Wenn die Toten auf ihr Leben zurückblicken könnten, wovon würden sie erzählen? Einer wurde geboren, verfiel dem Glücksspiel und starb. Ein anderer hat nun endlich verstanden, in welchem Moment sich sein Leben entschied. Eine erinnert sich daran, dass ihr Mann ein Leben lang ihre Hand in seiner gehalten hat. Eine andere hatte siebenundsechzig Männer, doch nur einen hat sie geliebt. Und einer dachte: Man müsste mal raus hier. Doch dann blieb er. In Robert Seethalers neuem Roman geht es um das, was sich nicht fassen lässt. Es ist ein Buch der Menschenleben, jedes ganz anders, jedes mit anderen verbunden. Sie fügen sich zum Roman einer kleinen Stadt und zu einem Bild menschlicher Koexistenz.
buecher-magazin.deIn Robert Seethalers neuem Buch gibt es nicht nur einen Protagonisten, sondern 29. Sie alle sind tot und sprechen aus dem Jenseits. Die Verstorbenen waren Bewohner des Ortes Paulstadt. Nun teilen sie sich den engen Raum des dortigen Friedhofs. "Hier liege ich, Euer Bürgermeister", meldet sich einer zu Wort. "Mein Vater liegt nicht einmal eine Armlänge neben mir. So nah sind wir uns im Leben nie gekommen. Sein Vater, mein Großvater, wiederum liegt etwa anderthalb Meter unter uns. Man rutscht ab mit der Zeit." Ungemütliche Lektüre? Mitnichten. Denn die meisten Verstorbenen sind nicht der Erfahrung des Todes zugewandt. Vielmehr reisen ihre Gedanken zurück zu ihrem Leben in Paulstadt. Zu ihren Lieben, Pflichten, Ängsten, Erlebnissen. Einige der Stimmen gedenken ihrer größten Fehler. So bereut ein Paulstädter, er habe nie "ich liebe dich" gesagt. Andere Stimmen geben den Lebenden Rat. Der Autor lässt seine Paulstädter bisweilen auch nur mit sich selbst reden. Und schimpfen. Die Totenberichte fügen sich zusammen: Nach und nach erweckt Seethaler aus all den Eindrücken ein bewegtes Örtchen zum Leben. Dass seine Gestalten alle mit derselben ruhig abwesenden Stimme sprechen, stört nicht. Im Gegenteil: So kreiert Seethaler ein Mosaik aus Seelen. Dieses Mosaik nennt sich Paulstadt.
© BÜCHERmagazin, Anna Gielas
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.06.2018Das Stimmkonzert der Toten von Paulstadt
Robert Seethaler ist einer der erfolgreichsten deutschsprachigen Schriftsteller. Nach seinem Weltbestseller "Ein ganzes Leben" erscheint nun "Das Feld", ein Gegen- und Ergänzungsstück zugleich.
Die siebtletzte Seite dieses Romans endet mit dem Satz: "Von nun an geht es schnell." Nicht nur schnell zum Schluss des Buchs, sondern auch mit Connie Busses Schicksal. Und da wir zuvor bereits 27 andere Schicksale von Robert Seethaler erzählt bekommen haben, wissen wir, wohin es auch Connie Busse führen wird: auf den Friedhof, "das Feld", wie die Einheimischen ihn nennen. Daher hat der Roman seinen Titel, und bis auf eine sind alle seine dreißig Stimmen die von Toten.
Die überlebende ist die des Erzählers. Nur im ersten Kapitel ist sie zu hören, wenn sie uns nach Paulstadt führt, zu Harry Stevens (von dem wir da noch nicht wissen, dass er so heißt) auf eine Bank unter einer Birke inmitten des kommunalen Gräberfelds. Jeden Tag sitzt Harry hier, "als junger Mann wollte er die Zeit vertreiben, später wollte er sie anhalten, und nun, da er alt war, wünschte er sich nichts sehnlicher, als sie zurückzugewinnen". Solche lapidaren Sätze mit so viel Wahrheit und Weisheit schreibt nur Seethaler.
Er schreibt auch, mit Blick in Harrys Kopf: "Er dachte, dass der Mensch vielleicht erst dann endgültig über sein Leben urteilen konnte, wenn er sein Sterben hinter sich gebracht hatte." Aber diese Kunst beherrscht natürlich niemand. Außer der Literatur, zu deren Repertoire schon immer - und bevorzugt - Reisen ins Totenreich gehörten, von Homer über Dante bis zu Jenny Erpenbeck. Und in seinem vorherigen Roman, "Ein ganzes Leben", erschienen 2014 und ein Erfolg weit über die deutschen Sprachgrenzen hinaus, hatte Seethaler zwar nicht das Jenseits betreten, aber aus einer Perspektive jenseits des Lebens seines Protagonisten Andreas Egger erzählt - wie man es eben machen muss, wenn es titelgemäß um ein ganzes Leben geht. Denn das kann aufs Sterben nicht verzichten.
