Ist die Kugel, die durch diesen Roman fliegt, je abgefeuert worden? Und wenn ja, wird sie ihr Ziel erreichen, oder wird die Verlangsamungstaktik des Erzählers diesen Schuss aufhalten können? Dies ist die Geschichte einer Familie, die unter den Folgen eines Ereignisses leidet, für das es zwar viele Vorzeichen und Hinweise gab, das aber womöglich nie stattgefunden hat.Richard Obermayr hat einen Roman über das flüchtigste und zugleich unwiederrufbarste Element geschrieben: die Zeit. Tag für Tag geht sie durch uns hindurch und häuft sich als eine Vergangenheit auf, von der wir nicht wissen, was mit ihr geschieht. Ist es möglich, dass diese gelebte Zeit hinter uns weiterreift, ja dass jene Teile unserer Persönlichkeit, die wir zurücklassen mussten, um die zu werden, die wir heute sind, sich hinter unserem Rücken, hinterrücks, gegen uns verbünden? Was ist, wenn eines Tages die Vergangenheit uns nicht mehr braucht und ohne uns weiterlebt?Als Richard Obermayr vor über zehn Jahren seinen ersten Roman vorlegte, wirkte er ebenso verstörend wie begeisternd. Ein neuer Autor war auf den Plan getreten, dem man Außerordentliches zutraute. Zu Recht: Sein zweiter Roman löst das Versprechen, das der erste gab, auf glänzende Weise ein.
Auf dem Verschiebebahnhof der Zeit: Der Österreicher Richard Obermayr hat einen raffinierten und suggestiven Roman über einen Schuss geschrieben, der sich nicht lösen will und doch das Leben einer Familie für immer und ewig verändert.
Man könnte es sich mit diesem Roman leicht machen und sagen: Es handelt sich um sprachliches Sperrgut aus österreichischer Produktion. Wir haben eine Geschichte, die keine richtige ist. Das wenige, was an erzählerischer Dynamik aufgeboten wird, erschöpft sich alsbald in Wiederholungen. Kaum hat man den roten Faden eines Kausalzusammenhangs erwischt, geht er in Arabesken des Aberwitzes wieder verloren.
Solch wohlfeile Etikettierung würde allerdings das Besondere eines Buches verfehlen, das sich in höchstkonzentrierter und dennoch verschlungener Weise mit dem Phänomen Zeit befasst. Ein Ich-Erzähler blickt zurück auf das Familienleben seiner Kindheit auf dem Lande, auf ein Haus, in dem diese durch ein fatales Ereignis - einen Schuss - abgeschnittene Vergangenheit gleichsam konserviert erscheint. Worum es hier geht, ist durch Nacherzählung schwerer zu fassen als durch mancherlei Assoziation, die es auslöst. Zum Beispiel mit Harold Ramis' Filmkomödie "Und täglich grüßt das Murmeltier", in der Bill Murray als Fernsehmoderator in einer Zeitschleife gefangen ist, dazu verurteilt, ein und denselben Tag immer wieder neu zu durchleben. Durch "Das Fenster" fällt der Blick auch auf Hannelore Valencaks "Das Fenster zum Sommer" (1967), die Geschichte einer Frau, die eines Tages aufwacht und sich in ihrer eigenen Vergangenheit wiederfindet, ein halbes Jahr früher und doch weit zurückgeschoben "auf dem großen Verschubbahnhof der Nacht". Und da ist Tom McCarthys Roman "8œ Millionen" (2009), in dem der mit unverhofftem Reichtum gesegnete Held persönliche Erinnerungen zwecks Verlebendigung von einer Komparsen-Heerschar nachspielen lässt.
All diese Varianten der Zeitmodellierung kommen, nicht bloß als verwirrende Gedankenexperimente, sondern als unabweisbar einleuchtende Bilder, in Richard Obermayrs Roman vor - dazu noch der Dornröschenschlaf, der absolute Stillstand des von Zauberhand berührten Geschehens. Im Buch wird freilich ein anderes Märchen der Brüder Grimm zitiert, "Jorinde und Joringel": "Und wenn jemand auf hundert Schritte dem Schloß nahekam, so musste er stillstehen und konnte sich nicht von der Stelle bewegen, bis die Königin ihn lossprach."
Der Schauplatz der Geschichte ist Paris oder Attnang-Puchheim und Umgebung; die französische und die oberösterreichische Topographie (samt Thomas Bernhards Wolfsegg) werden überblendet. Die Familie, von der hier die Rede ist, besteht aus Vater, Mutter, Kind. Die Lethargie des Vaters scheint alle drei in zähe Watte zu packen, gleichwohl taucht er in verschiedenen Rollen auf, als Imker etwa oder als Jäger. Die Mutter ist Klavierlehrerin, sie hat ihren Platz im Haus und wirkt trotzdem deplaziert, manchmal ist sie nahe dran, ihr Herz auszuschütten. Sie schwärmt für die englische Liedsängerin Kathleen Ferrier, die als Postbeamtin Klavierstunden gab, ehe sie die Konzertpodien der Welt eroberte. Die häuslichen Szenen in "Das Fenster" wirken wie von Edward Hopper gemalt, scharf konturierte und voneinander abgegrenzte Figuren, zwischen ihnen eine unergründliche Traurigkeit. Es ist August, der Sommer hat bereits etwas Überständiges, der ominöse Schuss hat sich noch nicht gelöst, und doch scheint die Kugel schon ihr Ziel zu suchen.
