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Das Johannesevangelium erweist sich in dieser Auslegung als ein literarisch einheitliches Werk von höchster theologischer Reflektiertheit.

Produktbeschreibung
Das Johannesevangelium erweist sich in dieser Auslegung als ein literarisch einheitliches Werk von höchster theologischer Reflektiertheit.
Autorenporträt
Dr. theol. Ulrich Wilckens, geboren 1928, war von 1958 bis 1960 Dozent für Neues Testament in Marburg, 1960 bis 1968 Professor für Neues Testament in Berlin und 1968 bis 1981 in Hamburg; von 1981 bis 1992 war Ulrich Wilckens Bischof der Nordelbischen Evangelisch-Lutherischen Kirche und "Catholica-Beauftragter" der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.08.1998

Wer nicht in mir bleibt, der wird weggeworfen wie eine Rebe
Noch einmal zum Evangelium des Johannes: Der Kommentar von Ulrich Wilckens lädt ein zu Meditation und Selbstprüfung

An der Schwelle zum dritten Jahrtausend ihrer Geschichte tut Theologie gut daran, sich dem ersten Jahrtausend wieder zu nähern, insgesamt der Art und Weise, in der man in der "Alten Kirche" theologisch arbeitete. Im Rückblick erscheint das zweite Jahrtausend als in jeder Hinsicht zerrissenes und als ein alles zerreißendes. In seinem Kommentar zum Johannesevangelium unternimmt Ulrich Wilckens, der heute siebzig Jahre alt wird, ebendiesen mutigen und auch beachtenswerten Schritt. So liest sich dieser Johannes-Kommentar wie ein Werk aus der Schule des großen Kirchenvaters Johannes Chrysostomus (+407), von dem 88 Auslegungen zu Johannes überliefert sind und der lange auch als Autor der nach ihm benannten Liturgie galt. Mir ging es bei der - im übrigen angenehmen - Lektüre dieses Kommentars so, daß ich auf jeder Seite den matten Goldgrund frühbyzantinischer Christusdarstellungen auf das Buch herüberstrahlen sah. Dagegen sehen, was das Theologische betrifft, die rationalistischen und neuprotestantischen Kommentarwerke dieses Jahrhunderts ganz bleich und arm aus, wie verlegen, als schämten sie sich der Botschaft des Evangelisten.

Von dieser Scheu ist bei Ulrich Wilckens keine Rede. Mutig packt er zu und erklärt alle Jesusworte, in denen ICH BIN (so läßt er es gleich im Zeichensatz hervorheben) bei Johannes vorkommt, für allerheiligste Theophanieformeln, Offenbarungen des Gottesnamens. Im übrigen aber deutet er das ganze Evangelium konsequent sakramentstheologisch, insbesondere eucharistisch. Nach Wilckens sind auf das Abendmahl zu beziehen: die Brotrede in Johannes 6, Wasser und Blut, die nach dem Lanzenstich aus der Seite Jesu kommen, die Rede vom Weinstock in Johannes 15 und die Fußwaschung in Johannes 13. Denn natürlich setze der Evangelist in Johannes 13 die Bekanntschaft seiner Leser mit den drei ersten Evangelien voraus, hier gehe es nur noch um die Teilhabe. Auch Johannes 17, das "hohepriesterliche Gebet", klinge an eine eucharistische Liturgie an. Entsprechend hat Wilckens für neuprotestantische Feindschaft gegen Sakramente nur einen bissigen Seitenhieb übrig. Der Prolog in Johannes 1 sei ein "gottesdienstliches Lied".

Das "Lamm Gottes, das die Sünde der Welt hinwegnimmt", deutet Wilckens im Sinne der Orthodoxie als das am Kreuz stellvertretend für die Sünden sterbende Gotteslamm. Aus der Szene unter dem Kreuz schließlich, bei der Jesus zu Maria im Blick auf den Lieblingsjünger sagt: "Frau, sieh: dein Sohn" und zum Lieblingsjünger: "sieh: deine Mutter", folgert Wilckens: Hier wird Maria zur Mutter der ganzen Kirche, der Kirche, "die Jesu Mutter als ihre Mutter in ihr Eigenstes aufnimmt und sie in ihrer Mitte ehrt". Da dürfen sich die Katholiken freuen.

