreitung nach Frankreich, Spanien und England bis zum Barock. So beleuchten sich wechselseitig die berühmtesten und die entlegensten Sonette und lassen die Kontur einer bisher acht Jahrhunderte umspannenden Gattungstradition deutlich werden. Der historisch anschließende zweite Band widmet sich etwa zur Hälfte der deutschen Sonett-Tradition vom Frühbarock bis in die Hälfte des 20. Jahrhunderts; ergänzt wird dies durch die wichtigsten Sonettdichter anderer europäischer Länder, denen auch für die Gegenwart das letzte Wort gegeben wird.
Es gibt bisher keine mit diesem opus magnum Friedhelm Kemps auch nur entfernt vergleichbare Darstellung der europäischen Sonett-Tradition.
Friedhelm Kemps Buch spiegelt die Erfahrung einer lebenslangen Beschäftigung mit Poesie wider. Der erste Band gilt den Ursprüngen und der Ausformung des Sonetts in seinem Herkunftsland Italien sowie seiner Ausbreitung nach Frankreich, Spanien und England bis zum Barock. So beleuchten sich wechselseitig die berühmtesten und die entlegensten Sonette und lassen die Kontur einer bisher acht Jahrhunderte umspannenden Gattungstradition deutlich werden. Der historisch anschließende zweite Band widmet sich etwa zur Hälfte der deutschen Sonett-Tradition vom Frühbarock bis in die Hälfte des 20. Jahrhunderts; ergänzt wird dies durch die wichtigsten Sonettdichter anderer europäischer Länder, denen auch für die Gegenwart das letzte Wort gegeben wird.
Es gibt bisher keine mit diesem opus magnum Friedhelm Kemps auch nur entfernt vergleichbare Darstellung der europäischen Sonett-Tradition.
Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Ein wahrlich anregendes "Abenteuer" hat ein zunächst noch etwas skeptischer Hanno Helbling auf diesen 900 Seiten erlebt, die er unbedingt zur Lektüre empfiehlt. Denn Friedhelm Kemp sei ganz bewusst nicht auf wissenschaftlichen Pfaden unterwegs, weshalb es trotz des Umfanges nichts über die zahlreichen "Paradigmenwechsel" der Sonett-Forschung zu lesen gebe. Stattdessen presche der Autor weg von allen Wegen und hinein in die unüberschaubare Landschaft des Jahrhunderte überdauernden - aber auch, so Helbling mit angehaltenem Atem, konstant gefährdeten - formstrengen Genres. Wer ihm folgt, "begegnet Texten, auf die er sonst vielleicht nie gestoßen wäre, und findet sie eingebettet in historische, biografische, anekdotische Kontexte". Nur Mut also, ruft Helbling - und am besten nach dem Lustprinzip auf Entdeckungstour gehen!
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 23.12.2002Man setze das Gedicht vor sich auf einen Stuhl
Ein Fest, ein lebenslanges: Friedhelm Kemp ist der Zeremonienmeister der Sonette
Es gibt ansprechende Bücher. Nicht nur vom Äußeren, nein, im Wortsinne beginnen sie zu reden, werben um Verständnis, werfen Fragen auf, zeigen sich von ihrer besten Seite, und eh man sich’s versieht, entspinnt sich ein Dialog. Sie verdrehen einem den Kopf, ziehen in den Bann und auf die Tanzfläche ihrer Themen, wo sie im Schwung die Aufmerksamkeit bald hier-, bald dorthin lenken, bis ein wohliger Taumel den Leser erfasst und schlichte Leselebensfreude. Bei literarischen Meisterwerken, sagen wir „Tristram Shandy”, überrascht so etwas nicht, doch bei zwei ansehnlichen Bänden der Reihe „Münchener Komparatistische Studien” reibt man sich schon ein wenig die Augen.
„Kess” könnte man bewundernd nennen, was der vielgepriesene Übersetzer und Essayist Friedhelm Kemp in seinem zweibändigen Werk „Das europäische Sonett” unternimmt, denn es bedarf schon einer gewissen Portion Frechheit, als Einzelner die unüberschaubaren, vielfach verknüpften Traditionsstränge und gleichzeitig eine große Anthologie der bekanntesten Gedichtform italienischen Ursprungs präsentieren zu wollen. Genau wegen dieser Chuzpe fasziniert der 88- Jährige.
Er stürzt sich mit uns in ein festliches Poesiegewühle, in eine Art fröhliches Familienfest der Sonette. Er macht uns – ganz formvollendeter Gastgeber – diskret aufmerksam auf Verwandtschaftsgrade, Abstammungsverhältnisse, weist auf elegante Galane und reizvolle Mauerblümchen hin. Er winkt in eine Ecke, wo Gottfried August Bürger mit Petrarca plaudert, preist den Tanz von Gaspara Stampa mit ihrem Liebhaber, tuschelt uns zu, dass Brecht Margarete Steffin gern vierzehnzeilig kommt, unterredet sich kurz mit Shakespeare, Lope de Vega und John Donne, zieht uns weiter zu Rimbaud und Baudelaire, die mit Ronsard disputieren, richtet ein freundliches Wort an den abseits stehenden Tasso, schmeichelt Edna St. Vincent Millay wegen ihrer vielen Schön- und Freiheiten, wendet sich den ernsten Deutschen Fleming, Gryphius und Greiffenberg zu, grüßt Jiménez, Hernández, Valleijo und Otero, die auf eine Gelegenheit warten, Dante von Beatrice loszueisen. Was für ein sprachbuntes, klangverliebtes, fröhliches Fest! Im Mittelpunkt des Treibens stehen die einzelnen Sonette, ihre Klage um Vergänglichkeit, Untreue, Krankheit, ihre Glaubenszweifel, Liebesseufzer, ihre Reflexionskunst, ihre Tonschönheit und Verweiskraft, ihr Metaphernreichtum und ihr Rhythmus.
