April 1990, die DDR löst sich auf. Die Älteren sind voll Sorge, die Jungen aber leben die Liebe und die Freiheit, genießen den freundlichen Ausnahmezustand. Im März fiel die Entscheidung für die Wiedervereinigung, im Juli wird die Währungsreform kommen. Die Zukunft mit ihren bürgerlichen Kategorien ist in diesen Tagen weiter entfernt als das Pleistozän. Ulrike und Andreas, ein junges Paar aus Potsdam, kehren der Stadt - enttäuscht vom Ausgang der ersten freien Wahlen - den Rücken und bauen in einem kleinen Dorf in der Niederlausitz an ihrem privaten Idyll: Sie renovieren, legen einen Garten an, schließen Freundschaft mit dem Schäfer und einem fahnenflüchtigen sowjetischen Soldaten. Sie sind frei für den Moment. Nur Ulrikes Bruder Arnd bringt hin und wieder Nachrichten aus der Realität mit - und vor allem Unruhe in den Ort. Als die nahe Kreisstadt sich für den Geldumtausch rüstet, geht einer der Bankcontainer in Flammen auf - und das fabelhafte, kurze Jahr der Freiheit für die Freunde zu Ende.
Der erste Roman über die schönste Anarchie unserer jüngeren Geschichte - und ein Buch über das wunderbare, ängstliche Glück, das jedem Anfang innewohnt.
Der erste Roman über die schönste Anarchie unserer jüngeren Geschichte - und ein Buch über das wunderbare, ängstliche Glück, das jedem Anfang innewohnt.
Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Etwas altmodisch in der Formulierung und auch etwas langweilig, was das Geschehen betrifft, findet Ulrich Seidler André Kubiczeks Roman über einen Haufen Aussteiger im Osten Deutschlands anno 1990 und ihren Weg in die totale Ereignislosigkeit. Dass die für den Leser hautnah erfahrbare Wiederholung hier Teil der beschriebenen Sache ist, weiß Seidler zwar, mitunter geht es ihm im Text aber allzu behäbig zu, wenn die Protagonisten das x-te Bier am Lagerfeuer köpfen. Das Ausstellen des Scheiterns privater Utopien bietet für Seidler dennoch genügend Material zum Nachsinnen.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.11.2014Anarchen essen Dosenfleisch
Eskapismus als Trend, Brandenburg als Zuflucht: André Kubiczeks Roman
Wie steht es nun also mit dem Traum, in Brandenburg aufs Land zu ziehen? Der Krisenreporter Moritz von Uslar und der schmähliedernde Kabarettist Rainald Grebe würden wohl abraten. Die schöne Literatur hingegen träumt sich immer wieder gern mal "raus aus Berlin, Landhaus, Herrenhaus, Gutshaus, Linden davor, Kastanien dahinter, See märkisch, drei Morgen Land mindestens" (so in Judith Hermanns "Sommerhaus, später"), und auch das aktuelle Buchjahr schickt uns tief in die Mark: Mit Ulrike Kolb konnte man an einem Wochenendseminar für Schlaflose auf einem abgelegenen Landgut teilnehmen, mit Sasa Stanisic eintauchen in den See des fiktiven Fürstenfelde.
Spätestens mit André Kubiczeks Roman "Das fabelhafte Jahr der Anarchie" wird es Zeit für einen neuen Gattungsbegriff: Brandenburger Eskapismus. Auch hier wird der Traum vom idyllischen Häuschen fern der Stadt gelebt. Allerdings nicht in der Gegenwart, sondern im Sommer 1990, und zwar von drei jungen Menschen in der ausgehenden DDR, deren Traum vom Kommunismus gerade zerschellt ist: Andreas, genannt "Ändie", und sein Freund Arnd, beide Anfang zwanzig, haben im Potsdam der Wendezeit gerade noch Flugblätter für eine Räterepublik verteilt, "dadaistische Plakate geklebt" und in besetzten Häusern von der Graswurzelrevolution geschwärmt, bis die erste freie Volkskammerwahl im März ihrem Bündnis "Demokratischer Aufbruch" gerade mal ein knappes Prozent der Stimmen bescherte.