Das Evangelium nach Johannes ist eine einzige Aufforderung zum "Bleiben" und zur Einheit. Hier schlägt Wilckens' Herz. Eindringlich legt er die Passagen aus, in denen Jesus die Jünger zur Einheit mahnt. Mir sind diese Passagen die liebsten in diesem Kommentar, denn jedem Neutestamentler, der dieses Evangelium liebt, kann nur das Herz bluten gerade angesichts des neuerlichen kleinlichen Professorengezänks zu Fragen der Kirchentrennung. Hier schlägt sich nieder, daß Wilckens sich besonders als Beauftragter der evangelischen Kirchen jahrelang für das Verhältnis zur katholischen Kirche eingesetzt hat. Ich fand es sehr beeindruckend, wie der oft höfisch sanfte Wilckens zur Sprache kräftiger Authentizität gefunden hat. Nennt er doch die Haltung der professoralen evangelischen Rechtfertigungsrechthaber eine "Gemeinheit" in "völliger Realitätsfremdheit". Doch kann er auch die neueste römische Position als "Starrsinn" und eine "schallende Ohrfeige vor allem für Bischof Lehmann" bezeichnen.

Das berühmteste Werk des Johannes Chrysostomus sind seine Homilien zum Römerbrief. Schon Isidor von Pelusium (+435) hat darüber geurteilt: "Wenn der göttliche Paulus sich selbst hätte interpretieren wollen, so würde er es nicht anders als dieser berühmte Meister der attischen Sprache getan haben." Der dreibändige Römerbrief-Kommentar (1978 bis 1982) von Wilckens ist ein Markstein, voll innovativer Kraft. Auch in anderer Hinsicht gehört Wilckens in die Schule des Johannes Chrysostomus. Man erinnere sich, daß der Bischof einst an einem Fest Johannes des Täufers (24. Juni) eine deutlich auf die byzantinische Kaiserin Eudoxia anspielende Predigt mit den Worten begann: "Wiederum rast und tobt Herodias, wiederum tanzt sie und verlangt auf einer Schüssel das Haupt des Johannes." Die politische Sternstunde für Ulrich Wilckens war die weit über den Anlaß hinausweisende Rede bei der Trauerfeier für Uwe Barschel, den unglücklichen Ministerpräsidenten des Landes, in dem Wilckens damals Bischof war. Er wagte es, von einem politischen Morast zu sprechen, und warnte vor einseitigen Schuldzuweisungen. Er forderte eine sehr grundlegende Erneuerung politischen Denkens und Handelns und sieht diese Forderung bis heute unerfüllt.

Zurück zum Evangelium nach Johannes. Wilckens geht von der literarischen Einheitlichkeit des Evangeliums aus. Nur wer es nicht anders gewohnt ist, mag das für selbstverständlich halten, doch ist das der Forschung alles andere als konsensfähig. Es soll Neutestamentler geben, die Ulrich Wilckens, seitdem er auf diese Weise die Einheitlichkeit des Evangeliums vertritt, nicht einmal mehr die Hand geben können oder wollen - ein Zeichen für die allgemein beängstigende Situation von Kirche und Theologie in Deutschland. So wurde die Auslegung des Johannesevangeliums - seinen Aufrufen zur Einheit zum Trotz - zum Abbild tiefsten Dissenses.