Bei seinen Beobachtungen trumpft Kemp nie auf, vielmehr gibt er freimütig gewisse Grenzen seiner Sprachkenntnisse (portugiesische, russische, niederländische Sonette fehlen) und der abenteuerlichen Unternehmung selbst zu (den Antipetrarkismus beispielsweise übergeht er fast völlig); der Rest ist ja auch ehrfurchtgebietend genug. Wichtiger noch, Kemp langweilt nie mit ausufernden Analysen, überfordert nicht mit Ansprüchen, ergeht sich keinesfalls in ermüdenden Reihungen. So lernen wir mit ihm eine vielköpfige Gedichtfamilie kennen samt adoptierten Kindern wie Madrigal, Dixain, Ghasel, und der Autor wird nicht müde, die Individualität jedes einzelnen herauszustreichen: „Wir müssen dem Gedicht nicht nur einen Mund, wir müssen ihm Augen einsetzen, von denen wir uns angeblickt fühlen. ... Man setze das Gedicht vor sich auf einen Stuhl – einen Thron oder einen Schemel, gleichviel – sich gegenüber als Freund, als Bruder, als eine Geliebte, als einen Richter; setze sich ihm aus, präge es sich ein, Wort für Wort, Satz für Satz, Bild für Bild, als dürfte man es nicht vergessen, als gäbe es jetzt – und immer wieder – nur dieses eine Gedicht einem gegenüber und auch schon i n einem, als etwas Schönes, etwas Forderndes, etwas, das einen angeht, heute, morgen und immer wieder.”
Mit dieser Haltung, „natürlich ein Äußerstes”, führt er durch die Sonette. Da ist keine Stelle, an der man nicht sieht, wie Kemp zu dem jeweiligen Gedicht steht, ob er es liebt, schätzt, ob es ihn überwältigt, befremdet. Schon das unterscheidet sein Projekt entschieden von anderen, hebt es aus bloß anthologischen Bemühungen weit heraus. Dabei könnte man mit Hilfe der Register die Bücher schlicht als wunderbare Textsammlung von 500 Sonetten verwenden, brächte sich aber um den entschiedenen Genuss, an der Seite des weltgewandten Maître de Plaisir zu erfahren, warum gerade diese Gedichtform nicht aufhört, mit ihrer Spannung zwischen Strenge und Freiheit Künstler wie Leser zu inspirieren.
Als eine Feier des Sonetts versteht Kemp sein großes Werk, und so verwundert es nicht, dass er mit dem Leser bei einzelnen besonders interessanten Gästen länger verweilt, bei anderen vorüber huscht oder sie nur kurz grüßt. Petrarca, Dante, Michelangelo bekommen eigene Kapitel, auch Ronsard, Goethe, Keats, andere wie Eichendorff, Mörike, Brentano oder Elizabeth Barrett Browning, Christina Rossetti, Ricarda Huch präsentiert er in kleinen Gemeinschaften. Jedes Sonett gibt er erst originalsprachlich wieder, dann folgt meist eine Prosaübersetzung, häufig eine, manchmal sogar mehrere poetische Nachbildungen. Die schätzt Kemp, von Ausnahmen wie Rilke abgesehen, nicht so sehr, am wenigsten die immer wieder gewagten Bemühungen, alle Shakespeare-Sonette oder den ganzen „Canzoniere” ins Deutsche zu übertragen; das sei eher eine Fleißaufgabe, bei der das einzelne Sonett unziemlich leide.
Kemps prosaische Verständnishilfen öffnen viel mehr Einsicht in die Eigentümlichkeiten der Gedichte: die Prosaübertragungen durchsetzt er teils mit kurzen Stellenkommentaren, so dass man noch tiefer die Qualitäten der Originalpoeme ermessen kann. Es ist vor allem aber das Ernstnehmen der Dichtung, ihr einen Platz im Leben einzuräumen, was erstaunt, überzeugt, mitreißt, Freude am Mitdenken, -hören, -lesen bereitet. Man versteht vollkommen sein Bekenntnis, sich mit Sonetten zu unterreden, sei „ein Fest, ein lebenslanges, wenn man will!” Allein dafür gebührte Friedhelm Kemp zum Lorbeer- ein Sonettenkranz!
ROLF-BERNHARD ESSIG
FRIEDHELM KEMP: Das europäische Sonett. Wallstein Verlag, Göttingen 2002. 2 Bde., zus. 984 Seiten, 119 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Ein Fest, ein lebenslanges: Friedhelm Kemp ist der Zeremonienmeister der Sonette
Es gibt ansprechende Bücher. Nicht nur vom Äußeren, nein, im Wortsinne beginnen sie zu reden, werben um Verständnis, werfen Fragen auf, zeigen sich von ihrer besten Seite, und eh man sich’s versieht, entspinnt sich ein Dialog. Sie verdrehen einem den Kopf, ziehen in den Bann und auf die Tanzfläche ihrer Themen, wo sie im Schwung die Aufmerksamkeit bald hier-, bald dorthin lenken, bis ein wohliger Taumel den Leser erfasst und schlichte Leselebensfreude. Bei literarischen Meisterwerken, sagen wir „Tristram Shandy”, überrascht so etwas nicht, doch bei zwei ansehnlichen Bänden der Reihe „Münchener Komparatistische Studien” reibt man sich schon ein wenig die Augen.
