Mit zwanzig Jahren fängt der stumme Juan Salvatierra an, sein Leben auf gigantischen Leinwandrollen festzuhalten. Die traumartigen Malereien ergeben ein riesiges, fast vier Kilometer langes Kunstwerk, das schließlich sechzig Jahre Leben am Grenzfluss zwischen Argentinien und Uruguay erzählt. Als Salvatierra stirbt, reist sein Sohn Miguel an, um das Kunstwerk des Vaters zu retten - doch die Leinwandrolle für das Jahr 1961 fehlt. Für Miguel beginnt eine abenteuerliche Suche: die nach dem Geheimnis seiner Familie. Pedro Mairals bildgewaltiger Roman erkundet die Verbindung von Kunst und Leben - und bietet zugleich subtile Einblicke in Vergangenheit und Gegenwart des Landes in Südamerika.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.11.2010Vom Entrollen der Geschichte
So kann man sich eine Familiengeschichte auch ausmalen: Pedro Mairal schickt uns auf Bildersuche und kombiniert postmoderne und realistische Erzählweisen.
In Borges' kryptischen Enzyklopädien und bibliothekarischen Fiktionen ist alles Wissen der Welt lebendig aufgehoben, und so wundert man sich weiter nicht, dass in dem fiktiven Gemälde, das sein argentinischer Landsmann Pedro Mairal beschreibt, ein ganzes Leben Platz finden soll. Als er mit neun Jahren vom Pferd fiel, hörte der Postbeamte Juan Salvatierra auf zu sprechen und begann zu malen. Die Stummheit entrückte ihn der groben Welt der Machos und Gauchos und dem Ehrgeiz des Vaters. Als "Familientrottel", im Kreise der Cousinen und Tanten, hatte er alle Freiheiten; sein Lehrer war ein deutscher Anarchist. So malte Salvatierra in "vitaler Anarchie und glücklicher Abgeschiedenheit" sein Leben lang am Bild seines Lebens, ohne je einer Menschenseele etwas davon zu zeigen. Das vier Kilometer lange "Gewebe aus Leben, Leuten, Tieren, Nächten, Katastrophen" ist ein grenzenloses, fließendes Kunstwerk, leuchtender und kontinuierlicher als jede Wirklichkeit, ein gemaltes Tagebuch in sechzig Rollen, eine für jedes Jahr. Nur 1961 klafft eine Lücke. Dieses fehlende Jahr zu rekonstruieren wird für Salvatierras Sohn Miguel zur Verpflichtung, ja zur Obsession.
Während sein Bruder, ein Notar aus Buenos Aires, die Toten ruhen lassen will, entdeckt Miguel in dem Bild, das er in einem Schuppen fand, seine vergessene Kindheit im gottverlassenen Grenzgebiet zwischen Argentinien und Uruguay wieder. Der fehlende Teil des Frieses, den er nach langer Suche auf der anderen Seite des Rio de Plata aufspürt (und gleich wieder verliert), erzählt von einer heimlichen Affäre des Vaters. Das ist nach so viel Umstands- und Geheimniskrämerei enttäuschend, für den Leser wie für den Erzähler. Miguel interessiert sich wenig für seinen neuen Halbbruder, den Hüter des verlorenen Bildes; zuletzt treffen wir ihn in Amsterdam, in der Abteilung Lateinamerikanische Volkskunst des Röell-Museums, versunken in die Betrachtung des Kunstwerks. Genauer gesagt: seiner Kopie. Erst nachdem es von holländischen Kunstexperten digitalisiert, auf Umwegen nach Europa verschifft und in den Kunst- und Museumsbetrieb der Alten Welt eingespeist wurde, kann sich der Sohn wirklich mit dem Bild seines Vaters auseinandersetzen.
