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Ein Mann steht vor zweitausend Menschen auf, ruft "Ich grüße meine Kameraden von der SS!", setzt eine Flasche Zyankali an die Lippen und trinkt - Stuttgart, Evangelischer Kirchentag 1969. "Der Tod trat auf dem Weg ins Robert-Bosch-Krankenhaus ein", notiert Günter Grass, der diesen Manfred Augst in "Aus dem Tagebuch einer Schnecke" porträtiert hat. 35 Jahre später stößt Manfred Augsts Tochter auf die Abschiedsbriefe, die Manuskripte und die Feldpostbriefe ihres Vaters. Eine erschütternde Spurensuche beginnt, bei der Ute Scheub mehr findet als nur ein einzelnes Schicksal. Wie viele jener…mehr

Produktbeschreibung
Ein Mann steht vor zweitausend Menschen auf, ruft "Ich grüße meine Kameraden von der SS!", setzt eine Flasche Zyankali an die Lippen und trinkt - Stuttgart, Evangelischer Kirchentag 1969. "Der Tod trat auf dem Weg ins Robert-Bosch-Krankenhaus ein", notiert Günter Grass, der diesen Manfred Augst in "Aus dem Tagebuch einer Schnecke" porträtiert hat. 35 Jahre später stößt Manfred Augsts Tochter auf die Abschiedsbriefe, die Manuskripte und die Feldpostbriefe ihres Vaters. Eine erschütternde Spurensuche beginnt, bei der Ute Scheub mehr findet als nur ein einzelnes Schicksal. Wie viele jener Männergeneration, die Nachkriegsdeutschland geprägt hat, konnte Manfred Augst nicht über seine Erlebnisse im Krieg reden, schon gar nicht mit seinen Kindern, denen er nur ein ferner, liebloser Vater sein konnte. "Er ist - buchstäblich - an seinem Schweigen erstickt."
Autorenporträt
Ute Scheub, geboren 1955 in Tübingen. Nach dem Studium der Politikwissenschaft arbeitete sie als Journalistin für den Tagesspiegel, Frankfurter Rundschau, Süddeutsche, Freitag, Geolino, Tigerentenclub, Publikationen für die Frau und war Mitbegründerin der taz. 1992 Auszeichnung mit dem Ingeborg Drewitz-Preis der Humanistischen Union Berlin für ihr publizistisches Gesamtwerk. Sie lebt als freie Autorin mit ihrer Familie in Berlin.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 18.12.2006

Der schreckliche Vater
Erinnerungen der Tochter eines uneinsichtigen SS-Mannes
Manfred Augst, Jahrgang 1913, war Nazi – man möchte sagen, von ganzem Herzen. Mancher erinnert sich vielleicht an diesen Namen: Günter Grass widmete ihm mehrere Seiten im „Tagebuch einer Schnecke”. Er hat miterlebt, was damals 1969 auf dem Kirchentag in Stuttgart geschah, und was auch Ute Scheub schildert: Augst hält einen Redebeitrag auf einer Veranstaltung, auf der zuvor Grass gelesen hatte. Er spricht wirr, erst zum Schluss wird er klar und deutlich: „Ich werde jetzt provokativ und grüße die Kameraden von der SS.” Dann schluckt er Zyankali, stirbt auf dem Weg ins Krankenhaus.
Der Apotheker Manfred Augst lässt Frau und vier Kinder zurück. Sein Selbstmord ruft ein enormes Medienecho hervor, das die Hinterbliebenen tief beschämt. Die Tochter Ute Scheub ist zu der Zeit 13 Jahre alt; sie erlebt das Ganze wie einen Albtraum. Plötzlich steht sie der SS-Vergangenheit des Vaters gegenüber. Ekel, Scham und Schuldgefühle überwältigen sie. Und gleichzeitig spürt sie riesige Erleichterung, ist froh, dass es den Vater nicht mehr gibt – was ihr weitere Schuldgefühle verursacht.