Ganze Leben sind nicht das Thema von "Das Feld". Es ist vielmehr das Stimmkonzert einer Provinzstadtbevölkerung, deren jede einzelne Persönlichkeit unentbehrlich ist fürs kleine Ganze. Einige der 29 Gestorbenen bekommen nur Kapitel mit einer einzigen Seite, das umfangreichste zählt deren sechzehn, und es ist auffällig, dass die fünf längsten sämtlich Frauen gewidmet sind, die aber wiederum insgesamt in der Minderzahl sind (zwölf gegenüber siebzehn Männern). Man muss sich den Aufbau dieses Buchs so genau ansehen, denn Robert Seethaler ist ein formbewusster Autor. Und nacherzählen kann man 29 Einzelschicksale in keiner Rezension. Ja, eigentlich auch in keinem Roman.
Doch "Das Feld" tut es, und Seethalers Trick besteht darin, dass er jeweils einzelne Episoden aus den individuellen Leben herausgreift, die für diese besonders bezeichnend sind. Gelegentlich sind Kapitel miteinander durch personelle Überschneidungen verknüpft. So erfährt man zum Pfarrer Hoberg nicht nur aus seinem eigenen Mund (alle Kapitel bis auf das einleitende sind in Ich-Perspektive gehalten) von seinem seltsamen Ende, sondern eben dieser Seltsamkeit wegen auch von anderen Erzählern. Sie sind sich sämtlich einander Zeitgenossen; die Handlungsdauer, begrenzt durch ihr Lebensalter, umfasst die Jahre vom Zweiten Weltkrieg bis in die unmittelbare Gegenwart. Einige Personen lieben sich gegenseitig.
Niemand erwarte jedoch, dass hieraus ein Kleinstadtroman entstehe. Paulstadt bleibt blasser als jeder einzelne seiner 29 Bewohner, die hier zu Wort kommen. Die Ortschaft dient allein als größerer Rahmen für Seethalers Personalbasis, und der Friedhof als kleinerer sorgt dann für die Auswahl daraus. War Andreas Egger im "Ganzen Leben" ein Romanheld im klassischen Sinne (literarisch gemeint, nicht biographisch), so wird in "Das Feld" ein ganzes Gefüge in den Blick genommen, lauter Leben, um die es sämtlich leise geblieben wäre, hätte sich nicht Seethalers Phantasie und Kompositionsgeschick ihrer angenommen. Das liest sich anders als "Ein ganzes Leben", komplexer, herausfordernder, aber der Tonfall ist geblieben und damit das Charakteristikum dieses Erzählers. Keine Rede davon, dass er sich dreißig unterschiedliche Stimmlagen für seine dreißig Kapitel gesucht hätte.
Existentiell muss man diesen aufs Gerippe der Sprache reduzierten Tonfall nennen, hier ist kein Raum für opulente Rhetorik, geschweige denn für Sprachspielereien. Ein harscherer Bruch gegenüber Seethalers Frühwerk, den Romanen "Die Biene und der Kurt", "Die weiteren Aussichten" und "Jetzt wirds ernst", erschienen zwischen 2006 und 2010, ist kaum denkbar, denn diese Bücher waren lustvolle Farcen, Typen- statt Charakterstudien, und als jeweils skurrile Glückssuchen höchst amüsant. Der Umschwung kam 2012 mit "Der Trafikant", Seethalers erster Geschichte, die in die Vergangenheit zurückführte und dann gleich in die schlimmste, in die NS-Zeit, vorgeführt am Beispiel Wiens nach dem "Anschluss". Nunmehr rückten größere Themen in den Fokus, die Menschlichkeit an sich stand in Frage. Dadurch zog ein Ernst in Seethalers Prosa ein, der seinen passenden Ausdruck in Kargheit suchte, die aber "Der Trafikant" mit einem prominenten Protagonisten wie Sigmund Freud noch nicht erreichen konnte. Konsequenterweise suchte sich Seethaler für "Ein ganzes Leben" dann einen Allerweltshelden, der tatsächlich in aller Welt als Held erkannt wurde: weil dessen Erlebnisse so viel über die Befähigung des Menschen aussagen, sein Schicksal zu meistern. Und sei es nur vor sich selbst.
Das mag ein utopischer Zug in Seethalers Werk sein, doch mit "Das Feld" ist ihm nun nicht einmal mehr das Gelingen der vielen Lebensentwürfe interessant, sondern die Würde, die selbst noch im Scheitern - und es scheitern etliche Paulstädter, auch vor sich selbst - unberührt bleibt. Diese Liebe Seethalers zu seinen Figuren wiederum berührt bei der Lektüre. Und wenn man dann auf Seite 233 den eingangs zitierten Satz liest: "Von jetzt an geht es schnell", dann schluckt man, denn er gilt ja nicht nur für Connie Busse, sondern auch für die eigene Lektüre von "Das Feld", die man sich länger wünscht, so viel länger.
ANDREAS PLATTHAUS
Robert Seethaler: "Das Feld". Roman.
Hanser Berlin Verlag, Berlin 2018. 239 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Robert Seethaler ist einer der erfolgreichsten deutschsprachigen Schriftsteller. Nach seinem Weltbestseller "Ein ganzes Leben" erscheint nun "Das Feld", ein Gegen- und Ergänzungsstück zugleich.
