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Flexibilität, Selbstironie und die Lust, sich zu erfinden: Annette Kolbs Roman "Das Exemplar" neu aufgelegt
Der lange vergriffene Roman "Das Exemplar" von Annette Kolb (1870 bis 1967) fand 1913, als er erschien, sofort einen Bewunderer: Rainer Maria Rilke wollte der Autorin am liebsten Blumen schicken, aber die "infame Entfernung" hinderte ihn, und praktischen Blumenversandhandel gab es damals noch nicht. So blieb es beim brieflichen Lob und dem erstmals vergebenen Fontane-Preis.
Heute gelesen, in rotem Leinen neu aufgelegt, wirkt die betont distanzierte Erzählhaltung erfrischend, schon deshalb, weil das Verfahren so aus der Mode gekommen ist. Mit spielerischer Leichtigkeit, fast wie eine Ballade, beginnt Kolbs Porträt einer jungen Frau: "Zwei Monate aus Mariclées seltsamem Leben seien hier preisgegeben und der Vorhang weit davon zurückgeschlagen; dann falle er wieder zu, und sie mag wieder ihres Weges ziehen." Hier spricht eine zwar randständige, aber doch für die Figur sorgende Erzählinstanz, die mal erstaunt innehält, sich mit dem Leser verbündet und über Mariclées Lage spekuliert, um dann ernsthaft den Faden wiederaufzunehmen: "Wir müssen nun zu Mariclée zurückkehren, denn sie ist schon erwacht."
"Das Exemplar" - so nennt Mariclée gern ihren Auserwählten - ist auf den ersten Blick ein Liebesroman. Kolbs Protagonistin war eigens nach London gereist, um ihren Geliebten zu treffen, hat ihn aber um einen Tag verpasst. Geschildert wird nun das Warten auf einen günstigeren Zeitpunkt. Aus der Zeitung weiß Mariclée, dass der in eleganten Kreisen verkehrende Seelenfreund todkrank ist und standesgemäß geheiratet hat. Beides schreckt sie nicht. Sie ist im Besitz hinreichend zugewandter Briefe, eine sicher Liebende und Zurückgeliebte, die darüber das eigene, selbstbestimmte Leben nicht vergisst; eine für ihre Zeit zwar unkonventionelle Frau, aber auch nicht untypisch für die Literatur jener Jahre, die dabei ist, einen neuen Typus zu erfinden. Mariclée selbst ist sprunghaft, von geringer Stetigkeit, auf Gesprächsbühnen ausgelassen, im nächsten einsamen Moment tieftraurig und nachts vor Angst wie gelähmt. Mehr als von der Liebe und dem Frausein erzählt der Roman von der schwierigen Kunst des Sekundärlebens, vom Zeit-Totschlagen während vieler Wochen in der Wartehalle eines verheißungsvollen Glücks. Das streift Mariclée erwartungsgemäß in Gestalt des Geliebten am Ende nur kurz, dazu noch auf schwankendem Boden eines Transatlantikdampfers, im Schatten von Gattin und Schwiegermutter des Verehrten, den sie enttäuschend nur als Puppe agieren sieht. Wie anders ist da ihr scheinbar freies Leben.
Mariclée selbst ist arm, aber von großer Würde, wenn sie eine ferne Freundin in deren Schloss besucht oder Irland bereist. Aber da winkt die Erzählerstimme schon ab: "Wir haben sie ja nicht zu suchen, wo sie nicht wirklich ist." Tatsächlich fasziniert beim Lesen weniger Mariclées Zeitvertreib als diese selbst, mit den Absencen, ihrem manisch-depressiven Temperament. Mariclée, würde man heute wohl klinisch grob diagnostizieren, ist eine bindungsunfähige Melancholikerin mit hypochondrischen Anteilen. Bei Annette Kolb verdichtet sich das zu dem denkwürdigen Satz: "Ach, ich bin es müde." Ein Stoßseufzer ist das, wie das weibliche Gegenstück zu Melvilles "Bartleby", der berühmt wurde wegen seiner stoischen Arbeitsverweigerung und des wiederholten "I would prefer not to". Doch Annette Kolb, die selbst in komplizierter Beziehung mit einem englischen Diplomaten stand, meint es besser mit ihrer Mariclée. Diese bleibt trotz ihres autarken Auftretens als Frau ihrer Zeit erkennbar. Man siezt sich als Liebespaar, fährt mit einem Hansom. Pfeilschnelle Wortwechsel spiegeln den neuen Geschwindigkeitsrausch. Die protzige Beleuchtung der Innenstädte wird als Metapher aufgegriffen, etwa, wenn es über Mariclée heißt, sie sei "elektrisch: wer nicht fest auf die Klingel drückte, vernahm keinen Ton". Annette Kolb, die sich früh nach "europäischen Worten in unseren plombierten Ländern" sehnte und 1916 wegen pazifistischer Umtriebe Brief- und Reisesperre hinzunehmen hatte, rückt in ihrem ersten Roman die Welt zusammen. Kolb, die Heimatlose zwischen München und Paris, deren literarische Glanzzeit in den zwanziger Jahren lag, verhandelt zu einer Zeit, als Kriegspläne die Nachrichten beherrschen, das Dilemma des Individuums, das um Unabhängigkeit ringt und allerorts auf Abhängigkeiten stößt.
Ihre inneren Beben machen Mariclée zu einer erstaunlich gegenwärtigen Figur. "An ihr war alles wie hingeflogen und wieder abgerissen: ihr Verhältnis zum Leben, zur Natur, zu den Menschen, zu sich selbst. Sie stand sich nicht sehr nahe", heißt es einmal über Mariclée. Treffender kann man die irritierende Merkwürdigkeit dieses Charakters kaum fassen. Flexibilität, Selbstironie, ein makaberer Hauch von Verschwindsucht und die Lust, sich neu zu erfinden, resultieren daraus. Aus diesen einander begrenzenden Kräften entwickelt Annette Kolb eine überquellende Prosa, die noch heute, knapp hundert Jahre später, bezaubert.
ANJA HIRSCH
Annette Kolb: "Das Exemplar". Roman.
Verlag Silke Weniger im Vertrieb der Edition Nautilus, Hamburg 2011. 210 S., geb., 18,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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