Nach dieser Schlappe sagt Arnds Schwester Ulrike klipp und klar, was die Stunde geschlagen hat: "Keiner will euch. Wie sieht's also aus mit dem Landleben, mein Freund?" Da Ändie die Ulrike sehr gern und diese praktischerweise vom Opa einen Hof in der Lausitz geerbt hat, packt man ein paar Sachen zusammen, schmeißt sie in den Ello (hier beginnt der ostalgische Zug des Romans), und fertig ist das Setting für eine Sommergeschichte im Örtchen Neu Buckow, von der viel schon im ersten Satz zusammengefasst scheint: "Isses nicht herrlich, Ändie?"
Die Herrlichkeit malt Kubiczek hübsch aus: Die Alleen reichen bis zum Horizont, Ulrikes Haar schimmert honigblond, das renovierungsbedürftige Haus ist eine verlockende Aufgabe. Wenn man von der mal genug hat, geht man abends im beschaulichen "Heidekrug" einen trinken, und eine etwas miesepetrige Krämerin namens Frau Domaschke, die einem die Hühner aus dem eigenen Familienbesitz zurückverkauft, ist auch schon das Schlimmste, was das junge Glück dort auszustehen hat. Ulrike und Ändie gehen in dieser Idylle zunächst ganz auf.
Der Eskapismus des jungen Liebespaars wird im Roman aber auch offen kritisiert, nämlich von Ulrikes Bruder Arnd, der immer seltener zu Besuch kommt und sich derweil in Potsdam zu radikalisieren scheint. Er will sich mit den Gegebenheiten der neuen Zeit noch nicht abfinden und fordert seine Freunde zum Kampf gegen das neue System auf, schimpft sie Kleinbürger. Andreas hingegen, der die ganze Geschichte aus ferner Rückschau erzählt, erinnert sich an den Sommer als anarchistische Episode der eigenen Biographie, die er wohl auch deshalb ein bisschen verklärt, weil sie lange vorbei ist.
Wenn man sich auf das gemächliche Tempo dieser Erzählung eingelassen hat, die auf gewisse Nichtigkeiten drei- und viermal zurückkommt und jeden Grashalm zweimal umdreht, wird man ganz gut unterhalten, beginnt aber auch mit den Protagonisten zu warten, dass die Hühner endlich Eier legen.
Kurios ist allerdings, dass dieser Roman einer Flucht vor dem Kapitalismus sich bisweilen stark anlehnt an dessen affirmative literarische Ausformung: Es wirkt, als wolle Kubiczek geradezu ein Spiegelbild zu solchen Werken der Popliteratur erzeugen, die im Aufzählen von westlichen Produkten und Markennamen schwelgen. Hier sind es vor allem die Nahrungsmittel der DDR, die gewürdigt werden: Immer wieder wird Schmalzfleisch aus der Dose gebraten, im Einkaufsbeutel aus Dederon baumeln Schmelzkäse mit Salami-Geschmack, Maizena-Speisewürze und drei Schachteln Club-Zigaretten.
Einmal wird das allerdings auch ganz nett ironisiert: Als Arnd Frau Domaschke nach einer Spezialität namens "Scomber Mix" (vulgo: Dosenmakrelen in Tomatensauce) fragt und diese pikiert kontert: "Nee, Junge, so wat gibt's nur in der Stadt", sagt Ulrike zu ihr: "Na, dafür sind wir letzten Herbst aber nicht auf die Straße gegangen, wa, Frau Domaschke?" Von solchen Szenen hätte der Roman auch gern noch ein paar mehr haben können.
JAN WIELE
André Kubiczek:
"Das fabelhafte Jahr
der Anarchie". Roman.
Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2014. 270 S.,
geb., 19,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Eskapismus als Trend, Brandenburg als Zuflucht: André Kubiczeks Roman
Wie steht es nun also mit dem Traum, in Brandenburg aufs Land zu ziehen? Der Krisenreporter Moritz von Uslar und der schmähliedernde Kabarettist Rainald Grebe würden wohl abraten. Die schöne Literatur hingegen träumt sich immer wieder gern mal "raus aus Berlin, Landhaus, Herrenhaus, Gutshaus, Linden davor, Kastanien dahinter, See märkisch, drei Morgen Land mindestens" (so in Judith Hermanns "Sommerhaus, später"), und auch das aktuelle Buchjahr schickt uns tief in die Mark: Mit Ulrike Kolb konnte man an einem Wochenendseminar für Schlaflose auf einem abgelegenen Landgut teilnehmen, mit Sasa Stanisic eintauchen in den See des fiktiven Fürstenfelde.
Spätestens mit André Kubiczeks Roman "Das fabelhafte Jahr der Anarchie" wird es Zeit für einen neuen Gattungsbegriff: Brandenburger Eskapismus. Auch hier wird der Traum vom idyllischen Häuschen fern der Stadt gelebt. Allerdings nicht in der Gegenwart, sondern im Sommer 1990, und zwar von drei jungen Menschen in der ausgehenden DDR, deren Traum vom Kommunismus gerade zerschellt ist: Andreas, genannt "Ändie", und sein Freund Arnd, beide Anfang zwanzig, haben im Potsdam der Wendezeit gerade noch Flugblätter für eine Räterepublik verteilt, "dadaistische Plakate geklebt" und in besetzten Häusern von der Graswurzelrevolution geschwärmt, bis die erste freie Volkskammerwahl im März ihrem Bündnis "Demokratischer Aufbruch" gerade mal ein knappes Prozent der Stimmen bescherte.
Nach dieser Schlappe sagt Arnds Schwester Ulrike klipp und klar, was die Stunde geschlagen hat: "Keiner will euch. Wie sieht's also aus mit dem Landleben, mein Freund?" Da Ändie die Ulrike sehr gern und diese praktischerweise vom Opa einen Hof in der Lausitz geerbt hat, packt man ein paar Sachen zusammen, schmeißt sie in den Ello (hier beginnt der ostalgische Zug des Romans), und fertig ist das Setting für eine Sommergeschichte im Örtchen Neu Buckow, von der viel schon im ersten Satz zusammengefasst scheint: "Isses nicht herrlich, Ändie?"
Die Herrlichkeit malt Kubiczek hübsch aus: Die Alleen reichen bis zum Horizont, Ulrikes Haar schimmert honigblond, das renovierungsbedürftige Haus ist eine verlockende Aufgabe. Wenn man von der mal genug hat, geht man abends im beschaulichen "Heidekrug" einen trinken, und eine etwas miesepetrige Krämerin namens Frau Domaschke, die einem die Hühner aus dem eigenen Familienbesitz zurückverkauft, ist auch schon das Schlimmste, was das junge Glück dort auszustehen hat. Ulrike und Ändie gehen in dieser Idylle zunächst ganz auf.
Der Eskapismus des jungen Liebespaars wird im Roman aber auch offen kritisiert, nämlich von Ulrikes Bruder Arnd, der immer seltener zu Besuch kommt und sich derweil in Potsdam zu radikalisieren scheint. Er will sich mit den Gegebenheiten der neuen Zeit noch nicht abfinden und fordert seine Freunde zum Kampf gegen das neue System auf, schimpft sie Kleinbürger. Andreas hingegen, der die ganze Geschichte aus ferner Rückschau erzählt, erinnert sich an den Sommer als anarchistische Episode der eigenen Biographie, die er wohl auch deshalb ein bisschen verklärt, weil sie lange vorbei ist.
Wenn man sich auf das gemächliche Tempo dieser Erzählung eingelassen hat, die auf gewisse Nichtigkeiten drei- und viermal zurückkommt und jeden Grashalm zweimal umdreht, wird man ganz gut unterhalten, beginnt aber auch mit den Protagonisten zu warten, dass die Hühner endlich Eier legen.