Die siebtletzte Seite dieses Romans endet mit dem Satz: "Von nun an geht es schnell." Nicht nur schnell zum Schluss des Buchs, sondern auch mit Connie Busses Schicksal. Und da wir zuvor bereits 27 andere Schicksale von Robert Seethaler erzählt bekommen haben, wissen wir, wohin es auch Connie Busse führen wird: auf den Friedhof, "das Feld", wie die Einheimischen ihn nennen. Daher hat der Roman seinen Titel, und bis auf eine sind alle seine dreißig Stimmen die von Toten.
Die überlebende ist die des Erzählers. Nur im ersten Kapitel ist sie zu hören, wenn sie uns nach Paulstadt führt, zu Harry Stevens (von dem wir da noch nicht wissen, dass er so heißt) auf eine Bank unter einer Birke inmitten des kommunalen Gräberfelds. Jeden Tag sitzt Harry hier, "als junger Mann wollte er die Zeit vertreiben, später wollte er sie anhalten, und nun, da er alt war, wünschte er sich nichts sehnlicher, als sie zurückzugewinnen". Solche lapidaren Sätze mit so viel Wahrheit und Weisheit schreibt nur Seethaler.
Er schreibt auch, mit Blick in Harrys Kopf: "Er dachte, dass der Mensch vielleicht erst dann endgültig über sein Leben urteilen konnte, wenn er sein Sterben hinter sich gebracht hatte." Aber diese Kunst beherrscht natürlich niemand. Außer der Literatur, zu deren Repertoire schon immer - und bevorzugt - Reisen ins Totenreich gehörten, von Homer über Dante bis zu Jenny Erpenbeck. Und in seinem vorherigen Roman, "Ein ganzes Leben", erschienen 2014 und ein Erfolg weit über die deutschen Sprachgrenzen hinaus, hatte Seethaler zwar nicht das Jenseits betreten, aber aus einer Perspektive jenseits des Lebens seines Protagonisten Andreas Egger erzählt - wie man es eben machen muss, wenn es titelgemäß um ein ganzes Leben geht. Denn das kann aufs Sterben nicht verzichten.
Ganze Leben sind nicht das Thema von "Das Feld". Es ist vielmehr das Stimmkonzert einer Provinzstadtbevölkerung, deren jede einzelne Persönlichkeit unentbehrlich ist fürs kleine Ganze. Einige der 29 Gestorbenen bekommen nur Kapitel mit einer einzigen Seite, das umfangreichste zählt deren sechzehn, und es ist auffällig, dass die fünf längsten sämtlich Frauen gewidmet sind, die aber wiederum insgesamt in der Minderzahl sind (zwölf gegenüber siebzehn Männern). Man muss sich den Aufbau dieses Buchs so genau ansehen, denn Robert Seethaler ist ein formbewusster Autor. Und nacherzählen kann man 29 Einzelschicksale in keiner Rezension. Ja, eigentlich auch in keinem Roman.
Doch "Das Feld" tut es, und Seethalers Trick besteht darin, dass er jeweils einzelne Episoden aus den individuellen Leben herausgreift, die für diese besonders bezeichnend sind. Gelegentlich sind Kapitel miteinander durch personelle Überschneidungen verknüpft. So erfährt man zum Pfarrer Hoberg nicht nur aus seinem eigenen Mund (alle Kapitel bis auf das einleitende sind in Ich-Perspektive gehalten) von seinem seltsamen Ende, sondern eben dieser Seltsamkeit wegen auch von anderen Erzählern. Sie sind sich sämtlich einander Zeitgenossen; die Handlungsdauer, begrenzt durch ihr Lebensalter, umfasst die Jahre vom Zweiten Weltkrieg bis in die unmittelbare Gegenwart. Einige Personen lieben sich gegenseitig.
Niemand erwarte jedoch, dass hieraus ein Kleinstadtroman entstehe. Paulstadt bleibt blasser als jeder einzelne seiner 29 Bewohner, die hier zu Wort kommen. Die Ortschaft dient allein als größerer Rahmen für Seethalers Personalbasis, und der Friedhof als kleinerer sorgt dann für die Auswahl daraus. War Andreas Egger im "Ganzen Leben" ein Romanheld im klassischen Sinne (literarisch gemeint, nicht biographisch), so wird in "Das Feld" ein ganzes Gefüge in den Blick genommen, lauter Leben, um die es sämtlich leise geblieben wäre, hätte sich nicht Seethalers Phantasie und Kompositionsgeschick ihrer angenommen. Das liest sich anders als "Ein ganzes Leben", komplexer, herausfordernder, aber der Tonfall ist geblieben und damit das Charakteristikum dieses Erzählers. Keine Rede davon, dass er sich dreißig unterschiedliche Stimmlagen für seine dreißig Kapitel gesucht hätte.
