Das preußisch-deutsche Erscheinungsbild der Nationalen Volksarmee (NVA) der DDR sowie die Tatsache, dass ehemalige Offiziere und Generale der Deutschen Wehrmacht maßgeblich am Aufbau der Arbeiter- und Bauern-Armee beteiligt waren, prägen die Diskussionen um den 'wahren Charakter' ostdeutscher Streitkräfte bis heute. Erstmals liegt nun eine Arbeit vor, die die Wehrmachteinflüsse im Militär der SBZ/DDR seit 1948/49 in umfassender Weise untersucht. Wer waren die Männer, die ihre wehrmachtspezifischen Erfahrungen in den Dienst einer DDR-Aufrüstung stellten? Welche Wehrmachteinflüsse kamen in der NVA und ihren Vorläufern langfristig zum Tragen? Wie gingen die SED und die sowjetische Führungsmacht mit dem ungeliebten wie zugleich unverzichtbaren 'Erbe' um? Auf der Grundlage weitgehend neu erschlossener Archivalien, darunter hunderter Akten des Ministeriums für Staatssicherheit sowie zahlreicher Interviews mit Zeitzeugen, liefert der Autor eine detaillierte Analyse des ostdeutschen Streitkräfteaufbaus im Zwiespalt von militärischer Notwendigkeit und klassenideologischem Anspruch.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.02.2007Waffen nur in Arbeiterhand?
Verdrängte Traditionen und verdrängtes Personal im DDR-Militär
War die Nationale Volksarmee der DDR eine Arbeiter-und-Bauern-Armee jenseits preußisch-deutscher Militärtraditionen? Eine schlüssige, differenzierende Antwort auf diese Frage gibt Daniel Niemetz mit seiner daten- und faktengespickten Untersuchung von Einflüssen der deutschen Wehrmacht auf das innere Gefüge des DDR-Militärs. Im Ergebnis seiner Forschungen weist er nach, dass das "feldgraue Erbe" in den Streitkräften des SED-Regimes stärker ausgeprägt war, als die seinerzeit Herrschenden das wahrhaben wollten. Die Erklärung, die er anbietet, ist plausibel: "Hunderte ehemaliger Offiziere und Tausende ehemaliger Unterführer und Mannschaftsdienstgrade der Wehrmacht bildeten seit 1948/49 das Grundgerüst des militärisch-personellen Aufwuchses in der SBZ/DDR. Von vornherein nahmen diese Kader nicht allein überproportional viele mittlere bis höchste Kommando- und Stabspositionen ein, sondern zeichneten als Ausbildungs- und Lehroffiziere auch maßgeblich für die Heranbildung künftiger Offiziersgenerationen verantwortlich." Die Waffen waren nicht nur in Arbeiterhand.
Für zahlreiche ehemalige Generale und Offiziere der Wehrmacht begann der Marsch auf die andere Seite im Kessel von Stalingrad. Sie spielten 1943 eine maßgebliche Rolle bei Gründung des Nationalkomitees Freies Deutschland in Krasnogorsk und des Bundes Deutscher Offiziere in Lunjowo. "Nationale Motive standen zweifelsohne bei allen Offizieren im Vordergrund" - folgert Niemetz. Ohne Zweifel? Im Blick auf die Anwerbung führender Männer aus dem NKFD und dem BDO durch den sowjetischen Geheimdienst ist die Frage "Patrioten oder Verräter" so eindeutig nicht zu beantworten. Die Kriegsgefangenenlager in Russland bildeten das Rekrutierungsreservoir, das den Sowjets frühzeitig die Auslese geeigneter Kader für die 1948 von ihnen eingeleitete Aufrüstung in ihrer Okkupationszone ermöglichte. Sie haben es zielbewusst genutzt, speziell zur Werbung von Kursanten der Zentralen Antifa-Schule Krasnogorsk und der Antifa-Schulen auf Gebiets- und Lagerebene für das künftige Militär. Manche Offiziere zogen die neue Uniform der kasernierten "Polizeiverbände" in der SBZ unmittelbar nach ihrer Heimkehr aus der Gefangenschaft an - und bereits im Herbst1949 kehrten einige der ersten Ehemaligen für ein Jahr wieder in die Sowjetunion zurück - zu militärischen Sonderlehrgängen für Regimentskommandeure mit der späteren Option einer Generalskarriere.