Kurios ist allerdings, dass dieser Roman einer Flucht vor dem Kapitalismus sich bisweilen stark anlehnt an dessen affirmative literarische Ausformung: Es wirkt, als wolle Kubiczek geradezu ein Spiegelbild zu solchen Werken der Popliteratur erzeugen, die im Aufzählen von westlichen Produkten und Markennamen schwelgen. Hier sind es vor allem die Nahrungsmittel der DDR, die gewürdigt werden: Immer wieder wird Schmalzfleisch aus der Dose gebraten, im Einkaufsbeutel aus Dederon baumeln Schmelzkäse mit Salami-Geschmack, Maizena-Speisewürze und drei Schachteln Club-Zigaretten.
Einmal wird das allerdings auch ganz nett ironisiert: Als Arnd Frau Domaschke nach einer Spezialität namens "Scomber Mix" (vulgo: Dosenmakrelen in Tomatensauce) fragt und diese pikiert kontert: "Nee, Junge, so wat gibt's nur in der Stadt", sagt Ulrike zu ihr: "Na, dafür sind wir letzten Herbst aber nicht auf die Straße gegangen, wa, Frau Domaschke?" Von solchen Szenen hätte der Roman auch gern noch ein paar mehr haben können.
JAN WIELE
André Kubiczek:
"Das fabelhafte Jahr
der Anarchie". Roman.
Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2014. 270 S.,
geb., 19,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Dem "fabelhaften Jahr der Anarchie" setzt André Kubiczek ein so köstliches wie melancholisches Denkmal. Kubiczek ist ein Meister des Dialogs, der schnodderige Esprit seiner halben Helden wunderschön. Süddeutsche Zeitung
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 07.10.2014Erforschung
der Zeitkapsel
1990 – war da was? André Kubiczeks
„Das fabelhafte Jahr der Anarchie“
VON INA HARTWIG
Zu der verwirrenden, beängstigenden oder auch euphorischen Zeit zwischen dem Fall der Mauer und dem faktischen Ende der DDR gehörte ein Phänomen, das bisher in der Literatur noch nicht zu Ehren gekommen ist: der russische Soldat im deutschen Wald. Mit dem Gefühl der Unsicherheit waren die Ostdeutschen nicht allein damals; für die Jungen von der sowjetischen Bruderarmee, die in Mecklenburg oder der Niederlausitz kaserniert waren, erschien die Zukunft noch viel wackliger. Hier und da kauerten sie unter Kiefern um ein Lagerfeuerchen. Wer einer solchen traurigen Szene einmal ansichtig wurde (als Westler, der das neue Ausflugsgebiet erkundete), wird das Ziehen in der Brust nicht mehr vergessen.
Dem „fabelhaften Jahr der Anarchie“ setzt André Kubiczek, 1969 in Potsdam geboren, jetzt ein so köstliches wie melancholisches Denkmal. Anders als die „großen“ Geschichtsdeutungen eines Uwe Tellkamp oder, wie jetzt, Lutz Seiler, beschränkt sich Kubiczek auf Zeitkapselforschung, die ihm unter der Hand einer lockeren Erzählung zur Parabel einer verlorenen Situation gerät. Der russische Soldat, er trägt den schönen deutschen Namen Hermann Schmidt, spielt in diesem Stück den Joker.
Kubiczek speist vermutlich eigene Erfahrungen ein, wenn er von einem Paar seiner Generation erzählt, das sich dank eines geerbten Bauernhofs für einige Monate des Jahres 1990 aus dem Berliner Studium ausklinkt und aufs Land absetzt. Ulrike, eine junge Frau mit imposantem Blondhaar, und Andreas, ein junger Mann in schwarzer Lederjacke, leben in den Tag hinein, während ihre Eltern zu Hause um ihre Posten an der „staatstragenden Akademie“ bangen; eine Sorge, die Ulrike und Andreas in ihrem Neu Buckower Idyll nicht an sich heranlassen wollen, ist zumindest Andreas ohnehin allem Staatlichen abgeneigt.