Ute Scheub, die zu den Gründungsmitgliedern der taz gehört, musste 35 Jahre vergehen lassen, bevor sie sich ihrem verhassten Vater und dieser späten Aufarbeitung zuwenden konnte. Einem Vater, der sie als Kind hat spüren lassen, dass er weibliche Wesen für minderwertig hält, der kalt und unzugänglich war. Fast immer vom Rest der Familie abgeschottet, hielt er doch ein Auge darauf, die Kinder zum Durchhalten und zur Härte zu erziehen. Gab es eine Zwei im Zeugnis, wurden 50 Pfennig vom Taschengeld abgezogen. Nur Einsen waren akzeptiert. Oft musste das kleine Mädchen schwere Arbeit im Garten leisten. Zynisch kommentiert Ute Scheub Augsts Lust, dem Unkraut den Garaus zu machen: Irgendetwas musste immer ausgemerzt werden.
Doch es gibt einen Lichtblick: Die Mutter ist die liebevolle Beschützerin ihrer Kinder, besonders des kleinen Mädchens Ute. Sie schützt sie vor dem Vater, der für die kindliche Seele keinerlei Verständnis aufbringt. Allerdings war auch die Mutter vom Nationalsozialismus überzeugt, wenngleich sie nicht, wie ihr späterer Mann, für die Sache glühte.
Der Autorin gelingt der Balanceakt zwischen kühler Diagnostik des väterlichen Charakters und mitfühlender Erkenntnis in die seelische Verkümmerung dieses Mannes, die sie in die Lage versetzt, die Anstöße seines Handelns zu erkennen. Sie lernt viel, während sie am Buch arbeitet. Der Leser profitiert davon. Während sie all die Dokumente und Aufzeichnungen von ihm sichtet, die sich im Hause in Hülle und Fülle finden, sieht sie sich mit unzähligen Fragen konfrontiert. Was sind das für Sonderkommandierungen, von denen Augst in Feldpostbriefen an die Familie schreibt? Was wusste er, an welchen Gräueltaten hat er sich beteiligt. Litt er unter Schuldgefühlen? Oder litt er, weil er aus der Bahn geworfen war, ein Protagonist der „betrogenen Betrüger”, wie die Autorin Hannah Arendt zitiert. Jene, die vergessen hätten, dass ihre eigene Verschwörung gegen die gesamte Welt diese Welt dazu bringen könne, sich gegen sie zu vereinigen.
Trotz der gründlichen Recherche spürt man auch bei Ute Scheub die Angst (die sich bei allen Autoren zeigt, die den familiären Verstrickungen während der Nazizeit nachgehen), auf Belege der schrecklichsten Täterschaft zu stoßen. Und dennoch suchen Täterkinder fieberhaft nach Beweisen, die in fast allen Fällen nicht zu finden sind. Letztendlich aber wissen sie um die erforschten Fakten der Geschichte, die ihnen keine Entlastung gewähren.
Ute Scheub hat versucht, trotz allem zu verstehen, was mit Manfred Augst geschah. Es ist vor allem das Gefühl der Gemeinschaft, das den in einem strengen, lieblosen Elternhaus Aufgewachsenen so anzieht. Ein unsicherer Mann, der oft nicht den eigenen Ansprüchen genügt. Im Nationalsozialismus so wenig wie später im demokratischen Deutschland. Zwar wirft er sich mit ähnlichem Elan wie zuvor bei der SS in die kirchliche Arbeit. Und interessanterweise stimmt er in vielen Punkten mit den politischen Ansichten seines ältesten Sohnes überein, der damals dem Sozialistischen Studentenbund nahe steht.
Ute Scheub hat ein aufschlussreiches Buch geschrieben, mit Verstand und Empathie. Zu ihren zahllosen Fragen, die zum großen Teil offen bleiben, gehört auch die, wie man zu einem Gewissen kommt. In diesem Zusammenhang zitiert sie den Hirnforscher Antonio Damasio. Er nennt das Gewissen das wichtigste Rüstzeug des Menschen, denn es halte uns an, die eigenen Überlebensinteressen der Moral unterzuordnen. ELKE NICOLINI
UTE SCHEUB: Das falsche Leben. Eine Vatersuche. Piper Verlag, München 2006. 291 Seiten, 18,90 Euro.
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