Salvatierras Rollbild ist eine Autobiographie ohne Ich: das Werk eines primitiven Malers, der bewusst auf Ruhm verzichtete. Mairal gibt derzeit gerade das Werk des argentinischen Autors Cesar Mermet heraus, der sein ganzes Leben lang geschrieben, aber nie etwas veröffentlicht hat. In Salvatierra steckt viel von Mermet und vielleicht auch ein Stück von Mairal. "Er hatte sich immer als Frosch in einem anderen Teich gefühlt", schreibt er einmal über den sprachlosen Künstler, "ein Figurativer unter Nicht-Figurativen, ein Provinzler zwischen Hauptstädtern, ein Handwerker zwischen Theoretikern." Die Moden des Kunstmarkts gingen jedenfalls spurlos an Salvatierras Art brut vorbei.
Mairal interessiert sich, ganz im Gegensatz zu seinen argentinischen Kollegen, weniger für Politik und das Trauma der Militärdiktatur als für die postmoderne Bibliothek von Babel, das Internet mit seinen neuen Kommunikations- und Publikationsformen. Das Verschwinden des Autors im virtuellen Raum, seine Wiederauferstehung in einer Community von atomisierten, anonymen Bloggern und Rollenspielern, die gemeinsam an einem großen Werk arbeiten, kommt Mairals Literaturbegriff entgegen. Die Abwesenheit des Autors, heißt es im Roman, verbessere das Werk: Das Schweigen des Künstlers lässt dem Betrachter alle Freiheiten von Kunstgenuss und Selbstreflexion. Nicht zufällig soll sein nächster Roman "Der Roman, den ich nicht schreibe" heißen.
Ganz ohne Autor, Adressaten und öffentliche Anerkennung allerdings kann das Kunstwerk auch im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit nicht überleben. Salvatierras Monumentalbild geht am Ende zwar in Flammen unter, aber als Kopie im Weltkulturerbe auf. Mairal spielt das metafiktionale Motiv allerdings eher beiläufig aus; im Grunde ist er ein Anhänger der alten Widerspiegelungsästhetik. Mindestens so wichtig wie Rahmen, Struktur und Geschichte des Gemäldes ist ihm daher sein Inhalt. Die Fäden der Erinnerung, aus denen der Vater seinen Bildteppich knüpfte, fransen nach alter Väter Sitte in die Gegenwart seines Sohnes. Die Spurensuche nach der fehlenden Rolle, die Begegnungen mit den Freunden und Geliebten Salvatierras machen Miguel zu dessen lebendem Spiegelbild.
In Mairals Roman "Eine Nacht mit Sabrina Love" (2002) wird ein Teenager aus seiner trostlosen Existenz auf einer Hühnerfarm in der Pampa herausgerissen, als er bei einem Preisausschreiben eine Nacht mit einem Pornostar gewinnt. Der Plot ist nicht sehr originell; charmanter als der Kontrast zwischen Hühnerfabrik und feuchten pubertären Träumen sind die grotesken Figuren, denen Daniel auf seiner Reise nach Buenos Aires begegnet. Auch im "Fehlenden Jahr" bleibt die Rahmenkonstruktion blass: magischer Realismus light, eine Satire auf den Kunstbetrieb.
Liebevoller und farbiger ausgemalt sind die Figuren und die Natur im Vordergrund: die Fischer und Schmuggler der Kleinstadt Barrancales, Wäscherinnen bei Nacht, das Licht sommerlicher Siestas, die Farben der Melonen, das Kreischen der Papageien, das ansatzlos in Kriegslärm oder Akkordeonmusik übergeht. Im Grunde ist Mairals schmaler Roman ein Auf- und Abrollen von impressionistischen Bildern und Stimmungen.
Was der Vater altmeisterlich malte, muss der Sohn also neu für sich entdecken; das gilt für Miguel wie für alle Kinder von Borges und Cortázar. Mairals Erzähler hatte nie den Wunsch zu malen. Die Welt ist bereits gemalt, und das Gefühl, der Vater habe bereits alle Motive und Leinwände beschrieben, verurteilt ihn zum epigonalen Wiederholen: Das fehlende Jahr ist "der einzige Platz des Universums, den Gott für mich leer gelassen hat".
MARTIN HALTER
Pedro Mairal: "Das fehlende Jahr des Juan Salvatierra". Aus dem Spanischen von Dagmar Ploetz. Hanser Verlag, München 2010. 140 S., geb., 14,90 [Euro].