„Kess” könnte man bewundernd nennen, was der vielgepriesene Übersetzer und Essayist Friedhelm Kemp in seinem zweibändigen Werk „Das europäische Sonett” unternimmt, denn es bedarf schon einer gewissen Portion Frechheit, als Einzelner die unüberschaubaren, vielfach verknüpften Traditionsstränge und gleichzeitig eine große Anthologie der bekanntesten Gedichtform italienischen Ursprungs präsentieren zu wollen. Genau wegen dieser Chuzpe fasziniert der 88- Jährige.
Er stürzt sich mit uns in ein festliches Poesiegewühle, in eine Art fröhliches Familienfest der Sonette. Er macht uns – ganz formvollendeter Gastgeber – diskret aufmerksam auf Verwandtschaftsgrade, Abstammungsverhältnisse, weist auf elegante Galane und reizvolle Mauerblümchen hin. Er winkt in eine Ecke, wo Gottfried August Bürger mit Petrarca plaudert, preist den Tanz von Gaspara Stampa mit ihrem Liebhaber, tuschelt uns zu, dass Brecht Margarete Steffin gern vierzehnzeilig kommt, unterredet sich kurz mit Shakespeare, Lope de Vega und John Donne, zieht uns weiter zu Rimbaud und Baudelaire, die mit Ronsard disputieren, richtet ein freundliches Wort an den abseits stehenden Tasso, schmeichelt Edna St. Vincent Millay wegen ihrer vielen Schön- und Freiheiten, wendet sich den ernsten Deutschen Fleming, Gryphius und Greiffenberg zu, grüßt Jiménez, Hernández, Valleijo und Otero, die auf eine Gelegenheit warten, Dante von Beatrice loszueisen. Was für ein sprachbuntes, klangverliebtes, fröhliches Fest! Im Mittelpunkt des Treibens stehen die einzelnen Sonette, ihre Klage um Vergänglichkeit, Untreue, Krankheit, ihre Glaubenszweifel, Liebesseufzer, ihre Reflexionskunst, ihre Tonschönheit und Verweiskraft, ihr Metaphernreichtum und ihr Rhythmus.
Bei seinen Beobachtungen trumpft Kemp nie auf, vielmehr gibt er freimütig gewisse Grenzen seiner Sprachkenntnisse (portugiesische, russische, niederländische Sonette fehlen) und der abenteuerlichen Unternehmung selbst zu (den Antipetrarkismus beispielsweise übergeht er fast völlig); der Rest ist ja auch ehrfurchtgebietend genug. Wichtiger noch, Kemp langweilt nie mit ausufernden Analysen, überfordert nicht mit Ansprüchen, ergeht sich keinesfalls in ermüdenden Reihungen. So lernen wir mit ihm eine vielköpfige Gedichtfamilie kennen samt adoptierten Kindern wie Madrigal, Dixain, Ghasel, und der Autor wird nicht müde, die Individualität jedes einzelnen herauszustreichen: „Wir müssen dem Gedicht nicht nur einen Mund, wir müssen ihm Augen einsetzen, von denen wir uns angeblickt fühlen. ... Man setze das Gedicht vor sich auf einen Stuhl – einen Thron oder einen Schemel, gleichviel – sich gegenüber als Freund, als Bruder, als eine Geliebte, als einen Richter; setze sich ihm aus, präge es sich ein, Wort für Wort, Satz für Satz, Bild für Bild, als dürfte man es nicht vergessen, als gäbe es jetzt – und immer wieder – nur dieses eine Gedicht einem gegenüber und auch schon i n einem, als etwas Schönes, etwas Forderndes, etwas, das einen angeht, heute, morgen und immer wieder.”
Mit dieser Haltung, „natürlich ein Äußerstes”, führt er durch die Sonette. Da ist keine Stelle, an der man nicht sieht, wie Kemp zu dem jeweiligen Gedicht steht, ob er es liebt, schätzt, ob es ihn überwältigt, befremdet. Schon das unterscheidet sein Projekt entschieden von anderen, hebt es aus bloß anthologischen Bemühungen weit heraus. Dabei könnte man mit Hilfe der Register die Bücher schlicht als wunderbare Textsammlung von 500 Sonetten verwenden, brächte sich aber um den entschiedenen Genuss, an der Seite des weltgewandten Maître de Plaisir zu erfahren, warum gerade diese Gedichtform nicht aufhört, mit ihrer Spannung zwischen Strenge und Freiheit Künstler wie Leser zu inspirieren.
Als eine Feier des Sonetts versteht Kemp sein großes Werk, und so verwundert es nicht, dass er mit dem Leser bei einzelnen besonders interessanten Gästen länger verweilt, bei anderen vorüber huscht oder sie nur kurz grüßt. Petrarca, Dante, Michelangelo bekommen eigene Kapitel, auch Ronsard, Goethe, Keats, andere wie Eichendorff, Mörike, Brentano oder Elizabeth Barrett Browning, Christina Rossetti, Ricarda Huch präsentiert er in kleinen Gemeinschaften. Jedes Sonett gibt er erst originalsprachlich wieder, dann folgt meist eine Prosaübersetzung, häufig eine, manchmal sogar mehrere poetische Nachbildungen. Die schätzt Kemp, von Ausnahmen wie Rilke abgesehen, nicht so sehr, am wenigsten die immer wieder gewagten Bemühungen, alle Shakespeare-Sonette oder den ganzen „Canzoniere” ins Deutsche zu übertragen; das sei eher eine Fleißaufgabe, bei der das einzelne Sonett unziemlich leide.