Wer zum Beispiel sagt, dieses Evangelium spiegele den Schmerz und den Zorn von Christen, die erst jüngst und gegen ihren Willen aus dem Judentum abgetrennt worden seien, bekommt zur Antwort (Rezension von Hermut Löhr in der F.A.Z. vom 3. Juni zu meinem Buch "Im Anfang war Johannes"), "die Juden" seien in diesem Evangelium längst zu einer homogenen Größe geworden, würden mit der feindlichen Welt identifiziert und das alles sei spät, weil es nur mehr aus der Härte der vollzogenen Trennung erklärbar sei. Daß die Juden mit der feindlichen Welt identifiziert würden, stimmt schon im Blick auf Johannes 4,22 ("das Heil kommt von den Juden") nicht, und auch Nikodemus zeigt, daß es nicht um "die Juden" geht. Warum muß das alles "spät" sein; sind nicht die Propheten leuchtende Beispiele für Zorn und Wut auf das Volk? Die Gleichgültigkeit der christlichen Schriften des zweiten Jahrhunderts gegenüber Juden zeigt, wie es nach der Trennung aussieht.

Wer meint, deutliche Auseinandersetzung mit nichtchristlichen Juden sei immer "spät", geht an der Tatsache vorbei, daß eben nicht Einzelheiten - etwa das Händewaschen - der Streitpunkt mit dem Judentum war, sondern der Vorwurf der Blasphemie (Gotteslästerung) gegen Jesus. Davon zeugen auch die drei ersten Evangelien, und das Johannesevangelium behandelt diese Zentralfrage (so auch Wilckens) - und zwar unabhängig von ihnen. Und noch sind keine kirchlichen Strukturen da, die die Adressaten schützten, daher steht der Evangelist gegenüber den Juden "nackigt" da und "geht auf dem Zahnfleisch".

Einzelne Adressatengruppen im Evangelium angesprochen zu finden ist Resultat sozialgeschichtlicher Fragestellung im weiteren Sinne und nicht "überholt" (und selbst wenn, dann wäre es auch nicht schlimm). Auch die Evangelien nach Matthäus und Lukas sprechen offenbar verschiedene Gruppen an. Im übrigen steht das vierte Evangelium ja wohl tatsächlich zwischen Brief- und Evangelienliteratur. Was die alexandrinische Prägung des Verfassers angeht: Wo gibt es sonst auch nur ein einziges Zeugnis für jüdische Logos-Spekulation, die der bei Johannes wenigstens nahestünde, denn auch für die "Weisheit Salomos" wird allgemein Ägypten als Ort der Entstehung angenommen.

Was den "Lieblingsjünger" betrifft (nach Wilckens steht er "für die Kirche"): In den Abschiedsreden erhält der zuvor mit seinem richtigen Namen Andreas genannte deshalb einen Decknamen, weil er nun ganz und gar nur noch "Funktion" ist. Alles vergleichbare Material weist darauf, daß der Geliebte ebender ist, dem die Bewahrung der Tradition jeweils anvertraut wurde. Und weil dieses das Thema gerade der Abschiedsreden ist - deshalb fungiert Andreas nur noch als Kronzeuge für Jesu Vermächtnis, eben als Lieblingsjünger.

Bevor man mit Martin Hengel die Geschichte der Kanonbildung im zweiten Jahrhundert untersucht, müssen die Quellen des ersten Jahrhunderts selbst befragt werden. Der Canon Muratori betont trotz der Angabe der schriftstellerischen Tätigkeit eines Johannes an diesem Evangelium ebendie Initiative des Andreas. Das könnte etwa der Rolle entsprechen, die Paulus als Initiator des Epheserbriefs haben könnte, auch wenn er ihn nicht niedergeschrieben hat. Daher: Auch wenn der Lieblingsjünger Andreas heißt und das Evangelium auf ihn und sein Zeugnis zurückgeht (Johannes 21,24), kann das Evangelium trotzdem von einem Johannes abgefaßt sein.

Nach Ulrich Wilckens ist die meditative Methode für das Johannesevangelium des öfteren die angemessene. Viele Holzwege wären unbeschritten geblieben, hätte man sich darauf konzentriert. KLAUS BERGER

Ulrich Wilckens: "Das Evangelium nach Johannes". Das Neue Testament Deutsch, Band 4. Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1998. VIII, 353 S., br., 64,- DM.

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