Niemetz unterscheidet als Entwicklungsphasen die frühe Zeit von 1948 bis 1952, in der ehemalige Wehrmachtsoffiziere den stärksten Einfluss auf die kasernierten Verbände hatten, In den Jahren 1952 bis 1956 traten ehemalige Generale und Offiziere deutlicher in Erscheinung. Ab 1956 konstatiert er den Aufstieg ehemaliger Unterführer und Mannschaftsdienstgrade der Wehrmacht in der NVA. In den Augen der Staatssicherheit waren die Ehemaligen "rückwärtsgewandte Nur-Fachleute", die besonders unter Kontrolle zu halten waren. "Vor allem den ehemaligen Wehrmachtsoffizieren wurde immer wieder vorgeworfen, sie hielten am ,alten Zopf' fest und sabotierten die Arbeit der ,Freunde' - aber auch des MfS." 1956 verzichtete die politische Führung der DDR auf jegliche Tarnung und spielte die nationale Karte. Sichtbarster Ausdruck war die Einführung des steingrauen Rocks in der NVA anstelle der ursprünglich blauen und später khakifarbenen Uniformen der KVP. Nachhaltige Wehrmachtseinflüsse sieht Niemetz auch in "Barras"-Allüren beim militärischen Drill in der KVP/NVA, der in den fünfziger Jahren die Desertionsrate in die Höhe trieb.
Das Buch schließt eine Lücke in der militärgeschichtlichen Forschung. Quellenmaterial sind Archivalien aus dem Bundesarchiv-Militärarchiv, vor allem solche aus der DDR-Militärbürokratie, ferner Stasi-Akten zu 335 ehemaligen Wehrmachtsoffizieren in der KVP/NVA, die vom MfS "politisch-operativ bearbeitet" wurden. Zudem konnte der Autor elf Interviews mit teils hochrangigen Zeitzeugen führen, die bei Ehemaligen aus den bewaffneten Organen der DDR noch immer Ausnahmen sind, weil sie sich "bürgerlichen" Historikern und Publizisten meist verweigern. Zeitweilig waren bis zu fünfhundert ehemalige Generale und Offiziere der Wehrmacht in der KVP/NVA existent. Erst ein Politbürobeschluss vom 15. Februar 1957 beendete die "Ära der Hitler-Offiziere" in der NVA. Binnen dreier Jahre war ihre Säuberung vollzogen. Nur wenige Militärspezialisten durften länger bleiben.
KARL WILHELM FRICKE
Daniel Niemetz: Das feldgraue Erbe. Die Wehrmachtseinflüsse im Militär der SBZ/DDR. Ch. Links Verlag, Berlin 2006. 345 S., 29,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Verdrängte Traditionen und verdrängtes Personal im DDR-Militär
War die Nationale Volksarmee der DDR eine Arbeiter-und-Bauern-Armee jenseits preußisch-deutscher Militärtraditionen? Eine schlüssige, differenzierende Antwort auf diese Frage gibt Daniel Niemetz mit seiner daten- und faktengespickten Untersuchung von Einflüssen der deutschen Wehrmacht auf das innere Gefüge des DDR-Militärs. Im Ergebnis seiner Forschungen weist er nach, dass das "feldgraue Erbe" in den Streitkräften des SED-Regimes stärker ausgeprägt war, als die seinerzeit Herrschenden das wahrhaben wollten. Die Erklärung, die er anbietet, ist plausibel: "Hunderte ehemaliger Offiziere und Tausende ehemaliger Unterführer und Mannschaftsdienstgrade der Wehrmacht bildeten seit 1948/49 das Grundgerüst des militärisch-personellen Aufwuchses in der SBZ/DDR. Von vornherein nahmen diese Kader nicht allein überproportional viele mittlere bis höchste Kommando- und Stabspositionen ein, sondern zeichneten als Ausbildungs- und Lehroffiziere auch maßgeblich für die Heranbildung künftiger Offiziersgenerationen verantwortlich." Die Waffen waren nicht nur in Arbeiterhand.
Für zahlreiche ehemalige Generale und Offiziere der Wehrmacht begann der Marsch auf die andere Seite im Kessel von Stalingrad. Sie spielten 1943 eine maßgebliche Rolle bei Gründung des Nationalkomitees Freies Deutschland in Krasnogorsk und des Bundes Deutscher Offiziere in Lunjowo. "Nationale Motive standen zweifelsohne bei allen Offizieren im Vordergrund" - folgert Niemetz. Ohne Zweifel? Im Blick auf die Anwerbung führender Männer aus dem NKFD und dem BDO durch den sowjetischen Geheimdienst ist die Frage "Patrioten oder Verräter" so eindeutig nicht zu beantworten. Die Kriegsgefangenenlager in Russland bildeten das Rekrutierungsreservoir, das den Sowjets frühzeitig die Auslese geeigneter Kader für die 1948 von ihnen eingeleitete Aufrüstung in ihrer Okkupationszone ermöglichte. Sie haben es zielbewusst genutzt, speziell zur Werbung von Kursanten der Zentralen Antifa-Schule Krasnogorsk und der Antifa-Schulen auf Gebiets- und Lagerebene für das künftige Militär. Manche Offiziere zogen die neue Uniform der kasernierten "Polizeiverbände" in der SBZ unmittelbar nach ihrer Heimkehr aus der Gefangenschaft an - und bereits im Herbst1949 kehrten einige der ersten Ehemaligen für ein Jahr wieder in die Sowjetunion zurück - zu militärischen Sonderlehrgängen für Regimentskommandeure mit der späteren Option einer Generalskarriere.