Kemps prosaische Verständnishilfen öffnen viel mehr Einsicht in die Eigentümlichkeiten der Gedichte: die Prosaübertragungen durchsetzt er teils mit kurzen Stellenkommentaren, so dass man noch tiefer die Qualitäten der Originalpoeme ermessen kann. Es ist vor allem aber das Ernstnehmen der Dichtung, ihr einen Platz im Leben einzuräumen, was erstaunt, überzeugt, mitreißt, Freude am Mitdenken, -hören, -lesen bereitet. Man versteht vollkommen sein Bekenntnis, sich mit Sonetten zu unterreden, sei „ein Fest, ein lebenslanges, wenn man will!” Allein dafür gebührte Friedhelm Kemp zum Lorbeer- ein Sonettenkranz!
ROLF-BERNHARD ESSIG
FRIEDHELM KEMP: Das europäische Sonett. Wallstein Verlag, Göttingen 2002. 2 Bde., zus. 984 Seiten, 119 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.10.2002In vierzehn Zeilen das Chaos einfangen
Friedhelm Kemps große Sonett-Studie / Von Harald Hartung
"Ewigen Ruhm" wünschte Paul Valéry dem Erfinder des Sonetts. Er hatte allen Grund dazu. Denn das Merkwürdige ist, daß der Mann, den man für den Erfinder des Sonetts hält, nämlich Giacomo da Lentino, Notar am Hof Friedrichs II. zu Palermo, ein Schattendasein in den Anthologien führt. Wie so oft bei bedeutenden Erfindungen haben erst Spätere ihr Potential erkannt. Das geniale Design des Sonetts, die scheinbar simple Koppelung einer Oktave und eines Sextetts, hat eine enorme, in der Poesie einzigartige Karriere gemacht.
Ähnlich wie das Schachspiel ermöglicht das Sonett Kombinationen und Möglichkeiten in unbegrenzter Zahl. Auch die Tüftler und Theoretiker, die vom Goldenen Schnitt bis zur Hegelschen Dialektik alles bemühen, was geistreich klingt, kommen auf ihre Kosten. Nicht minder die Polemiker, die der Sonettform Künstlichkeit und Starrheit vorwerfen - unter ihnen viele verkappte Liebhaber. Oder halb Bekehrte wie Goethe: Er spottete über die modische "Sonettenwut", fürchtete, beim Sonetteschreiben "leimen" zu müssen, und hat doch einige sehr schöne Exemplare geschrieben.
Natürlich ist die Karriere des Sonetts nicht ohne jene großen Dichter zu denken, die es als ein bevorzugtes Medium ihrer Poesie benutzten. Die Linie führt von Dante, Petrarca und Shakespeare bis zu Baudelaire und Rilke. Unverkennbar ist die aktuelle Renaissance des Sonetts, etwa bei Joseph Brodsky und Seamus Heaney, um nur zwei Nobelpreisträger zu nennen. Anders als die antiken Lyrikformen wie Ode und Elegie, die in den europäischen Sprachen selten blühten, ist das Sonett bis heute ein fortwährendes Ereignis, eine Form von gesamteuropäischer Repräsentanz, ja von einer Ausstrahlung auf Sprachen und Literaturen, die sich der Übernahme europäischer Formen eher verschlossen haben. Es gibt auch arabische und japanische Sonette.
Um so erstaunlicher, daß es - abgesehen von nationalen Anthologien und Monographien - bisher keine Gesamtdarstellung des europäischen Sonetts gab. Das heißt: genaugenommen gar nicht erstaunlich. Denn wen hätte man sich als Verfasser denken können? Einer der wenigen, denen man es zutrauen mochte, hat es gewagt: Friedhelm Kemp. Der Editor der rühmlichen Baudelaire-Ausgabe, der Übersetzer großer Franzosen von Saint-John Perse bis Philippe Jaccottet, Kenner auch der weiteren Romania sowie der großen angelsächsischen Poesie, und natürlich der Mann, der sich für vergessene oder unterschätzte Autoren wie Rudolf Borchardt, Peter Gan oder Konrad Weiß eingesetzt hat - Kemp also hat eben eine große, zweibändige Darstellung vorgelegt: "Das europäische Sonett". Er spricht von einem "Altersabenteuer", das sich aus einem Seminar und einer Vorlesung an der Münchner Universität entwickelt habe. Mit einigem Understatement erwähnt er die Unterschiede seiner Sprachenkenntnis und mit echter Bescheidenheit die Lücken, die auch er nicht zu schließen vermochte. Er nennt Portugal, die Niederlande und Rußland, die in seiner Darstellung fehlen. Dezidiert weist er einen im engeren Sinne wissenschaftlichen Anspruch zurück. Kemp sieht sich vor allem als Anthologist und Essayist und nennt sein Werk eine "Texteversammlung, eine Anthologie mit fortlaufendem Kommentar".
Der Leser tut gut daran, diese Hinweise ernst zu nehmen, vor allem Kemps ausdrücklichen Verzicht auf eine wissenschaftliche Theorie des Sonetts. Wer sie sucht, mag sich an die einschlägigen Monographien halten. Er wird jedoch kaum mehr als formale Schemata finden. Kemp wendet sich gegen die normative Vorstellung, es gebe so etwas wie eine "Idee" des Sonetts, die im Lauf der Geschichte zu sich selbst komme. Noch weniger ist es ihm darum zu tun, einen fixen Formbegriff der Entwicklung aufzudrücken. Ihm geht es um das Leben des Sonetts, um das, was bei aller historischen Veränderung seinen Kern ausmacht. Er findet dafür den glücklichen Begriff des "virtuellen Feldes": "Meinen Erfahrungen im Umgang mit Sonetten nach ist diese Gedichtform weniger eine Struktur oder eine Textur als ein virtuelles Feld, in dem jeder Dichter, der einer ist, sich immer wieder anders bewegt und benimmt."