Das teilt er mit Ulrikes Bruder Arnd, der die beiden gelegentlich besucht. Eine Räterepublik können die jungen Herren sich vorstellen; auf Flugblättern lassen sie Bakunin und Trotzki hochleben; im Potsdamer Haus der Demokratie, ehemals Stasizentrale, tummeln sie sich mit neuen Punks und kommunistischen Althippies. Sie saufen nächtelang, wollen „das Glück für alle“; doch, ach: „Der Wahltermin kam rasend schnell näher, und immer finsterer wurden die Prognosen, was das Glück für alle betraf.“ Das Gute daran: „Die Polizei sah weg, und im Grunde lebten wir in einem anarchistischen Interregnum“. Wäre es nach Andreas und Arnd gegangen, hätte das ewig so bleiben können. Mit der Einführung der D-Mark, umgesetzt von einer Regierung, die sie nicht gewählt haben, ist der Traum dann jäh vorbei.
Den großväterlichen Hof in der Niederlausitz kennt Ulrike schon seit Kindheitstagen, auf die Schrullen der Dorfbewohner hat sie stets die passende Antwort. Sie gibt, als Typus, die unerschrockene Brandenburgerin mit Mutterwitz und Dialekt, den Kubiczek gekonnt zu dosieren versteht. Das Dorfleben wirkt ähnlich übersichtlich wie in Bullerbü; da ist der Kindergarten im verfallenen Gutshof, der Heidekrug mit seinem handfesten Wirt und den kräftigen Speisen, und die listige Alte, Frau Domaschke, in deren „Konsum“ zugleich das einzige Telefon des Ortes steht. Wenn Ulrike einmal die Woche bei den Eltern anruft, ist sie nicht nur von schlechtem Gewissen getrieben, sondern hinterher auch mit Schwermut beladen, als hätte sie Steine gegessen.
Ein bisschen verwöhnt wirken Andreas (der Erzähler) und Ulrike schon. Der Hof wird eher dilettantisch renoviert, die gewaschenen Opa-Klamotten flattern tagelang an der Wäscheleine. Hühner zum Eierlegen werden angeschafft, doch tun sie dem Städterpaar auf Landurlaub den Gefallen nicht. Beziehungsweise: die Eier werden geklaut. Wie die Hühner auch. Auch von der Leine verschwindet etwas. Dann der Einbruch im Konsum; die Zeichen verdichten sich. Irgendetwas stimmt nicht. Slapstickhaft, in kleinen Schritten, wird das Idyll zum Horrortrip.
Bis eines Tages des Rätsels Lösung in Person von Hermann Schmidt vor der Tür, nein: im Hühnerstall, steht. Sieht aus wie ein Penner, Bart lang, alles verklebt und verkrustet. Ulrike vor ihm mit Beil in Anschlag; Andreas, der die kyrillischen Abzeichen am Kragen der Uniform sofort erfasst, greift mit ruhiger Stimme ein. Es ist der Beginn einer wunderbaren Freundschaft. Hermanns Geschichte geht so: In Wolgograd geboren, die Familie väterlicherseits deutsch, „weshalb er schon als Kind die deutsche Sprache im Ohr gehabt hatte, wenn auch oft nur in Fragmenten oder gebrochener Form“. Der Vater, Kernphysiker, wird Anfang der Achtzigerjahre in die DDR versetzt, „wo er im Namen des proletarischen Internationalismus dem sozialistischen Brudervolk bei der Beaufsichtigung und Wartung eines sowjetischen Kernreaktors zur Hand ging“. Hermann geht also in der DDR zur Schule, verliebt sich, ist völlig integriert, doch als seine Kameraden in die NVA eingezogen werden, ist es ihm bestimmt, ein russischer Soldat auf deutschem Boden zu werden.
Das Jahr der Anarchie fällt für ihn also nicht ganz so „fabelhaft“ aus wie für seine neuen Freunde. Er hat Angst, nach Kasachstan verlegt zu werden, und desertiert. Auf der Flucht versteckt er sich just in dem Waldstückchen neben Ulrikes geerbtem Hof, ernährt sich von Eiern und Konserven, schlachtet Hühner, übernachtet in deren Scheune, frierend. Über die Uniform hat er einen Schlafanzug von der Wäscheleine gestreift. „,Du bleibst ein paar Tage hier‘, gab Ulrike bekannt, ,du erholst dich ein bisschen, und dann sehen wir weiter.‘“
Und so wird Hermann zum sauberen, liebenswürdigen, cool gekleideten Freund, der im Nu den Hof in Schuss bringt. Sein Fleiß kennt keine Grenzen, und als Andreas das nicht mehr aushält („Mensch, Hermann, jetzt hör doch mal auf zu schuften“), kontert er, früher hätte er auch schon heimlich Holz gehackt, „als kleinen Ausgleich für die gestohlenen Eier“.