Niemetz unterscheidet als Entwicklungsphasen die frühe Zeit von 1948 bis 1952, in der ehemalige Wehrmachtsoffiziere den stärksten Einfluss auf die kasernierten Verbände hatten, In den Jahren 1952 bis 1956 traten ehemalige Generale und Offiziere deutlicher in Erscheinung. Ab 1956 konstatiert er den Aufstieg ehemaliger Unterführer und Mannschaftsdienstgrade der Wehrmacht in der NVA. In den Augen der Staatssicherheit waren die Ehemaligen "rückwärtsgewandte Nur-Fachleute", die besonders unter Kontrolle zu halten waren. "Vor allem den ehemaligen Wehrmachtsoffizieren wurde immer wieder vorgeworfen, sie hielten am ,alten Zopf' fest und sabotierten die Arbeit der ,Freunde' - aber auch des MfS." 1956 verzichtete die politische Führung der DDR auf jegliche Tarnung und spielte die nationale Karte. Sichtbarster Ausdruck war die Einführung des steingrauen Rocks in der NVA anstelle der ursprünglich blauen und später khakifarbenen Uniformen der KVP. Nachhaltige Wehrmachtseinflüsse sieht Niemetz auch in "Barras"-Allüren beim militärischen Drill in der KVP/NVA, der in den fünfziger Jahren die Desertionsrate in die Höhe trieb.
Das Buch schließt eine Lücke in der militärgeschichtlichen Forschung. Quellenmaterial sind Archivalien aus dem Bundesarchiv-Militärarchiv, vor allem solche aus der DDR-Militärbürokratie, ferner Stasi-Akten zu 335 ehemaligen Wehrmachtsoffizieren in der KVP/NVA, die vom MfS "politisch-operativ bearbeitet" wurden. Zudem konnte der Autor elf Interviews mit teils hochrangigen Zeitzeugen führen, die bei Ehemaligen aus den bewaffneten Organen der DDR noch immer Ausnahmen sind, weil sie sich "bürgerlichen" Historikern und Publizisten meist verweigern. Zeitweilig waren bis zu fünfhundert ehemalige Generale und Offiziere der Wehrmacht in der KVP/NVA existent. Erst ein Politbürobeschluss vom 15. Februar 1957 beendete die "Ära der Hitler-Offiziere" in der NVA. Binnen dreier Jahre war ihre Säuberung vollzogen. Nur wenige Militärspezialisten durften länger bleiben.
KARL WILHELM FRICKE
Daniel Niemetz: Das feldgraue Erbe. Die Wehrmachtseinflüsse im Militär der SBZ/DDR. Ch. Links Verlag, Berlin 2006. 345 S., 29,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Daniel Niemetz schliest mit seiner Studie nicht nur eine Forschungslücke, ihm ist es auch gelungen, elf Interviews mit ehemaligen NVA Offizieren führen, die noch in der Wehrmacht gedient hatten, berichtet Rezensent Karl Wilhelm Fricke. Er lobt das Buch als faktenreiche Darstellung, die eine "schlüssige" Antwort auf die Kernfrage gebe, wie viel Wehrmacht unter den grauen Röcken der NVA gesteckt habe. Und "differenzierend" sei das Buch insofern, als die Genese der NVA Schritt für Schritt nachgezeichnet werde. Begonnen habe es mit der planmäßigen Anwerbung von Wehrmachtsoffizieren durch die Sowjets schon während des Krieges. Ob die Motive der kriegsgefangenen deutschen Offiziere allerdings "zweifelsohne" national geprägt waren, hält der Rezensent für fraglich. Fakt sei jedenfalls, dass die Ausbildung der NVA anfangs fest in Wehrmachtshänden gelegen habe. In einer zweiten Phase von 1952 bis 1956 sei dann auch für Mannschaftsdienstgrade der Wehrmacht ein Aufstieg in der NVA möglich gewesen. Erst 1957, referiert der Rezensent, habe das Politbüro beschlossen, alle so genannten Hitler-Offiziere aus der NVA auszuschließen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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