So kommt es Kemp nicht auf die Einhaltung des Reimschemas an, sondern auf die Spannungsverhältnisse zwischen Metrik und Syntax, Bild- und Gedankenführung - auf all das, was den Dichter bei seiner Arbeit bewußt oder halbbewußt bewegt. Die Vorstellung des "virtuellen Feldes" entbindet ihn davon, allgemeine Reflexionen über die Formproblematik anzustellen. Kemps leitendes Motiv ist Erfahrung im Goetheschen Sinne. Von Fall zu Fall entscheidet sich, was ein Sonett ist und worin seine Qualität besteht.
Glücklich daher der Einfall, zusammen mit Sonetten oder kontrastiv dazu jene lyrischen Formen zu behandeln, die eine technische oder historische Affinität zum Sonett haben. Es sind dies der französische Zehnzeiler (Dixain), vor allem aber Stanze, Siziliane und Madrigal, selbst Ghasel und Haiku. Dazu kommen die Schwund- und Erweiterungsformen des Sonetts selbst; etwa das reimlose Sonett, das nicht etwa eine Masche der Moderne ist, sondern schon bei Du Bellay und Christian Gryphius vorkommt. Oder das verlängerte, um ein oder mehr Terzette erweiterte Schweifsonett. Hier - im erweiterten virtuellen Feld - ist der Kenner in seinem Element. Jeder Liebhaber des Sonetts kann von seiner Kenntnis und Sensibilität profitieren. Und jeder Dichter, der noch etwas lernen will.
In einem Fall habe ich freilich passen müssen, weil mir der Formbegriff doch überdehnt scheint. Kemp legt uns den Romancier und Lyriker George Meredith (1828 bis 1909) ans Herz und rühmt dessen Zyklus "Modern Love" (1862), der in fünfzig Sechzehnzeilern den Verfall einer Ehe schildert, als ein Werk, das modern geblieben sei. Das ist einer von Kemps verführerischen Hinweisen, die aus stupender Kenntnis und engagierter Liebhaberei kommen. Man geniert sich fast, nach der Lektüre der schönen und überzeugenden Proben die Frage zu stellen, ob man Meredith' Gebilde aus vier vierzeiligen Strophen als Sonette bezeichnen sollte. Meredith selbst und sein Freund Swinburne taten es. Und der Rezensent zieht sich auf eine Formulierung zurück, wie sie Kemp selbst an heiklen Stellen verwendet: Vielleicht müßte man sich darüber näher unterhalten.
Gibt es nicht doch Grenzen im virtuellen Feld des Sonetts? Für den Leser von Kemps Werk ist das so lange eine sekundäre Frage, als er dem Cicerone durch die Galerien seiner Epochen, durch die Kabinette von über hundert Sonettisten und durch fünfhundert Sonette in fünf Sprachen folgt. Rühmenswert ist die Klarheit der Gliederung. Kemp faßt die großen Epochen, die nationalen Sonett-Schulen zu deutlichen Einheiten zusammen. Er führt uns von den italienischen Sonettisten vor Dante getreulich bis ins zwanzigste Jahrhundert. Neben den großen Einzelfiguren stehen Gruppen wie "Scherz- und Scheltsonette" oder "Vier Neapolitaner" oder etwa "Deutsche Sonettisten des Zweiten Weltkriegs". Gerade diese Sammelkabinette bringen selbst dem halbwegs versierten Liebhaber des Sonetts soviel an wenig oder kaum Bekanntem, daß man seitenweise zitieren möchte.
Kemp bekennt sich zu Petrarca als Begleiter seines Lebens. Er rechnet ihn zu den großen Schutzgeistern wie Erasmus, Montaigne, Goethe und zu den Korrektiven "mancher kurzfristiger Angebote des Neuen und Allerneuesten". Freimütig gesteht Kemp, er habe sich nicht entschließen können, auf den sogenannten Anti-Petrarkismus einzugehen. Und fährt fort: "Was ich verdrießlicher finde: überschwenglich leeres Lob oder serienweise Verunglimpfungen der Angedichteten als einer garstigen Vettel." Er haßt ebendie Monotonie des Seriellen. Aber wer vielleicht doch etwas von den antipetrarkistischen Diatriben vermißt, dem präsentiert er ein einschlägiges satirisches Bravourstück Giordano Brunos.
"An Góngora wie an Mallarmé kann man ein halbes Leben verstudieren", heißt es einmal beiläufig, und man begreift, daß das für den Autor keine bloße Floskel ist. Auch an Shakespeare, hätte er hinzufügen können. Nur wäre hier, zu Shakespeares Sonetten, eine Monographie fällig, die selbst den großzügig bemessenen Rahmen sprengen würde. Kemp begnügt sich mit der deutschen Rezeption und mit einigen Hinweisen. Seine Zurückhaltung hat womöglich noch einen Grund: seine Skepsis gegen die deutschen Übertragungen. Er läßt vier Versionen eines Shakespeare-Sonetts von Gotthold Regis, Stefan George, Karl Kraus und Hanno Helbling kritisch Revue passieren.
Man würde Kemp jedoch mißverstehen mit der Annahme, er halte dichterische Äquivalente großer Sonette für unerreichbar. So rühmt er etwa Rilkes wenige Nachdichtungen aus Petrarcas "Canzoniere" und auch Rilkes Übertragung der Sonette Louise Labés, der ersten französischen Sonettistin von Rang. Hier freilich spricht er vom "Hybriden" der Übertragungen und hält Rilke für einen Sonderfall.