Existentiell muss man diesen aufs Gerippe der Sprache reduzierten Tonfall nennen, hier ist kein Raum für opulente Rhetorik, geschweige denn für Sprachspielereien. Ein harscherer Bruch gegenüber Seethalers Frühwerk, den Romanen "Die Biene und der Kurt", "Die weiteren Aussichten" und "Jetzt wirds ernst", erschienen zwischen 2006 und 2010, ist kaum denkbar, denn diese Bücher waren lustvolle Farcen, Typen- statt Charakterstudien, und als jeweils skurrile Glückssuchen höchst amüsant. Der Umschwung kam 2012 mit "Der Trafikant", Seethalers erster Geschichte, die in die Vergangenheit zurückführte und dann gleich in die schlimmste, in die NS-Zeit, vorgeführt am Beispiel Wiens nach dem "Anschluss". Nunmehr rückten größere Themen in den Fokus, die Menschlichkeit an sich stand in Frage. Dadurch zog ein Ernst in Seethalers Prosa ein, der seinen passenden Ausdruck in Kargheit suchte, die aber "Der Trafikant" mit einem prominenten Protagonisten wie Sigmund Freud noch nicht erreichen konnte. Konsequenterweise suchte sich Seethaler für "Ein ganzes Leben" dann einen Allerweltshelden, der tatsächlich in aller Welt als Held erkannt wurde: weil dessen Erlebnisse so viel über die Befähigung des Menschen aussagen, sein Schicksal zu meistern. Und sei es nur vor sich selbst.
Das mag ein utopischer Zug in Seethalers Werk sein, doch mit "Das Feld" ist ihm nun nicht einmal mehr das Gelingen der vielen Lebensentwürfe interessant, sondern die Würde, die selbst noch im Scheitern - und es scheitern etliche Paulstädter, auch vor sich selbst - unberührt bleibt. Diese Liebe Seethalers zu seinen Figuren wiederum berührt bei der Lektüre. Und wenn man dann auf Seite 233 den eingangs zitierten Satz liest: "Von jetzt an geht es schnell", dann schluckt man, denn er gilt ja nicht nur für Connie Busse, sondern auch für die eigene Lektüre von "Das Feld", die man sich länger wünscht, so viel länger.
ANDREAS PLATTHAUS
Robert Seethaler: "Das Feld". Roman.
Hanser Berlin Verlag, Berlin 2018. 239 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Andreas Platthaus könnte ewig weiterlesen in Robert Seethalers Reise ins Totenreich. Leider sind es "nur" 29 Tote, die der Autor zu Wort kommen und auszugsweise aus ihrem Leben berichten lässt, findet Platthaus. Auch wenn die Provinz, in der diese Toten lebten, kaum fassbar wird und Seethaler den Figuren immer die gleiche (seine) Stimme leiht, ihre miteinander verbundenen Geschichten werden für den Rezensenten umso plastischer. Seethalers Fantasie und Konstruktionsgeschick scheinen Platthaus einmal mehr bemerkenswert, ebenso sein reduzierter Ton. Und wie der Autor seinen Figuren Würde verleiht, sogar im Scheitern, berührt Platthaus tief.
© Perlentaucher Medien GmbH
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"Geht doch: Dieses Buch über die Toten eines Dorfes beweist, dass subtile literarische Qualität und Bestseller-Erfolg sich nicht ausschließen müssen." Die Zeit, 04.10.2018
"Wenn ich auf mein Leben irgendwann zurückblicke, wovon würde ich erzählen? [...] Genau das macht die Qualität dieses Buches aus. Die sanfte Wucht des Persönlichen, die in jeder einzelnen Geschichte liegt. [...]Der österreichische Autor ist einer meiner Lieblingsautoren." Christine Westermann, WDR 2, 09.09.18
"Selten war ein Totentanz unterhaltsamer!" Denis Scheck, ARD druckfrisch, 02.09.18
"Einer jener raren Romane, die einen existentiell berühren und verändern können." Denis Scheck, SWR, 19.07.18
"Seethaler achtet darauf, Erwartungen nicht zu simpel zu bedienen ... Seethalers Humor ist nüchtern wie sein Sinn für das Drama." Judith von Sternburg, Frankfurter Rundschau, 27.06.18
"Das alles ist so wunderbar arrangiert, ... dass man mit dem Lesen eigentlich gar nicht mehr aufhören möchte, dass man traurig ist, zum Schluss zu kommen ... Das was er beherrscht wie wenig andere Autoren in der deutschen Literaturgeschichte, ist, allen seinen Figuren eine ganz tiefe Würde zu verschaffen." Andreas Platthaus, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 08.06.18
"Robert Seethaler ist ein Meister des unheroischen Erzählens. In ihren besten Momenten erinnert Robert Seethalers Erzählung von der sanften Schönheit des Scheiterns an den Literaturheiligen Robert Walser." Iris Radisch, Die Zeit, 07.06.18
"Wenn ein Autor 29 Tote ihr Kleinstadt-Leben erzählen lässt; wenn es ihm gelingt, den Leser noch mit der banalsten Episode zu berühren, ohne aus der Jenseits-Nummer Kitsch werden zu lassen; wenn er die Biografien Stück für Stück zusammenwachsen lässt und einen Roman daraus macht - dann muss das ein großer Erzähler sein. Seethaler eben." Stephan Hebel, Frankfurter Rundschau, 22.06.18