Unmöglich, sich der kleinen, hinreißend erzählten Utopie zu entziehen. Leider ist sie zeitlich begrenzt. Bevor das für den armen, tapferen Hermann bedrohlich offene Ende sich ankündigt, malt André Kubiczek mit spürbarem Vergnügen das Kammerspiel der ungewöhnlichen Wohngemeinschaft aus. Hinzu gesellt sich noch Ulrikes wilder Bruder Arnd, der inzwischen auf illegalen Pfaden wandelt, als Hausbesetzer, Supermarkt-Dieb und Kapitalismus-Gegner. Ferner ein gewisser Ingo, der dem Quintett den letzten anarchistischen Schliff gibt: Ingo ist Schäfer – seine Tiere grasen hinterm Hof –, Ost-Hippie, Angeber und Antiquitätenjäger mit Wohnwagen, und ein phantastischer Koch. Wie die Vorbereitung seines ungarischen Gulasch-Eintopfs geschildert wird, ist der Konterpart zu den Konservenfleischorgien, mit denen der Autor seine Leser zuvor bis zur Ekelgrenze strapaziert hat.
Kubiczek ist ein Meister des Dialogs, der schnodderige Esprit seiner halben Helden wunderschön. Und doch werden einige die politische Luft, die hier zwischen den Zeilen weht, ungern einatmen. Klare Botschaft: Etwas ist für immer verloren gegangen, und zwar etwas Ostiges. Wer sich über mangelnde Dankbarkeit, der Bundesrepublik angegliedert worden zu sein, beklagen möchte, sei erinnert: Auch im Westen, besonders in Westberlin, war jenes Soziotop anzutreffen, das sich in subventioniertem Nichtstun gefiel. Und vielleicht ist es an der Zeit anzuerkennen, dass Unverfügbarkeit eine über die ideologischen Grenzen hinausgehende Sehnsucht war.
André Kubiczek: Das fabelhafte Jahr der Anarchie. Roman. Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2014, 272 Seiten, 19,95 Euro. E-Book 16,99 Euro.
Unter der Hand einer lockeren
Erzählung wird dieser Roman
zur Parabel eines Verlustes
Ein senkrecht stehender Taucher ist für den Blauhai ein Fremdkörper. Nichts in seiner Welt schwimmt so.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
der Zeitkapsel
1990 – war da was? André Kubiczeks
„Das fabelhafte Jahr der Anarchie“
VON INA HARTWIG
Zu der verwirrenden, beängstigenden oder auch euphorischen Zeit zwischen dem Fall der Mauer und dem faktischen Ende der DDR gehörte ein Phänomen, das bisher in der Literatur noch nicht zu Ehren gekommen ist: der russische Soldat im deutschen Wald. Mit dem Gefühl der Unsicherheit waren die Ostdeutschen nicht allein damals; für die Jungen von der sowjetischen Bruderarmee, die in Mecklenburg oder der Niederlausitz kaserniert waren, erschien die Zukunft noch viel wackliger. Hier und da kauerten sie unter Kiefern um ein Lagerfeuerchen. Wer einer solchen traurigen Szene einmal ansichtig wurde (als Westler, der das neue Ausflugsgebiet erkundete), wird das Ziehen in der Brust nicht mehr vergessen.
Dem „fabelhaften Jahr der Anarchie“ setzt André Kubiczek, 1969 in Potsdam geboren, jetzt ein so köstliches wie melancholisches Denkmal. Anders als die „großen“ Geschichtsdeutungen eines Uwe Tellkamp oder, wie jetzt, Lutz Seiler, beschränkt sich Kubiczek auf Zeitkapselforschung, die ihm unter der Hand einer lockeren Erzählung zur Parabel einer verlorenen Situation gerät. Der russische Soldat, er trägt den schönen deutschen Namen Hermann Schmidt, spielt in diesem Stück den Joker.