Kemps enormer Respekt vor dem Original dürfte mit seinen innersten Präferenzen zusammenhängen. Das Gedicht, so betont er zu Anfang seines Buches, ist im strengen Verstand kein Gegenstand, kein Objekt: "Wir müssen dem Gedicht nicht nur einen Mund, wir müssen ihm Augen einsetzen, von denen wir uns angeblickt fühlen." Woraus man folgern darf, daß uns auch aus einer Übersetzung, die lebt, ein Gesicht anblickt. Doch welche Ähnlichkeit besteht zum Original? Auch in dieser Frage ist Kemp alles andere als dogmatisch. Er läßt gelten, was anrührt und fasziniert, sei es Original, sei es Übersetzung. Er ist ein Connaisseur, der prüft, was er uns vorsetzt. Dabei verläßt er sich auf seinen Geschmack.
Immer wieder beschleicht den Leser das Gefühl, daß Kemp, indem er ihn belehrt, nur Vorschläge macht und zum Genießen einlädt. Vielleicht darf man deshalb den Begriff des virtuellen Feldes durch ein anderes Bild ergänzen. Es stammt ebenfalls von Kemp und erscheint gleichfalls zu Anfang seines Werkes. Da wird das Sonett mit einem "mehr oder minder festlichen Gedeck" verglichen. Das Urteil: "Letzten Endes kommt es darauf an, was wir zu essen bekommen. Beim Sonett nicht anders."
Wenn man also die beiden Bände als zwei lange und üppige Tafeln überblickt, dann ist für viele Abende gedeckt. Wenigstens aus dem zweiten Band will ich noch etwas hervorheben, nämlich Kemps Hinweis auf die Amerikanerin Edna St. Vincent Millay (1892 bis 1950), die er in den europäischen Kontext einschmuggelt. Er folgt dem bedeutenden wie folgenlosen Essay Rudolf Borchardts über die Dichterin und bringt eine Reihe von Proben, auch aus ihrem Spätwerk. Leider gibt es noch immer keine deutsche Ausgabe dieser großen Lyrikerin. Wird Kemps Porträt den Anstoß geben?
"I will put chaos into fourteen lines" beginnt eines der späten Sonette von Edna St. Vincent Millay; und Kemp rühmt es als ein Sonett über das Sonett, "das, wie mir vorkommt, seine sämtlichen Vorgänger überbietet". Dieses fruchtbare und gebändigte Chaos ist ein Element auch in Kemps eigener Darstellung. Sie zielt immer auf das Lebendige, gleich welcher Epoche. Und wer Sonette von deutschen Gegenwartsautoren vermißt, mag darin einen Wink des Gastgebers sehen, daß sein Enthusiasmus anderweitig mehr Nahrung findet. Er halte sich an das Schlußkapitel des üppigen Werks: "Drei Sonettisten unserer Zeit". Es sind - jedenfalls für mich - neue Namen: Jean Grosjean, Jacques Réda, Giovanni Raboni - zwei Franzosen und ein Italiener. Sie zeigen: Das europäische Sonett lebt.
Friedhelm Kemp: "Das europäische Sonett". Wallstein Verlag, Göttingen 2002. 2 Bde., zus. 934 S., geb., 99,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Friedhelm Kemps große Sonett-Studie / Von Harald Hartung
"Ewigen Ruhm" wünschte Paul Valéry dem Erfinder des Sonetts. Er hatte allen Grund dazu. Denn das Merkwürdige ist, daß der Mann, den man für den Erfinder des Sonetts hält, nämlich Giacomo da Lentino, Notar am Hof Friedrichs II. zu Palermo, ein Schattendasein in den Anthologien führt. Wie so oft bei bedeutenden Erfindungen haben erst Spätere ihr Potential erkannt. Das geniale Design des Sonetts, die scheinbar simple Koppelung einer Oktave und eines Sextetts, hat eine enorme, in der Poesie einzigartige Karriere gemacht.
Ähnlich wie das Schachspiel ermöglicht das Sonett Kombinationen und Möglichkeiten in unbegrenzter Zahl. Auch die Tüftler und Theoretiker, die vom Goldenen Schnitt bis zur Hegelschen Dialektik alles bemühen, was geistreich klingt, kommen auf ihre Kosten. Nicht minder die Polemiker, die der Sonettform Künstlichkeit und Starrheit vorwerfen - unter ihnen viele verkappte Liebhaber. Oder halb Bekehrte wie Goethe: Er spottete über die modische "Sonettenwut", fürchtete, beim Sonetteschreiben "leimen" zu müssen, und hat doch einige sehr schöne Exemplare geschrieben.
Natürlich ist die Karriere des Sonetts nicht ohne jene großen Dichter zu denken, die es als ein bevorzugtes Medium ihrer Poesie benutzten. Die Linie führt von Dante, Petrarca und Shakespeare bis zu Baudelaire und Rilke. Unverkennbar ist die aktuelle Renaissance des Sonetts, etwa bei Joseph Brodsky und Seamus Heaney, um nur zwei Nobelpreisträger zu nennen. Anders als die antiken Lyrikformen wie Ode und Elegie, die in den europäischen Sprachen selten blühten, ist das Sonett bis heute ein fortwährendes Ereignis, eine Form von gesamteuropäischer Repräsentanz, ja von einer Ausstrahlung auf Sprachen und Literaturen, die sich der Übernahme europäischer Formen eher verschlossen haben. Es gibt auch arabische und japanische Sonette.