"Robert Seethaler ist der große Zimmermann der deutschsprachigen Literatur." Philipp Haibach, Die Welt, 03.06.18
"Dieser leise Autor kann Stille und das Ende beschreiben, wie niemand sonst ... Seethaler ist ein Meister der unsentimentalen Einfachheit, des Augenblicks, des Ephemeren, alles schwebt, alles ist leicht, auch das Schwere, und alles geht zu Ende, irgendwann, irgendwie, und dazwischen leben wir unsere Leben." Elke Heidenreich, Focus, 02.06.18
"Formvollendet. Mit seiner schnörkellosen, poetischen Sprache schafft Seethaler es, jedem Lebensentwurf seine Berechtigung zu geben. Verlust, Liebe, Hoffnung und Einsamkeit - die Emotionen der Menschen so unpathetisch präzise zu beschreiben ist große Kunst, die Seethaler mit seinem genauen Blick meisterhaft beherrscht." ZDF Aspekte, 01.06.18
"Wenn ich auf mein Leben irgendwann zurückblicke, wovon würde ich erzählen? [...] Genau das macht die Qualität dieses Buches aus. Die sanfte Wucht des Persönlichen, die in jeder einzelnen Geschichte liegt. [...]Der österreichische Autor ist einer meiner Lieblingsautoren." Christine Westermann, WDR 2, 09.09.18
"Selten war ein Totentanz unterhaltsamer!" Denis Scheck, ARD druckfrisch, 02.09.18
"Einer jener raren Romane, die einen existentiell berühren und verändern können." Denis Scheck, SWR, 19.07.18
"Seethaler achtet darauf, Erwartungen nicht zu simpel zu bedienen ... Seethalers Humor ist nüchtern wie sein Sinn für das Drama." Judith von Sternburg, Frankfurter Rundschau, 27.06.18
"Das alles ist so wunderbar arrangiert, ... dass man mit dem Lesen eigentlich gar nicht mehr aufhören möchte, dass man traurig ist, zum Schluss zu kommen ... Das was er beherrscht wie wenig andere Autoren in der deutschen Literaturgeschichte, ist, allen seinen Figuren eine ganz tiefe Würde zu verschaffen." Andreas Platthaus, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 08.06.18
"Robert Seethaler ist ein Meister des unheroischen Erzählens. In ihren besten Momenten erinnert Robert Seethalers Erzählung von der sanften Schönheit des Scheiterns an den Literaturheiligen Robert Walser." Iris Radisch, Die Zeit, 07.06.18
"Wenn ein Autor 29 Tote ihr Kleinstadt-Leben erzählen lässt; wenn es ihm gelingt, den Leser noch mit der banalsten Episode zu berühren, ohne aus der Jenseits-Nummer Kitsch werden zu lassen; wenn er die Biografien Stück für Stück zusammenwachsen lässt und einen Roman daraus macht - dann muss das ein großer Erzähler sein. Seethaler eben." Stephan Hebel, Frankfurter Rundschau, 22.06.18
"Robert Seethaler ist der große Zimmermann der deutschsprachigen Literatur." Philipp Haibach, Die Welt, 03.06.18
"Dieser leise Autor kann Stille und das Ende beschreiben, wie niemand sonst ... Seethaler ist ein Meister der unsentimentalen Einfachheit, des Augenblicks, des Ephemeren, alles schwebt, alles ist leicht, auch das Schwere, und alles geht zu Ende, irgendwann, irgendwie, und dazwischen leben wir unsere Leben." Elke Heidenreich, Focus, 02.06.18
"Formvollendet. Mit seiner schnörkellosen, poetischen Sprache schafft Seethaler es, jedem Lebensentwurf seine Berechtigung zu geben. Verlust, Liebe, Hoffnung und Einsamkeit - die Emotionen der Menschen so unpathetisch präzise zu beschreiben ist große Kunst, die Seethaler mit seinem genauen Blick meisterhaft beherrscht." ZDF Aspekte, 01.06.18
Seit Jahrzehnten trägt Robert Seethaler die "Spoon River Anthology" von Edgar Lee Masters mit sich herum, eine 1915 veröffentlichte Sammlung von etwa 300 kurzen Gedichten, jedes von ihnen der Monolog eines verstorbenen Einwohners von Spoon River. "Das hat mich schon als Jugendlicher begeistert", erklärte er in einem Interview, "und irgendwann war es dann Zeit, auch meine eigene Geschichte über die Toten zu erzählen." Und wir sitzen am Rande des Friedhofs und hören zu. Seethalers Spoon River heißt Paulstadt. Ein überdimensioniertes Freizeitzentrum am Ortsrand stürzte noch vor seiner Vollendung ein und begrub drei Menschen unter sich. Wir lernen den korrupten, jovialen Bürgermeister kennen, den Reporter und Blattmacher Hannes Dixon und Heide Friedland, die 87 Liebhaber hatte. Martha Avenieu, die in den Trümmern starb, erzählt von ihrer unglücklichen Ehe. Aus den Monologen treten nach und nach die Verflechtungen zwischen den Paulstädtern hervor. Der Autor liest selbst, mit Bedacht und angenehmer Stimme. Etwas mehr Variation hätte geholfen, die Steine in diesem großartigen Mosaik besser voneinander abzusetzen.