Kubiczek speist vermutlich eigene Erfahrungen ein, wenn er von einem Paar seiner Generation erzählt, das sich dank eines geerbten Bauernhofs für einige Monate des Jahres 1990 aus dem Berliner Studium ausklinkt und aufs Land absetzt. Ulrike, eine junge Frau mit imposantem Blondhaar, und Andreas, ein junger Mann in schwarzer Lederjacke, leben in den Tag hinein, während ihre Eltern zu Hause um ihre Posten an der „staatstragenden Akademie“ bangen; eine Sorge, die Ulrike und Andreas in ihrem Neu Buckower Idyll nicht an sich heranlassen wollen, ist zumindest Andreas ohnehin allem Staatlichen abgeneigt.
Das teilt er mit Ulrikes Bruder Arnd, der die beiden gelegentlich besucht. Eine Räterepublik können die jungen Herren sich vorstellen; auf Flugblättern lassen sie Bakunin und Trotzki hochleben; im Potsdamer Haus der Demokratie, ehemals Stasizentrale, tummeln sie sich mit neuen Punks und kommunistischen Althippies. Sie saufen nächtelang, wollen „das Glück für alle“; doch, ach: „Der Wahltermin kam rasend schnell näher, und immer finsterer wurden die Prognosen, was das Glück für alle betraf.“ Das Gute daran: „Die Polizei sah weg, und im Grunde lebten wir in einem anarchistischen Interregnum“. Wäre es nach Andreas und Arnd gegangen, hätte das ewig so bleiben können. Mit der Einführung der D-Mark, umgesetzt von einer Regierung, die sie nicht gewählt haben, ist der Traum dann jäh vorbei.
Den großväterlichen Hof in der Niederlausitz kennt Ulrike schon seit Kindheitstagen, auf die Schrullen der Dorfbewohner hat sie stets die passende Antwort. Sie gibt, als Typus, die unerschrockene Brandenburgerin mit Mutterwitz und Dialekt, den Kubiczek gekonnt zu dosieren versteht. Das Dorfleben wirkt ähnlich übersichtlich wie in Bullerbü; da ist der Kindergarten im verfallenen Gutshof, der Heidekrug mit seinem handfesten Wirt und den kräftigen Speisen, und die listige Alte, Frau Domaschke, in deren „Konsum“ zugleich das einzige Telefon des Ortes steht. Wenn Ulrike einmal die Woche bei den Eltern anruft, ist sie nicht nur von schlechtem Gewissen getrieben, sondern hinterher auch mit Schwermut beladen, als hätte sie Steine gegessen.
Ein bisschen verwöhnt wirken Andreas (der Erzähler) und Ulrike schon. Der Hof wird eher dilettantisch renoviert, die gewaschenen Opa-Klamotten flattern tagelang an der Wäscheleine. Hühner zum Eierlegen werden angeschafft, doch tun sie dem Städterpaar auf Landurlaub den Gefallen nicht. Beziehungsweise: die Eier werden geklaut. Wie die Hühner auch. Auch von der Leine verschwindet etwas. Dann der Einbruch im Konsum; die Zeichen verdichten sich. Irgendetwas stimmt nicht. Slapstickhaft, in kleinen Schritten, wird das Idyll zum Horrortrip.