Um so erstaunlicher, daß es - abgesehen von nationalen Anthologien und Monographien - bisher keine Gesamtdarstellung des europäischen Sonetts gab. Das heißt: genaugenommen gar nicht erstaunlich. Denn wen hätte man sich als Verfasser denken können? Einer der wenigen, denen man es zutrauen mochte, hat es gewagt: Friedhelm Kemp. Der Editor der rühmlichen Baudelaire-Ausgabe, der Übersetzer großer Franzosen von Saint-John Perse bis Philippe Jaccottet, Kenner auch der weiteren Romania sowie der großen angelsächsischen Poesie, und natürlich der Mann, der sich für vergessene oder unterschätzte Autoren wie Rudolf Borchardt, Peter Gan oder Konrad Weiß eingesetzt hat - Kemp also hat eben eine große, zweibändige Darstellung vorgelegt: "Das europäische Sonett". Er spricht von einem "Altersabenteuer", das sich aus einem Seminar und einer Vorlesung an der Münchner Universität entwickelt habe. Mit einigem Understatement erwähnt er die Unterschiede seiner Sprachenkenntnis und mit echter Bescheidenheit die Lücken, die auch er nicht zu schließen vermochte. Er nennt Portugal, die Niederlande und Rußland, die in seiner Darstellung fehlen. Dezidiert weist er einen im engeren Sinne wissenschaftlichen Anspruch zurück. Kemp sieht sich vor allem als Anthologist und Essayist und nennt sein Werk eine "Texteversammlung, eine Anthologie mit fortlaufendem Kommentar".
Der Leser tut gut daran, diese Hinweise ernst zu nehmen, vor allem Kemps ausdrücklichen Verzicht auf eine wissenschaftliche Theorie des Sonetts. Wer sie sucht, mag sich an die einschlägigen Monographien halten. Er wird jedoch kaum mehr als formale Schemata finden. Kemp wendet sich gegen die normative Vorstellung, es gebe so etwas wie eine "Idee" des Sonetts, die im Lauf der Geschichte zu sich selbst komme. Noch weniger ist es ihm darum zu tun, einen fixen Formbegriff der Entwicklung aufzudrücken. Ihm geht es um das Leben des Sonetts, um das, was bei aller historischen Veränderung seinen Kern ausmacht. Er findet dafür den glücklichen Begriff des "virtuellen Feldes": "Meinen Erfahrungen im Umgang mit Sonetten nach ist diese Gedichtform weniger eine Struktur oder eine Textur als ein virtuelles Feld, in dem jeder Dichter, der einer ist, sich immer wieder anders bewegt und benimmt."
So kommt es Kemp nicht auf die Einhaltung des Reimschemas an, sondern auf die Spannungsverhältnisse zwischen Metrik und Syntax, Bild- und Gedankenführung - auf all das, was den Dichter bei seiner Arbeit bewußt oder halbbewußt bewegt. Die Vorstellung des "virtuellen Feldes" entbindet ihn davon, allgemeine Reflexionen über die Formproblematik anzustellen. Kemps leitendes Motiv ist Erfahrung im Goetheschen Sinne. Von Fall zu Fall entscheidet sich, was ein Sonett ist und worin seine Qualität besteht.
Glücklich daher der Einfall, zusammen mit Sonetten oder kontrastiv dazu jene lyrischen Formen zu behandeln, die eine technische oder historische Affinität zum Sonett haben. Es sind dies der französische Zehnzeiler (Dixain), vor allem aber Stanze, Siziliane und Madrigal, selbst Ghasel und Haiku. Dazu kommen die Schwund- und Erweiterungsformen des Sonetts selbst; etwa das reimlose Sonett, das nicht etwa eine Masche der Moderne ist, sondern schon bei Du Bellay und Christian Gryphius vorkommt. Oder das verlängerte, um ein oder mehr Terzette erweiterte Schweifsonett. Hier - im erweiterten virtuellen Feld - ist der Kenner in seinem Element. Jeder Liebhaber des Sonetts kann von seiner Kenntnis und Sensibilität profitieren. Und jeder Dichter, der noch etwas lernen will.
In einem Fall habe ich freilich passen müssen, weil mir der Formbegriff doch überdehnt scheint. Kemp legt uns den Romancier und Lyriker George Meredith (1828 bis 1909) ans Herz und rühmt dessen Zyklus "Modern Love" (1862), der in fünfzig Sechzehnzeilern den Verfall einer Ehe schildert, als ein Werk, das modern geblieben sei. Das ist einer von Kemps verführerischen Hinweisen, die aus stupender Kenntnis und engagierter Liebhaberei kommen. Man geniert sich fast, nach der Lektüre der schönen und überzeugenden Proben die Frage zu stellen, ob man Meredith' Gebilde aus vier vierzeiligen Strophen als Sonette bezeichnen sollte. Meredith selbst und sein Freund Swinburne taten es. Und der Rezensent zieht sich auf eine Formulierung zurück, wie sie Kemp selbst an heiklen Stellen verwendet: Vielleicht müßte man sich darüber näher unterhalten.
Gibt es nicht doch Grenzen im virtuellen Feld des Sonetts? Für den Leser von Kemps Werk ist das so lange eine sekundäre Frage, als er dem Cicerone durch die Galerien seiner Epochen, durch die Kabinette von über hundert Sonettisten und durch fünfhundert Sonette in fünf Sprachen folgt. Rühmenswert ist die Klarheit der Gliederung. Kemp faßt die großen Epochen, die nationalen Sonett-Schulen zu deutlichen Einheiten zusammen. Er führt uns von den italienischen Sonettisten vor Dante getreulich bis ins zwanzigste Jahrhundert. Neben den großen Einzelfiguren stehen Gruppen wie "Scherz- und Scheltsonette" oder "Vier Neapolitaner" oder etwa "Deutsche Sonettisten des Zweiten Weltkriegs". Gerade diese Sammelkabinette bringen selbst dem halbwegs versierten Liebhaber des Sonetts soviel an wenig oder kaum Bekanntem, daß man seitenweise zitieren möchte.