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So kann man sich eine Familiengeschichte auch ausmalen: Pedro Mairal schickt uns auf Bildersuche und kombiniert postmoderne und realistische Erzählweisen.
In Borges' kryptischen Enzyklopädien und bibliothekarischen Fiktionen ist alles Wissen der Welt lebendig aufgehoben, und so wundert man sich weiter nicht, dass in dem fiktiven Gemälde, das sein argentinischer Landsmann Pedro Mairal beschreibt, ein ganzes Leben Platz finden soll. Als er mit neun Jahren vom Pferd fiel, hörte der Postbeamte Juan Salvatierra auf zu sprechen und begann zu malen. Die Stummheit entrückte ihn der groben Welt der Machos und Gauchos und dem Ehrgeiz des Vaters. Als "Familientrottel", im Kreise der Cousinen und Tanten, hatte er alle Freiheiten; sein Lehrer war ein deutscher Anarchist. So malte Salvatierra in "vitaler Anarchie und glücklicher Abgeschiedenheit" sein Leben lang am Bild seines Lebens, ohne je einer Menschenseele etwas davon zu zeigen. Das vier Kilometer lange "Gewebe aus Leben, Leuten, Tieren, Nächten, Katastrophen" ist ein grenzenloses, fließendes Kunstwerk, leuchtender und kontinuierlicher als jede Wirklichkeit, ein gemaltes Tagebuch in sechzig Rollen, eine für jedes Jahr. Nur 1961 klafft eine Lücke. Dieses fehlende Jahr zu rekonstruieren wird für Salvatierras Sohn Miguel zur Verpflichtung, ja zur Obsession.
Während sein Bruder, ein Notar aus Buenos Aires, die Toten ruhen lassen will, entdeckt Miguel in dem Bild, das er in einem Schuppen fand, seine vergessene Kindheit im gottverlassenen Grenzgebiet zwischen Argentinien und Uruguay wieder. Der fehlende Teil des Frieses, den er nach langer Suche auf der anderen Seite des Rio de Plata aufspürt (und gleich wieder verliert), erzählt von einer heimlichen Affäre des Vaters. Das ist nach so viel Umstands- und Geheimniskrämerei enttäuschend, für den Leser wie für den Erzähler. Miguel interessiert sich wenig für seinen neuen Halbbruder, den Hüter des verlorenen Bildes; zuletzt treffen wir ihn in Amsterdam, in der Abteilung Lateinamerikanische Volkskunst des Röell-Museums, versunken in die Betrachtung des Kunstwerks. Genauer gesagt: seiner Kopie. Erst nachdem es von holländischen Kunstexperten digitalisiert, auf Umwegen nach Europa verschifft und in den Kunst- und Museumsbetrieb der Alten Welt eingespeist wurde, kann sich der Sohn wirklich mit dem Bild seines Vaters auseinandersetzen.
Salvatierras Rollbild ist eine Autobiographie ohne Ich: das Werk eines primitiven Malers, der bewusst auf Ruhm verzichtete. Mairal gibt derzeit gerade das Werk des argentinischen Autors Cesar Mermet heraus, der sein ganzes Leben lang geschrieben, aber nie etwas veröffentlicht hat. In Salvatierra steckt viel von Mermet und vielleicht auch ein Stück von Mairal. "Er hatte sich immer als Frosch in einem anderen Teich gefühlt", schreibt er einmal über den sprachlosen Künstler, "ein Figurativer unter Nicht-Figurativen, ein Provinzler zwischen Hauptstädtern, ein Handwerker zwischen Theoretikern." Die Moden des Kunstmarkts gingen jedenfalls spurlos an Salvatierras Art brut vorbei.
Mairal interessiert sich, ganz im Gegensatz zu seinen argentinischen Kollegen, weniger für Politik und das Trauma der Militärdiktatur als für die postmoderne Bibliothek von Babel, das Internet mit seinen neuen Kommunikations- und Publikationsformen. Das Verschwinden des Autors im virtuellen Raum, seine Wiederauferstehung in einer Community von atomisierten, anonymen Bloggern und Rollenspielern, die gemeinsam an einem großen Werk arbeiten, kommt Mairals Literaturbegriff entgegen. Die Abwesenheit des Autors, heißt es im Roman, verbessere das Werk: Das Schweigen des Künstlers lässt dem Betrachter alle Freiheiten von Kunstgenuss und Selbstreflexion. Nicht zufällig soll sein nächster Roman "Der Roman, den ich nicht schreibe" heißen.