Gasthaus zum Goldenen Mond
In seinem neuen Roman „Das Feld“ will der Autor und Schauspieler Robert Seethaler
einen ganzen Chor von Toten zum Leben erwecken. Das geht gründlich schief
VON BURKHARD MÜLLER
Ein ganzes Leben“: Diesem vor vier Jahren erschienenen Roman verdankt der 1966 geborene Robert Seethaler, der auch als Schauspieler bekannt ist, seinen Ruhm als Autor. Der Titel war nicht weniger als eine Verheißung, und das Buch löste sie ein. Es erzählte, in karger, manchmal allzu karger Sprache das Leben des Andreas Egger, eines Tagelöhners in den Alpen, von dem Zeitpunkt an, wo er als Findelkind an den Hof eines Großbauern gelangte, bis zu seinem Tod mehr als siebzig Jahre später, ein Weg, der von den archaisch-armseligen bäuerlichen Verhältnissen der vorletzten Jahrhundertwende bis in die Zeit des modernen Skitourismus führt, durch die Eggers zuletzt als ein Fremdling irrt, ehe ihn ein sanfter Tod ereilt.
Ein ganzes Leben: Das hat jetzt offenbar nicht mehr ausgereicht. Seethalers neues Buch „Das Feld“ stellt nicht weniger als 29 Leben vor. Das Feld, das ist der Friedhof von Paulstadt, einer imaginären Kleinstadt irgendwo im Süden des deutschen Sprachraums; und es sprechen die Toten aus ihren Gräbern. Jeder von ihnen sagt Ich, und bei jedem empfängt der Leser die Garantie, dass es sich, so kurz sie auch geraten sein mag, immer um eine komplette Biografie handelt, denn Neues kann nicht mehr geschehen. Dafür hat jeder Tote Gelegenheit, als resümierender oder klagender Schatten Rückschau zu halten. Trotz aller privater Wirrungen scheinen sich die Zustände in Paulstadt dabei nie grundsätzlich verändert zu haben, und der Leser weiß oft nicht (soll es auch offenbar nicht wissen), ob der Tote, der gerade das Wort hat, von den Dreißiger- oder den Achtzigerjahren des vorigen Jahrhunderts berichtet.
Es handelt sich zumeist um relativ frische Tote. Doch die älteste unter ihnen hat es auf immerhin 105 Jahre gebracht, und wenn sie sich erinnert, tauchen andere Epochen auf als bei einem Teenager, der bei einem Autounfall ums Leben kam. Zeitverhältnisse verschwimmen, aus dem Blick des Totenreichs verliert das Gestern, Heute und Morgen, die gesamte Sukzession, die das Leben der Lebenden bestimmt, an Bedeutung. Alles ist zugleich da und vereinigt sich zu einer Art Gesamtkunstwerk, gefügt aus je einem Schicksal und einem Charakter. Das Konzept erscheint sehr reizvoll, vor allem, wenn einem das Leben des Andreas Egger etwas zu wenig oder eigentlich zu viel war, mit seiner lakonischen, und darum schwer erträglichen Sentimentalität und seinen Fehlgriffen im Register (Sagt ein armer Bergbauernbub wirklich: „Ein jeder hinke für sich allein“?). Wenn alle Ich sagen dürfen, entfällt die lästige Instanz des Erzählers, der den linkischen Protagonisten bevormundet, und anstelle des gregorianischen Gesangs von der guten schlechten alten Zeit empfängt den Leser ein vielstimmiger Chor der Abgeschiedenen. Wenn es denn ein Chor wäre.
Wie sich herausstellt, macht der Tod dann doch leider alle gleich, den verstorbenen Autohändler und die Seniorin im Pflegeheim, die urlaubende Familienmutter, welche einer Sepsis erliegt, und den schlitzohrigen Bürgermeister. Sie klingen sämtlich wie Seethaler; man könnte sagen, sie „seethalerisieren“, so wie man einst Lessing vorgeworfen hat, dass alle seine Bühnenfiguren lessingisierten. Ein aus dem Nahen Osten stammender Obst- und Gemüsehändler spricht über den Umgang seiner Kunden mit der Ware so: „Ich beobachtete, wenn sie mit den Fingerkuppen einen Pfirsich berührten, als wäre es die Haut eines Geliebten.“ Ist es wahrscheinlich, dass ein Obsthändler, der Druckstellen befürchten muss, diesen Vorgang so zärtlich referiert?
„Ich habe meine Würde abgelegt wie einen alten Mantel.“ Wer seine Würde wirklich abgelegt hat – findet der noch zu einer derart anspruchsvollen Metapher? „Aber wer fragt den Bock, wie er zu seinen Hörnern kam, solange er die Herde sicher durch den Winter führt?“ So spricht angeblich ein Lokalpolitiker, der unter Bestechungsverdacht geraten ist. Nein, wenn er sich treu bleibt, wird er ein unbelangbares Gewäsch von sich geben und hoffen, dass der Kelch des Untersuchungsausschusses an ihm vorübergeht, bis ins Grab hinein.
Allen diesen Figuren fehlt, was sie als Figuren einzig erretten könnte, die eigene Stimme. Stattdessen finden sich sehr viele Früchte. Es stirbt zum Beispiel eine Mutter, indem ihr ein Korb mit vier großen roten Sommeräpfeln entgleitet, oder es kullern Walnüsse mit klackerndem Geräusch davon, und wenn nicht gerade der Flaum des Pfirsichs mit der Haut des Geliebten verglichen wird, dann die Haut der Geliebten mit makellosem Blütenhonig. Die Bitterkeit der Toten erstickt unter so viel Süße; das doch wohl auch bedrückende Leben in der Kleinstadt gerät zum Idyll, das es so bestimmt nicht war.