Bis eines Tages des Rätsels Lösung in Person von Hermann Schmidt vor der Tür, nein: im Hühnerstall, steht. Sieht aus wie ein Penner, Bart lang, alles verklebt und verkrustet. Ulrike vor ihm mit Beil in Anschlag; Andreas, der die kyrillischen Abzeichen am Kragen der Uniform sofort erfasst, greift mit ruhiger Stimme ein. Es ist der Beginn einer wunderbaren Freundschaft. Hermanns Geschichte geht so: In Wolgograd geboren, die Familie väterlicherseits deutsch, „weshalb er schon als Kind die deutsche Sprache im Ohr gehabt hatte, wenn auch oft nur in Fragmenten oder gebrochener Form“. Der Vater, Kernphysiker, wird Anfang der Achtzigerjahre in die DDR versetzt, „wo er im Namen des proletarischen Internationalismus dem sozialistischen Brudervolk bei der Beaufsichtigung und Wartung eines sowjetischen Kernreaktors zur Hand ging“. Hermann geht also in der DDR zur Schule, verliebt sich, ist völlig integriert, doch als seine Kameraden in die NVA eingezogen werden, ist es ihm bestimmt, ein russischer Soldat auf deutschem Boden zu werden.
Das Jahr der Anarchie fällt für ihn also nicht ganz so „fabelhaft“ aus wie für seine neuen Freunde. Er hat Angst, nach Kasachstan verlegt zu werden, und desertiert. Auf der Flucht versteckt er sich just in dem Waldstückchen neben Ulrikes geerbtem Hof, ernährt sich von Eiern und Konserven, schlachtet Hühner, übernachtet in deren Scheune, frierend. Über die Uniform hat er einen Schlafanzug von der Wäscheleine gestreift. „,Du bleibst ein paar Tage hier‘, gab Ulrike bekannt, ,du erholst dich ein bisschen, und dann sehen wir weiter.‘“
Und so wird Hermann zum sauberen, liebenswürdigen, cool gekleideten Freund, der im Nu den Hof in Schuss bringt. Sein Fleiß kennt keine Grenzen, und als Andreas das nicht mehr aushält („Mensch, Hermann, jetzt hör doch mal auf zu schuften“), kontert er, früher hätte er auch schon heimlich Holz gehackt, „als kleinen Ausgleich für die gestohlenen Eier“.
Unmöglich, sich der kleinen, hinreißend erzählten Utopie zu entziehen. Leider ist sie zeitlich begrenzt. Bevor das für den armen, tapferen Hermann bedrohlich offene Ende sich ankündigt, malt André Kubiczek mit spürbarem Vergnügen das Kammerspiel der ungewöhnlichen Wohngemeinschaft aus. Hinzu gesellt sich noch Ulrikes wilder Bruder Arnd, der inzwischen auf illegalen Pfaden wandelt, als Hausbesetzer, Supermarkt-Dieb und Kapitalismus-Gegner. Ferner ein gewisser Ingo, der dem Quintett den letzten anarchistischen Schliff gibt: Ingo ist Schäfer – seine Tiere grasen hinterm Hof –, Ost-Hippie, Angeber und Antiquitätenjäger mit Wohnwagen, und ein phantastischer Koch. Wie die Vorbereitung seines ungarischen Gulasch-Eintopfs geschildert wird, ist der Konterpart zu den Konservenfleischorgien, mit denen der Autor seine Leser zuvor bis zur Ekelgrenze strapaziert hat.
Kubiczek ist ein Meister des Dialogs, der schnodderige Esprit seiner halben Helden wunderschön. Und doch werden einige die politische Luft, die hier zwischen den Zeilen weht, ungern einatmen. Klare Botschaft: Etwas ist für immer verloren gegangen, und zwar etwas Ostiges. Wer sich über mangelnde Dankbarkeit, der Bundesrepublik angegliedert worden zu sein, beklagen möchte, sei erinnert: Auch im Westen, besonders in Westberlin, war jenes Soziotop anzutreffen, das sich in subventioniertem Nichtstun gefiel. Und vielleicht ist es an der Zeit anzuerkennen, dass Unverfügbarkeit eine über die ideologischen Grenzen hinausgehende Sehnsucht war.
André Kubiczek: Das fabelhafte Jahr der Anarchie. Roman. Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2014, 272 Seiten, 19,95 Euro. E-Book 16,99 Euro.
Unter der Hand einer lockeren
Erzählung wird dieser Roman
zur Parabel eines Verlustes
Ein senkrecht stehender Taucher ist für den Blauhai ein Fremdkörper. Nichts in seiner Welt schwimmt so.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de