Kemp bekennt sich zu Petrarca als Begleiter seines Lebens. Er rechnet ihn zu den großen Schutzgeistern wie Erasmus, Montaigne, Goethe und zu den Korrektiven "mancher kurzfristiger Angebote des Neuen und Allerneuesten". Freimütig gesteht Kemp, er habe sich nicht entschließen können, auf den sogenannten Anti-Petrarkismus einzugehen. Und fährt fort: "Was ich verdrießlicher finde: überschwenglich leeres Lob oder serienweise Verunglimpfungen der Angedichteten als einer garstigen Vettel." Er haßt ebendie Monotonie des Seriellen. Aber wer vielleicht doch etwas von den antipetrarkistischen Diatriben vermißt, dem präsentiert er ein einschlägiges satirisches Bravourstück Giordano Brunos.
"An Góngora wie an Mallarmé kann man ein halbes Leben verstudieren", heißt es einmal beiläufig, und man begreift, daß das für den Autor keine bloße Floskel ist. Auch an Shakespeare, hätte er hinzufügen können. Nur wäre hier, zu Shakespeares Sonetten, eine Monographie fällig, die selbst den großzügig bemessenen Rahmen sprengen würde. Kemp begnügt sich mit der deutschen Rezeption und mit einigen Hinweisen. Seine Zurückhaltung hat womöglich noch einen Grund: seine Skepsis gegen die deutschen Übertragungen. Er läßt vier Versionen eines Shakespeare-Sonetts von Gotthold Regis, Stefan George, Karl Kraus und Hanno Helbling kritisch Revue passieren.
Man würde Kemp jedoch mißverstehen mit der Annahme, er halte dichterische Äquivalente großer Sonette für unerreichbar. So rühmt er etwa Rilkes wenige Nachdichtungen aus Petrarcas "Canzoniere" und auch Rilkes Übertragung der Sonette Louise Labés, der ersten französischen Sonettistin von Rang. Hier freilich spricht er vom "Hybriden" der Übertragungen und hält Rilke für einen Sonderfall.
Kemps enormer Respekt vor dem Original dürfte mit seinen innersten Präferenzen zusammenhängen. Das Gedicht, so betont er zu Anfang seines Buches, ist im strengen Verstand kein Gegenstand, kein Objekt: "Wir müssen dem Gedicht nicht nur einen Mund, wir müssen ihm Augen einsetzen, von denen wir uns angeblickt fühlen." Woraus man folgern darf, daß uns auch aus einer Übersetzung, die lebt, ein Gesicht anblickt. Doch welche Ähnlichkeit besteht zum Original? Auch in dieser Frage ist Kemp alles andere als dogmatisch. Er läßt gelten, was anrührt und fasziniert, sei es Original, sei es Übersetzung. Er ist ein Connaisseur, der prüft, was er uns vorsetzt. Dabei verläßt er sich auf seinen Geschmack.
Immer wieder beschleicht den Leser das Gefühl, daß Kemp, indem er ihn belehrt, nur Vorschläge macht und zum Genießen einlädt. Vielleicht darf man deshalb den Begriff des virtuellen Feldes durch ein anderes Bild ergänzen. Es stammt ebenfalls von Kemp und erscheint gleichfalls zu Anfang seines Werkes. Da wird das Sonett mit einem "mehr oder minder festlichen Gedeck" verglichen. Das Urteil: "Letzten Endes kommt es darauf an, was wir zu essen bekommen. Beim Sonett nicht anders."
Wenn man also die beiden Bände als zwei lange und üppige Tafeln überblickt, dann ist für viele Abende gedeckt. Wenigstens aus dem zweiten Band will ich noch etwas hervorheben, nämlich Kemps Hinweis auf die Amerikanerin Edna St. Vincent Millay (1892 bis 1950), die er in den europäischen Kontext einschmuggelt. Er folgt dem bedeutenden wie folgenlosen Essay Rudolf Borchardts über die Dichterin und bringt eine Reihe von Proben, auch aus ihrem Spätwerk. Leider gibt es noch immer keine deutsche Ausgabe dieser großen Lyrikerin. Wird Kemps Porträt den Anstoß geben?
"I will put chaos into fourteen lines" beginnt eines der späten Sonette von Edna St. Vincent Millay; und Kemp rühmt es als ein Sonett über das Sonett, "das, wie mir vorkommt, seine sämtlichen Vorgänger überbietet". Dieses fruchtbare und gebändigte Chaos ist ein Element auch in Kemps eigener Darstellung. Sie zielt immer auf das Lebendige, gleich welcher Epoche. Und wer Sonette von deutschen Gegenwartsautoren vermißt, mag darin einen Wink des Gastgebers sehen, daß sein Enthusiasmus anderweitig mehr Nahrung findet. Er halte sich an das Schlußkapitel des üppigen Werks: "Drei Sonettisten unserer Zeit". Es sind - jedenfalls für mich - neue Namen: Jean Grosjean, Jacques Réda, Giovanni Raboni - zwei Franzosen und ein Italiener. Sie zeigen: Das europäische Sonett lebt.
Friedhelm Kemp: "Das europäische Sonett". Wallstein Verlag, Göttingen 2002. 2 Bde., zus. 934 S., geb., 99,- [Euro].
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