Das vegetabilische Motiv ist dem Menschen nicht angemessen. Früchte reifen – Menschen nicht, wenigstens nicht so weit, dass sie mit der Ernte, dem Ende einverstanden wären. Einförmigen Tons, mit der Leidenschaftslosigkeit des Grabes, sprechen sie hier von ihren vormaligen Leidenschaften. Gerade dass mit ihrem irreversiblen Tod die Unverwechselbarkeit eines Schicksals beglaubigt werden soll, macht sie so verwechselbar – ein Paradox, das sich besonders in der Namensgebung ausdrückt. Sie heißen Gerd Ingerland, K.P. Lindow oder Martha Avenieu. Jeder erhält einen vor allem markanten Namen, das heißt einen ausgedachten; und in dieser Ausgedachtheit konvergieren sie.
So erweist sich, dass 29 Figuren auf 240 Seiten viel zu viele sind. Sie ziehen vorbei wie in einer Castingshow, wo die Akteure sich gerade deswegen gleichen, weil sie alle ihre Individualität betonen. Natürlich hatten sie im Leben miteinander zu tun, das lässt sich in einem Ort wie Paulstadt gar nicht vermeiden. Man verkehrte im Gasthaus zum Goldenen Mond oder im Hotel zum Schwarzen Bock (Namen, deren Bedeutungsschwere man nicht recht traut); einmal sprechen sogar zwei Eheleute im versetzten Duett, erst die eine, dann der andere, was unvermutet für Schwung sorgt. Doch strukturell herrscht das reine Nacheinander, und damit das Vergessen.
Einmal nur hat der Leser das Gefühl, jemanden zu hören, so, wie er tatsächlich spräche, hätte er als Toter noch einmal die Chance dazu. Sophie Breyer sagt nichts als: „Idioten.“ Ein großes Wort, gewiss; aber nur ein Wort in einem ganzen Roman.
29 Figuren, die alle wie
Robert Seethaler klingen,
sind 28 Figuren zu viel
Auf der Suche nach den Stimmen der Toten: der Schriftsteller Robert Seethaler.
Foto: Philippe Matsas/Opale/Leemage/laif
Robert Seethaler: Das Feld. Roman. Verlag Hanser Berlin, München 2018.
240 Seiten, 22 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
In seinem neuen Roman „Das Feld“ will der Autor und Schauspieler Robert Seethaler
einen ganzen Chor von Toten zum Leben erwecken. Das geht gründlich schief
VON BURKHARD MÜLLER
Ein ganzes Leben“: Diesem vor vier Jahren erschienenen Roman verdankt der 1966 geborene Robert Seethaler, der auch als Schauspieler bekannt ist, seinen Ruhm als Autor. Der Titel war nicht weniger als eine Verheißung, und das Buch löste sie ein. Es erzählte, in karger, manchmal allzu karger Sprache das Leben des Andreas Egger, eines Tagelöhners in den Alpen, von dem Zeitpunkt an, wo er als Findelkind an den Hof eines Großbauern gelangte, bis zu seinem Tod mehr als siebzig Jahre später, ein Weg, der von den archaisch-armseligen bäuerlichen Verhältnissen der vorletzten Jahrhundertwende bis in die Zeit des modernen Skitourismus führt, durch die Eggers zuletzt als ein Fremdling irrt, ehe ihn ein sanfter Tod ereilt.
Ein ganzes Leben: Das hat jetzt offenbar nicht mehr ausgereicht. Seethalers neues Buch „Das Feld“ stellt nicht weniger als 29 Leben vor. Das Feld, das ist der Friedhof von Paulstadt, einer imaginären Kleinstadt irgendwo im Süden des deutschen Sprachraums; und es sprechen die Toten aus ihren Gräbern. Jeder von ihnen sagt Ich, und bei jedem empfängt der Leser die Garantie, dass es sich, so kurz sie auch geraten sein mag, immer um eine komplette Biografie handelt, denn Neues kann nicht mehr geschehen. Dafür hat jeder Tote Gelegenheit, als resümierender oder klagender Schatten Rückschau zu halten. Trotz aller privater Wirrungen scheinen sich die Zustände in Paulstadt dabei nie grundsätzlich verändert zu haben, und der Leser weiß oft nicht (soll es auch offenbar nicht wissen), ob der Tote, der gerade das Wort hat, von den Dreißiger- oder den Achtzigerjahren des vorigen Jahrhunderts berichtet.