Ganz ohne Autor, Adressaten und öffentliche Anerkennung allerdings kann das Kunstwerk auch im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit nicht überleben. Salvatierras Monumentalbild geht am Ende zwar in Flammen unter, aber als Kopie im Weltkulturerbe auf. Mairal spielt das metafiktionale Motiv allerdings eher beiläufig aus; im Grunde ist er ein Anhänger der alten Widerspiegelungsästhetik. Mindestens so wichtig wie Rahmen, Struktur und Geschichte des Gemäldes ist ihm daher sein Inhalt. Die Fäden der Erinnerung, aus denen der Vater seinen Bildteppich knüpfte, fransen nach alter Väter Sitte in die Gegenwart seines Sohnes. Die Spurensuche nach der fehlenden Rolle, die Begegnungen mit den Freunden und Geliebten Salvatierras machen Miguel zu dessen lebendem Spiegelbild.
In Mairals Roman "Eine Nacht mit Sabrina Love" (2002) wird ein Teenager aus seiner trostlosen Existenz auf einer Hühnerfarm in der Pampa herausgerissen, als er bei einem Preisausschreiben eine Nacht mit einem Pornostar gewinnt. Der Plot ist nicht sehr originell; charmanter als der Kontrast zwischen Hühnerfabrik und feuchten pubertären Träumen sind die grotesken Figuren, denen Daniel auf seiner Reise nach Buenos Aires begegnet. Auch im "Fehlenden Jahr" bleibt die Rahmenkonstruktion blass: magischer Realismus light, eine Satire auf den Kunstbetrieb.
Liebevoller und farbiger ausgemalt sind die Figuren und die Natur im Vordergrund: die Fischer und Schmuggler der Kleinstadt Barrancales, Wäscherinnen bei Nacht, das Licht sommerlicher Siestas, die Farben der Melonen, das Kreischen der Papageien, das ansatzlos in Kriegslärm oder Akkordeonmusik übergeht. Im Grunde ist Mairals schmaler Roman ein Auf- und Abrollen von impressionistischen Bildern und Stimmungen.
Was der Vater altmeisterlich malte, muss der Sohn also neu für sich entdecken; das gilt für Miguel wie für alle Kinder von Borges und Cortázar. Mairals Erzähler hatte nie den Wunsch zu malen. Die Welt ist bereits gemalt, und das Gefühl, der Vater habe bereits alle Motive und Leinwände beschrieben, verurteilt ihn zum epigonalen Wiederholen: Das fehlende Jahr ist "der einzige Platz des Universums, den Gott für mich leer gelassen hat".
MARTIN HALTER
Pedro Mairal: "Das fehlende Jahr des Juan Salvatierra". Aus dem Spanischen von Dagmar Ploetz. Hanser Verlag, München 2010. 140 S., geb., 14,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Gut, Martin Halter weiß um das große Erbe der lateinamerikanischen Literatur, um Borges und Cortazar. Und gemessen daran erscheint ihm der schmale Roman von Pedro Mairal tatsächlich als magischer Realismus light. Die Geschichte vom Sohn auf den Spuren des Vaters, eines sonderbaren Vertreters der Art brut, und eines fehlenden Teils seines ein ganzes Leben abbildenden Wandgemäldes, hat jedoch neben satirischen Seitenhieben auf den Kunstbetrieb noch etwas zu bieten. So entdeckt Halter in Mairals impressionistischem Bilder- und Stimmungsreigen, einer Spurensuche mit eher enttäuschendem Ende, auch einen für Argentiniens schreibende Zunft neuartigen Literaturbegriff. Der beschäftigt sich weniger mit dem Trauma der Militärdiktatur als vielmehr mit dem Verschwinden des Autors im virtuellen Raum eines postmodernen Babel.
© Perlentaucher Medien GmbH
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