Der Sohn, der Ich-Erzähler, hat einen Verlust zu beklagen, er ist aus seiner Lebensbahn geworfen. Hat er seine Vergangenheit verloren, die nun ohne ihn weiterexistiert, oder wurde er auf dem Abstellgleis vergessen, ist ihm seine Zukunft abhandengekommen? Unter den Bildern, die Richard Obermayr zu Illustration des Problems geradezu verschwenderisch einsetzt, dominieren der Stierkampf und das Pferderennen, etwa als Kindheitserinnerung: "Ich sah die Pferde auf der gegenüberliegenden Geraden, sie trommelten meinen Herzschlag auf die Bahn, als Sprecher in der Kabine kommentierte ich das Geschehen, als Publikum feuerte ich mich selbst an; und würde ich rasten, einmal, für eine Sekunde nur, die Zeit bliebe stehen, ließe es von einer Sekunde auf die andere sein, uns alle noch weiter auf ihrem Rücken zu tragen."
Das ist das eine: die Angst, im eigenen Leben nur den Zuschauer zu spielen, nichts zu erleben, sondern nur die Zeit vergehen zu lassen. Das andere ist ein sich aus vielen Einkleidungen immer konkreter herausschälendes Trauma: Nicht dem Hund der Familie galt der Schuss (obwohl auch der dran glauben muss). Die Mutter hat sich umgebracht. Der 17. November 1979 markiert das Ende des alten Lebens. Eine Erklärung kann der Sohn nicht finden, ihm dämmert etwas, er glaubt zu verstehen, "würde ein Pferd mit einem Mal es leid sein, gelenkig und elegant zu sein und ein einziges Mal nur vergessen wollen, wie es seine Beine bewegt, und seine Kräfte und Fähigkeiten loswerden, um sich davon auszuruhen". Über das Drama der begabten Mutter hinaus ahnt der Sohn, dass das Wesentliche in dieser unglückseligen Familie gefehlt hat: Zärtlichkeit und Liebe.
Es wäre falsch, hier von Verrätselung zu sprechen, weil der Erzähler selbst das Rätsel nicht lösen kann. Das Fenster in den Abgrund der Zeit ist offen, doch die Aussicht bleibt dunkel. Dabei legt der Erzähler seine Karten auf den Tisch, er liefert den Schlüssel zu den Bildern (die Pferde "waren nichts Geringeres als die Zeit selbst") und erklärt sein Prinzip der Geschichte in der Geschichte: "das ist ja wie mit diesen Matrjoschkapuppen . . ." Sogar den Setzer versorgt er mit der Anweisung, die "Beistriche in diesem Kapitel sollen wie winzige Stierhörner aussehen".
Der Verlag wirbt mit Raoul Schrotts Bemerkung, "Das Fenster" sei "ein wunderschönes Buch", er "lese es häppchenweise, damit es nicht so schnell fertig wird". In puncto Schönheit kann man Schrott nur beipflichten, die Gefahr des besinnungslosen Verschlingens ist hier allerdings nicht wirklich gegeben. Man kann dieses Buch nur häppchenweise genießen, oder man genießt es eben nicht. Denn dies ist ein im wahrsten Sinne unheimlich minutiöser Roman, er hat keine "retardierenden Momente", vielmehr besteht er aus einer einzigen retardierenden und regredierenden Erzählbewegung, die mitunter eine kurzlebige Beschleunigung erfährt.
Gewiss ist: So etwas liest man nicht alle Tage. Richard Obermayrs Buch ist ein Ereignis - suggestiv, langatmig, schaurig, traurig, tröstlich. Wie Kathleen Ferriers Paradestück, Gustav Mahlers Vertonung von Rückerts Lied: "Ich bin der Welt abhanden gekommen, / Mit der ich sonst viele Zeit verdorben, / Sie hat so lange nichts von mir vernommen, / Sie mag wohl glauben, ich sei gestorben!" Für Obermayr trifft das nicht mehr zu.
DANIELA STRIGL
Richard Obermayr: "Das Fenster". Roman. Jung und Jung Verlag, Salzburg 2010, 298 S., geb., 22,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Eine begeisterte Daniela Striegl preist Richard Obermayrs Roman "Das Fenster", den sie aber zunächst mit eher abschreckenden Attributen belegt. Sperrig, redundant und im Grunde gar keine "richtige Geschichte" sei dieses Buch, bei dessen Zusammenfassung sich die Rezensentin nicht eben leicht tut. Soviel wird klar, es handelt sich um eine tragische Familiengeschichte, an die sich ein verstörter Ich-Erzähler erinnert, dessen Mutter sich umgebracht hat. Es handele sich um einen Zeitroman, dessen Behandlung des Themas Zeit man am ehesten mit dem Hinweis auf Harold Ramis' "Und täglich grüßt das Murmeltier", Hannelore Valencaks "Das Fenster zum Sommer" und Tom McCarthys "8 1/2 Millionen" veranschaulichen könnte, meint die Rezensentin. Dunkel bleibt das Rätsel dieser unglücklichen Familie, obwohl dieser Roman geradezu "unheimlich minutiös" sei, so Striegl. Deshalb empfiehlt sie wohl auch, sich dieses Buch "häppchenweise" zu Gemüte zu führen, aber nichtsdestotrotz stellt der Roman für sie ein "Ereignis" dar, wie man es "nicht alle Tage liest".
© Perlentaucher Medien GmbH
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