Es handelt sich zumeist um relativ frische Tote. Doch die älteste unter ihnen hat es auf immerhin 105 Jahre gebracht, und wenn sie sich erinnert, tauchen andere Epochen auf als bei einem Teenager, der bei einem Autounfall ums Leben kam. Zeitverhältnisse verschwimmen, aus dem Blick des Totenreichs verliert das Gestern, Heute und Morgen, die gesamte Sukzession, die das Leben der Lebenden bestimmt, an Bedeutung. Alles ist zugleich da und vereinigt sich zu einer Art Gesamtkunstwerk, gefügt aus je einem Schicksal und einem Charakter. Das Konzept erscheint sehr reizvoll, vor allem, wenn einem das Leben des Andreas Egger etwas zu wenig oder eigentlich zu viel war, mit seiner lakonischen, und darum schwer erträglichen Sentimentalität und seinen Fehlgriffen im Register (Sagt ein armer Bergbauernbub wirklich: „Ein jeder hinke für sich allein“?). Wenn alle Ich sagen dürfen, entfällt die lästige Instanz des Erzählers, der den linkischen Protagonisten bevormundet, und anstelle des gregorianischen Gesangs von der guten schlechten alten Zeit empfängt den Leser ein vielstimmiger Chor der Abgeschiedenen. Wenn es denn ein Chor wäre.
Wie sich herausstellt, macht der Tod dann doch leider alle gleich, den verstorbenen Autohändler und die Seniorin im Pflegeheim, die urlaubende Familienmutter, welche einer Sepsis erliegt, und den schlitzohrigen Bürgermeister. Sie klingen sämtlich wie Seethaler; man könnte sagen, sie „seethalerisieren“, so wie man einst Lessing vorgeworfen hat, dass alle seine Bühnenfiguren lessingisierten. Ein aus dem Nahen Osten stammender Obst- und Gemüsehändler spricht über den Umgang seiner Kunden mit der Ware so: „Ich beobachtete, wenn sie mit den Fingerkuppen einen Pfirsich berührten, als wäre es die Haut eines Geliebten.“ Ist es wahrscheinlich, dass ein Obsthändler, der Druckstellen befürchten muss, diesen Vorgang so zärtlich referiert?
„Ich habe meine Würde abgelegt wie einen alten Mantel.“ Wer seine Würde wirklich abgelegt hat – findet der noch zu einer derart anspruchsvollen Metapher? „Aber wer fragt den Bock, wie er zu seinen Hörnern kam, solange er die Herde sicher durch den Winter führt?“ So spricht angeblich ein Lokalpolitiker, der unter Bestechungsverdacht geraten ist. Nein, wenn er sich treu bleibt, wird er ein unbelangbares Gewäsch von sich geben und hoffen, dass der Kelch des Untersuchungsausschusses an ihm vorübergeht, bis ins Grab hinein.
Allen diesen Figuren fehlt, was sie als Figuren einzig erretten könnte, die eigene Stimme. Stattdessen finden sich sehr viele Früchte. Es stirbt zum Beispiel eine Mutter, indem ihr ein Korb mit vier großen roten Sommeräpfeln entgleitet, oder es kullern Walnüsse mit klackerndem Geräusch davon, und wenn nicht gerade der Flaum des Pfirsichs mit der Haut des Geliebten verglichen wird, dann die Haut der Geliebten mit makellosem Blütenhonig. Die Bitterkeit der Toten erstickt unter so viel Süße; das doch wohl auch bedrückende Leben in der Kleinstadt gerät zum Idyll, das es so bestimmt nicht war.
Das vegetabilische Motiv ist dem Menschen nicht angemessen. Früchte reifen – Menschen nicht, wenigstens nicht so weit, dass sie mit der Ernte, dem Ende einverstanden wären. Einförmigen Tons, mit der Leidenschaftslosigkeit des Grabes, sprechen sie hier von ihren vormaligen Leidenschaften. Gerade dass mit ihrem irreversiblen Tod die Unverwechselbarkeit eines Schicksals beglaubigt werden soll, macht sie so verwechselbar – ein Paradox, das sich besonders in der Namensgebung ausdrückt. Sie heißen Gerd Ingerland, K.P. Lindow oder Martha Avenieu. Jeder erhält einen vor allem markanten Namen, das heißt einen ausgedachten; und in dieser Ausgedachtheit konvergieren sie.
So erweist sich, dass 29 Figuren auf 240 Seiten viel zu viele sind. Sie ziehen vorbei wie in einer Castingshow, wo die Akteure sich gerade deswegen gleichen, weil sie alle ihre Individualität betonen. Natürlich hatten sie im Leben miteinander zu tun, das lässt sich in einem Ort wie Paulstadt gar nicht vermeiden. Man verkehrte im Gasthaus zum Goldenen Mond oder im Hotel zum Schwarzen Bock (Namen, deren Bedeutungsschwere man nicht recht traut); einmal sprechen sogar zwei Eheleute im versetzten Duett, erst die eine, dann der andere, was unvermutet für Schwung sorgt. Doch strukturell herrscht das reine Nacheinander, und damit das Vergessen.
Einmal nur hat der Leser das Gefühl, jemanden zu hören, so, wie er tatsächlich spräche, hätte er als Toter noch einmal die Chance dazu. Sophie Breyer sagt nichts als: „Idioten.“ Ein großes Wort, gewiss; aber nur ein Wort in einem ganzen Roman.
29 Figuren, die alle wie
Robert Seethaler klingen,
sind 28 Figuren zu viel
Auf der Suche nach den Stimmen der Toten: der Schriftsteller Robert Seethaler.
Foto: Philippe Matsas/Opale/Leemage/laif
Robert Seethaler: Das Feld. Roman. Verlag Hanser Berlin, München 2018.
240 Seiten, 22 Euro.
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